Protokoll der Sitzung vom 30.04.2010

Der 8. Mai ist aber auch ein Tag der Erinnerung und des Gedenkens an das viele menschliche Leid der damaligen Zeit - Erinnerung an das Leid um die Toten, Erinne

rung an das Leid durch Verwundung und Verkrüppelung, Erinnerung an das Leid durch Flucht und Vertreibung, Hunger und Not, Vergewaltigung und Plünderung.

Meine Damen und Herren! Einen besonderen Aspekt möchte ich in diesem Zusammenhang hervorheben, den Richard von Weizsäcker so hervorragend beschrieben hat. Er ist mir wichtig, weil ich der Auffassung des Altbundespräsidenten folgen möchte.

„Den vielleicht größten Teil dessen, was den Menschen aufgeladen war, haben die Frauen der Völker getragen. Ihre Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft vergisst die Weltgeschichte nur allzu leicht. Sie haben gebangt und gearbeitet, menschliches Leben getragen und beschützt. Sie haben getrauert um gefallene Väter und Söhne, Männer, Brüder und Freunde. Sie haben in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt. Am Ende des Krieges haben sie als erste und ohne Aussicht auf eine gesicherte Zukunft Hand angelegt, um wieder Stein auf Stein aufeinanderzusetzen…“

Meine Damen und Herren! Dieser Aspekt ist mir deshalb wichtig, weil er tatsächlich bei allen Gedenktagen in Vergessenheit gerät. Dieser Stärke der Menschen, insbesondere der Frauen sollte hier auch gedacht werden.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Der 8. Mai war aber auch ein Tag der Gewissheit. Er war deshalb ein Tag der Gewissheit, weil man klar erkennen konnte, dass es ein Deutschland, aber auch ein Europa, wie man es bis dahin kannte, nicht mehr geben würde. Der 8. Mai war für ganz Europa ein Tag der Befreiung. - Ja. Aber nicht für jeden sollten die Ergebnisse des 8. Mai auch in Freiheit münden.

Für viele war dieser Tag zugleich der Beginn neuen Leidens. Das Kriegsende war Ende und Anfang zugleich. Ein Anfang, der sich in den Gebieten des unterlegenen Deutschlands und in unterschiedlichen Gegenden Europas unterschiedlich entwickeln sollte.

Auch wenn die vier Besatzungsmächte am Anfang vor allem eines waren, Befreier, waren sie aber auch Sieger und folglich auch Besatzer, die durch Reparationszahlungen berechtigterweise versuchten, die entstandenen Schäden in ihren Ländern auszugleichen.

Es sollte sich allerdings schnell zeigen, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Besatzungsmächten gab. Allein die damalige Sowjetunion ließ bis 1953 Gelder als Sachwerte in einem Gesamtwert von 16 Milliarden US-Dollar aus der besetzten Zone abfließen. Die Lasten, die die Menschen der sowjetischen Besatzungszone zu tragen hatten, lagen damit deutlich über den Belastungen aller anderen Besatzungszonen zusammen.

Anders die Erkenntnis in den anderen Besatzungszonen. Auch nicht von Anfang an - das ist so -, aber spätestens mit der Rede von Herrn Marshall, nach dem der Marshall-Plan genannt wurde, ist eine Änderung erkennbar. Ich zitiere:

„Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder irgendeine Doktrin, sondern gegen Hunger, Elend, Verzweiflung und Chaos. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft, damit die Entstehung politischer und sozialer Bedingungen ermöglicht wird, unter denen freie Institutionen existieren können.“

In den westlich besetzten Zonen kam man schnell in die Situation, Deutschland, aber auch Europa zu stabilisieren und die wirtschaftliche Entwicklung zu forcieren.

Im Wettstreit der Weltanschauungen kamen im Osten die Rechte der Menschen und die Freiheit langsam unter die Räder. In der sowjetischen Besatzungszone überschattete schweres Unrecht die Erfolge der Entnazifizierung. Hunderttausende wurden ohne rechtsstaatliche Verfahren in Lager gesperrt, Zehntausende starben darin. Es wurden bei Weitem nicht nur ehemalige Nationalsozialisten verfolgt, jede Opposition und alle politisch Missliebigen sollten unterdrückt werden.

Solche Unterdrückung erlitten nicht allein die Ostdeutschen, sondern alle Völker im sowjetischen Machtbereich. Im geteilten Europa genauso wie im geteilten Deutschland machten die Menschen von nun an völlig getrennte Erfahrungen. Nur in einem Teil Europas konnte ungehindert an den Aufbau freiheitlicher Gesellschaften herangegangen werden. Im anderen Teil mussten die Menschen erst um ihre Freiheit kämpfen, und das haben sie wieder und wieder getan, bis sie sie endlich errungen hatten.

Meine Damen und Herren! Zur Wahrheit des 8. Mai gehört nämlich auch die Erkenntnis, dass mit dem Überwinden der schrecklichen Naziherrschaft zwar eine Befreiung erfolgt ist, aber die Freiheit noch nicht gewonnen war. Die Entstehung eines anderen Unrechtstaates und die Diktatur einer Partei begannen. Die SED schaltete die Gesellschaft gleich, das Leben wurde uniformiert und bald militarisiert. Man schottete sich gegen den Westen ab.

