Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sachsen-Anhalt ist seit zwei Jahren volljährig. Deshalb ist es gut und richtig, dass der Ministerpräsident diesen Anlass am heutigen Tage aufgreift und eine Regierungserklärung zu diesem Thema abgibt.
Sachsen-Anhalt hat einen schwierigen Weg hinter sich, aber es hat auch schon vieles auf diesem Weg erreichen können. Durch das Vertrauen in die eigene Leistungskraft und durch die Anpassung an soziologische Veränderungen bzw. strukturelle Entwicklungen haben wir eine gute Entwicklung hinter uns. Und wir können durchaus auch davon ausgehen, dass wir uns für die Zukunft einigermaßen sicher aufgestellt haben.
Wenn wir uns, meine Damen und Herren, hin und wieder Sorgen über teilweise langwierige Entscheidungen machen oder über die Frage, wie wir den Bürgerinnen und Bürgern wichtige und notwendige Weichenstellungen erklären können, so können wir heute, 20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit, doch glücklich und auch ein Stück weit stolz darauf sein, was in den letzten 20 Jahren gemeinsam errungen wurde.
Meine Damen und Herren! Wir können glücklich darüber sein, dass dieses Bundesland seine einmalige historische Kulturlandschaft mit den weit in das Mittelalter zurückreichenden Traditionen von Kirchen, Burgen und Schlössern sowie seine herausragenden historischen Persönlichkeiten der Kirchen- und Geistesgeschichte über die SED-Diktatur hinweggerettet hat. Diese Traditionen wurden in dieser Zeit zwar nicht verschwiegen, aber sie waren aus dem öffentlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden. Heute sind sie Markenzeichen eines modernen Bundeslandes. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung, meine Damen und Herren.
Ich denke, wir haben trotz aller Unkenrufe eine relativ gefestigte Demokratie; denn zurück zur alten DDR will niemand. Auch diejenigen, die schimpfen und maulen, wollen diesen Weg nicht gehen. Dieses Land hat leider auch schon einige unnötige Modellversuche hinter sich. Wir haben, so denke ich, für die Zukunft die Aufgabe, weniger Irrwege zu beschreiten und dieses Land zielgerichtet aufzubauen.
Das sind alles keine Selbstverständlichkeiten, meine Damen und Herren. Dies sage ich gerade vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung dieses Bundeslandes, die von verschiedenen Rednern bereits angesprochen worden ist. Die Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung nach dem Jahr 1945 war in Sachsen-Anhalt durchaus lebendig; sie wurde aber von der sich anbah
nenden Realität der SED-Diktatur sehr schnell und bedauerlicherweise auch nachhaltig überholt und für 40 Jahre außer Kraft gesetzt.
Herr Gallert hat darauf ebenfalls aufmerksam gemacht. Ich bin froh, dass er sich sehr deutlich zum Föderalismus in Deutschland bekannt hat. Aber dazu gehört auch, so denke ich: Die entscheidende Schlacht war damals die, dass sich der so genannte demokratische Zentralismus zum Föderalismus wie das Feuer zum Wasser verhielt; beide haben sich nicht vertragen. Deshalb musste eines von beidem abgeschafft werden, entweder der demokratische Zentralismus oder der Föderalismus. Aufgrund der damaligen Machtverhältnisse ist der Föderalismus auf der Strecke geblieben.
Deswegen müssen wir aufpassen: Auch wenn nicht jeder Ruf nach Zentralismus ein Ruf nach der Diktatur ist, so ist er implizit doch ein Zeichen für Demokratiemüdigkeit und beinhaltet die Frage, ob man nicht einfacher und schneller entscheiden könnte. Aber in der Regel würde das auf Kosten der Demokratie gehen.