Immer mehr Bauern, Handwerker, Unternehmer und Wissenschaftler verließen das Land, weil sie dort für sich keine Zukunft mehr sahen. Die Liste der Künstler und Intellektuellen, die die DDR verlassen wollten, wurde immer länger. Sie waren enttäuscht. Sie hatten gehofft, das bessere Deutschland in der DDR zu finden, sie wandten ihr den Rücken zu.

Ostdeutschland verlor dadurch immer mehr an Lebenskraft und die Bundesrepublik gewann an Kreativität. Das trug zur Blüte der Bundesrepublik bei; die DDR dagegen wusste sich nur durch Mauern und Stacheldraht zu helfen. Es hat ihr nichts genützt. Denn das Streben nach Freiheit blieb lebendig in der DDR und in den Völkern Mittel- und Osteuropas - vom Volksaufstand am 17. Juni 1953 bis zum ungarischen Freiheitskampf 1956, vom Prager Frühling 1968 bis zum Streik der Danziger Werftarbeiter zwölf Jahre später.

Meine Damen und Herren! Wenn wir heute auf die vergangenen 65 Jahre zurückblicken, empfinden wir Dankbarkeit gegenüber allen, die uns beim Aufbau der Bundesrepublik geholfen haben. Wir haben auch die Gewissheit, dass wir Deutschen den Weg zu unserer freien demokratischen Gesellschaft heute aus eigener Begabung zur Freiheit gegangen sind.

Wir werden die zwölf Jahre der Nazi-Diktatur und das Unglück, das Deutsche über die Welt gebracht haben, nicht vergessen. Im Gegenteil, wir fassen gerade aus dem Abstand von heute heraus viele Einzelheiten schärfer ins Auge und sehen viele Zusammenhänge des damaligen Unrechts besser.

Aber wir sehen unser Land in seiner ganzen Geschichte. Darum erkennen wir auch, an wie viel Gutes wir Deutsche anknüpfen konnten, um über die moralischen Rui

nen der Jahre 1933 bis 1945 hinauszukommen. Unsere ganze Geschichte bestimmt die Identität unseres Landes.

Ja, meine Damen und Herren, der 8. Mai ist ein Tag der Befreiung, aber er ist eben auch ein Tag des Gedenkens an Leid und Trauer und er ist vor allen Dingen ein Tag des Mahnens, wachsam zu bleiben und nie wieder ein Regime der Unfreiheit zuzulassen, egal in welchen Mantel es gewandet ist. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU)

Ich danke Herrn Wolpert. - Ich darf jetzt den Abgeordneten Herrn Miesterfeldt bitten, für die SPD das Wort zu nehmen. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere aus einem Tagebuch:

„Das Licht und mit ihm das Radio werden stündlich erwartet. Bisher vergeblich. Der Mühlenbesitzer hier hat eigenen Strom. Von ihm wurde gestern als bestimmte Radionachricht ausgegeben: Am gestrigen Tag, am 8. Mai, um 3 Uhr früh sei die absolute Kapitulation mit der Auslieferung aller U-Boote und Kleinst-U-Boote unterzeichnet worden, deutscherseits von Admiral Dönitz.

11. Mai. Ich fragte die Frau, ob sie etwas von Hitler und den anderen Großen der NSDAP gehört habe. Nein, danach zu fragen hatte sie gar keine Zeit gehabt. Anders ausgedrückt: Das interessiert sie nicht mehr. Das Dritte Reich ist so gut wie vergessen, jeder ist sein Feind gewesen und über die Zukunft macht man sich die unsinnigsten Vorstellungen.“

So schrieb es der deutsche Jude Victor Klemperer am 9. und 11. Mai 1945 in sein Tagebuch. Für ihn und seine Frau war der 8. Mai ganz sicher ein Tag der Befreiung.

Das Erleben dieses Tages war ein vielfältiges. Es gab Sieger und Verlierer, Gefangene und Befreite, Verwundete, Vergewaltigte, Evakuierte, Flüchtlinge, Vertriebene, Verängstigte, Rächer, Plünderer, Gerettete, und keiner wusste Antwort auf die Fragen: Wie wird es weitergehen? Was wird aus Deutschland? Was wird aus Europa? Was wird aus meinem eigenen Leben?

Das Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt war seit dem 24. April 1945 westlich der Elbe von den Amerikanern besetzt. Am 3. Mai 1945 kapitulierte bei Tangermünde die Armee Wenk, Hitlers letzte sinnlose Hoffnung. Im Osten Magdeburgs wurde bis zum 8. Mai 1945 gekämpft. Die Menschen, die darüber aus eigenem Erleben berichten können, sind zum größten Teil verstorben. Wir sollten uns ihrer erinnern.

Für meine Großmutter mütterlicherseits, Jahrgang 1884, stand an jenem Tag und in jenen Tagen die Frage: Wird der vermisste jüngste Sohn aus Russland doch noch nach Hause kommen? - Er tat es nicht.