Deshalb, so glaube ich, sind alle diejenigen, die in den Landesparlamenten sitzen, gut beraten, überall zu erklären, dass föderale Strukturen im täglichen Geschäft manchmal zwar etwas mühsamer, aber wahrscheinlich demokratiefester und auf Dauer wahrscheinlich auch effektiver sind. Dieses Ringen um die Ebenen wird uns so lange begegnen, wie es staatliche Gebilde gibt.
Im Jahr 1947, als eine Landesverfassung verabschiedet wurde, wurde auch dem Wunsch nach demokratischen Strukturen Ausdruck verliehen. Sachsen-Anhalt war neben Brandenburg das einzige Territorium in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone, im dem die SED trotz offensichtlicher Beeinflussung bei den ersten Wahlen nicht die absolute Mehrheit erringen konnte. Herr Miesterfeldt hat darauf bereits hingewiesen.
Jeder, der sich von seinen Eltern einmal erklären ließ, wie es damals in einigen Städten zuging, der weiß, dass manche Bürgermeister über Nacht verhaftet wurden und dass Leute, die sich zur Wahl haben aufstellen lassen, reihenweise verhaftet worden sind. Dass es der SED unter solchen Bedingungen nicht gelungen ist, die absolute Mehrheit zu erreichen, ist im historischen Rückblick nicht hoch genug zu bewerten, meine Damen und Herren.
Die Allparteienregierung unter dem Druck der Besatzungsmacht ist bereits gewürdigt worden. Es wurde auch gewürdigt, dass der erste Ministerpräsident wahrlich standhaft versucht hat, das Land aufzubauen. Wir erinnern uns durchaus an Herrn Hübener, aber auch er konnte das Blatt nicht wenden. Insofern blieb diese Zeit eine ehrenwerte Zeit, aber eben leider nur eine Episode im Land Sachsen-Anhalt. Erst nach 40 Jahren sozialistischer Diktatur konnten wir hieran wieder anknüpfen.
Ich möchte daran erinnern, dass die Wahlen zu der Zeit dieser Diktatur lediglich der Wahrung eines demokratischen Scheins dienten. So sind es die heutigen Wählerinnen und Wähler, die mit ihrer Stimme tatsächlich politische Entscheidungen maßgeblich beeinflussen können, auch wenn der eine oder andere sein Wahlrecht heute leider relativ gering achtet. Aber schimpfen nützt nichts. Unsere Aufgabe ist es, zu erklären, dass dieses hohe Gut ein sehr wertvolles Gut ist, für das sie auch auf die Straße gegangen sind. Deshalb müssen wir es so ausfüllen, dass es für die Menschen ansteckend wirkt.
Die Leute sollten auch ein Stück weit darüber nachdenken, dass man so etwas nicht leichtfertig beiseitelegen darf.
Meine Damen und Herren! Ich möchte auch daran erinnern, dass Menschen auch unter den Bedingungen der sozialistischen Diktatur versuchten, Freiräume zu suchen und zu erkunden, die vor Ort auch ausfüllbar gewesen sind. Dies war auch mein Motiv, als ich im Jahr 1976 in die damalige Ost-CDU eintrat und als ich in den Jahren von 1978 bis 1983 als Mitglied der damaligen Stadtbezirksversammlung Magdeburg-Südost ein kommunales Mandat annahm.
Ich machte mich auf den schon vielfach beschriebenen schwierigen Weg zwischen Anpassung und Verweigerung. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass wir uns heute, in den Jahren 2009 und 2010, gegenseitig dazu befragen, welche persönlichen Entscheidungen und welche Wege damals in die Irre geführt haben und wer vor Ort ehrlich versucht hat, die Freiräume auszufüllen, die, wenn auch bescheiden, durchaus vorhanden waren.
Wir dürfen diese Debatte nicht auf die Frage der Staatssicherheit verkürzen. Wir müssen daran erinnern, dass die SED die Hauptverantwortung trug. Aber wir müssen auch daran erinnern, dass sich sehr viele Menschen mit den Gegebenheiten mehr oder weniger abgefunden hatten, sich ins Private zurückgezogen haben, ihre Nische gesucht haben und schon gar nicht mehr nach den, wenn auch kleinen, vorhandenen Freiräumen gesucht haben.