Zu den eindrucksvollsten Erinnerungen meiner Kindheit gehören die Berichte meiner Mutter, Jahrgang 1911, über den Untergang ihres geliebten Dresden. Sie erlebte und überlebte ihn im Stadtzentrum. Es sind die Erzählungen eines Großcousins, Jahrgang 1892. Die Ameri

kaner setzten den verfolgten Sozialdemokraten 1945 als Oberbürgermeister von Crimmitschau ein.

Die Liste wäre leicht zu verlängern. Sie ist schon verkürzt für die Generation meiner Kinder; meinen Enkeln werden diese Menschen nicht mehr zur Verfügung stehen.

Ich hatte das Glück, mit Menschen reden zu können, die nicht nur über das Kriegsende, über den Tag der Befreiung, den Zusammenbruch, die Katastrophe mit mir sprachen, sondern auch über die Zeit davor. Es ging um Verführer und Verführte, um Widerstand und Hingabe, um Freunde und Verräter, um Angst und Begeisterung, um Wissen und Wegsehen, um Glauben und Irrtum.

Sie sagten, sie sprachen über den verlorenen Ersten Weltkrieg, die von vielen nicht verstandene Revolution, die unsicheren Zeiten der Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, die Straßenschlachten von Nazis und Kommunisten, die Hoffnung auf Führung.

Wie konnte aus dieser Hoffnung auf Führung eine der größten und grauenvollsten Verführungen der Menschheitsgeschichte werden? - Das ist die entscheidende Frage. Der Beantwortung dieser Frage müssen wir uns ständig stellen, auch wir, die Nachgeborenen. Das sind wir den Opfern schuldig; das sind wir aber auch den Generationen nach uns schuldig.

Lassen Sie mich zwei Antworten von Zeitzeugen zitieren. Der junge Sebastian Haffner, Jahrgang 1907, schrieb in den 30er-Jahren:

„Die Deutschen sind als Nation unzuverlässig, weich, kernlos. Der März 1933 hat es bewiesen. Im Augenblick der Herausforderung, wo bei Völkern von Rasse ein allgemeiner spontaner Aufschwung erfolgt, erfolgte in Deutschland wie auf Verabredung ein allgemeines Auslassen und Schlappmachen, ein Nachgeben und Kapitulieren - kurz und gut: ein Nervenzusammenbruch.“

Der Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt schrieb 1949:

„Das starke Nationalgefühl raubte den führenden evangelischen Kreisen etwa von 1928 an die klare Sicht für das, was eine nationalsozialistische Regierung kirchlich bedeuten würde. Der Nationalismus hatte blind gemacht.“

Meine Damen und Herren! Das sind zwei Antworten von vielen möglichen. Der verlorene Krieg, der friedlose Frieden von Versailles, das nostalgische Erinnern an das kaiserliche Deutschland, die Weltwirtschaftskrise mit einem Millionenheer von Arbeitslosen waren der Nährboden für die Barbarei des Nationalsozialismus. Die Demokratie hatte mehr Kritiker als Verteidiger. Dem bodenlosen Rassenhass Hitlers und vieler seiner Anhänger wurde nicht wirklich widerstanden. - Das muss sich einbrennen in unser historisches Gedächtnis.

Wir sind gut beraten, in Nazis nicht nur messerwetzende und zähnefletschende Bestien zu sehen. Sie kamen auch - vielleicht muss man das Wort „auch“ sogar weglassen - aus der Mitte der Gesellschaft. In Berlin-Wannsee versammelte sich am 20. Januar 1942 eben keine Horde wilder Barbaren, sondern deutsche Theologen, deutsche Juristen, deutsche Offiziere - Kinder aus besten Häusern.

Die Halberstädter Synagoge wurde nicht von einem wilden Mob abgefackelt, sondern mit der Unterschrift des

Oberbürgermeisters zum systematischen, aber das Umfeld schonenden Abriss freigegeben. In der Nervenklinik Bernburg wüteten keine SS-Horden, sondern Ärzte, Beamte und Krankenschwestern.

Die furchtbare Saat der Menschenverachtung darf unter uns nicht wieder keimen und aufgehen. Dort, wo sie bereits keimt, bei Extremisten aller Couleur, muss ihr der Staat auch mit dem Monopol der Macht begegnen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Die Großmütter und die Großväter müssen erzählen, wohin Gewalt immer führen wird: am Ende zur Selbstvernichtung. Die Fragen nach Krieg und Frieden heute müssen immer auf dem Boden der Erkenntnisse Europas in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts beantwortet werden. Das Wort Churchills „Wir waren arglos, aber nicht schuldlos“, darf auch bei heutigen Entscheidungen über Krieg und Frieden nicht vergessen werden.

In seiner für unser Vaterland und für Europa so wichtigen Rede am 8. Mai 1985 sagte Richard von Weizsäcker:

„Wir in der späteren Bundesrepublik Deutschland erhielten die kostbare Chance der Freiheit. Vielen Millionen Landsleuten bleibt sie bis heute versagt.“