(Minister Herr Bullerjahn: Die, die nicht in der Partei waren, müssen sich nicht entschuldigen, oder was?)
- Ich verstehe Ihren Einwurf nicht so richtig. - Ich will deutlich sagen, dass wir in den Betrieben durchaus nach den Freiräumen vor Ort gesucht haben, um mit den Möglichkeiten, die wir hatten, zu gestalten. Manche waren in Parteien. Ich war in einer so genannten Blockpartei; das können Sie im Abgeordnetenhandbuch nachlesen. Ich habe aber auch erlebt, lieber Kollege Bullerjahn, dass in meinem Betrieb manche Leute, die in keiner Partei waren, so viel vorauseilenden Gehorsam gehabt haben, wie es vielleicht auch nicht nötig gewesen ist.
Die Scheidelinien sind also relativ kompliziert, meine Damen und Herren. Deswegen möchte ich mit meinem Redebeitrag nur daran erinnern: Es ist gut und richtig, dass gerade wir als Parlamentarier uns nicht gegenseitig aus der Pflicht nehmen. Wir müssen uns schon öffentlich befragen lassen; das gehört dazu. Das tun wir und dazu habe ich auch in dieser Rede noch einmal aufgerufen. Wir werden das wahrscheinlich auch im Herbst auf verschiedenen Veranstaltungen noch einmal tun. Ich glaube, es gehört zu einer Regierungserklärung, wenn wir sie ehrlich führen wollen, auch wirklich dazu.
Ein Volk besteht nicht nur aus Helden. Wenn ein Volk nur aus Helden bestehen muss, dann stimmt etwas in der Gesellschaft nicht. Wir müssen davon ausgehen, dass ganz normale Menschen ihre ganz normalen Ängste haben, ihre Freiräume suchen; aber wir dürfen die
Leute auch nicht überanstrengen. Das müssen wir uns und all jenen, die Politik machen, immer wieder ehrlich sagen.
Umso wichtiger ist es, dass im Jahr 1989 die Diktatur, die wahrscheinlich von fast niemandem geliebt worden ist, friedlich gestürzt worden ist. Dass dies friedlich geschah, hat nach meiner Meinung auch Freiräume eröffnet, die uns wahrscheinlich verschlossen geblieben wären, wenn die Revolution nicht friedlich gewesen wäre. Dann hätten wir nämlich über Jahre und Jahrzehnte hinweg mit ganz anderen Auseinandersetzungen und mit einer ganz anderen Erinnerungsarbeit zu tun gehabt, meine Damen und Herren.
Es ist schon darüber gesprochen worden, in welchen Zeitabschnitten wir uns entwickeln konnten und entwickelt haben. Der berühmt-berüchtigte Oskar Lafontaine ist zitiert worden. Ich fand es übrigens gut, richtig und ein Stück weit auch mutig - ich sehe es auch als eine Art eigene Erinnerungsarbeit an -, dass Herr Miesterfeldt dies getan hat. Das gehört gewiss auch zu der schwierigen und qualvollen Parteigeschichte der SPD. Wir haben bei uns auch schwierige Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen und zur Not auch vorhalten müssen.
- Ja, das ist so, meine Damen und Herren. Die Legenden kommen von ganz allein; wir müssen versuchen, uns ehrlich zu erinnern.
Ich will an dieser Stelle auch sagen: Wahrscheinlich haben sich die meisten von uns im Jahr 1900 auch darüber getäuscht, wie lange wir brauchen werden, um die Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern an die in den alten Bundesländern zu erreichen.
Heute haben wir den Solidarpakt II, der bis 2019 gilt. Das Jahr 2019 schimmert bereits am Horizont hervor. Ich glaube, wir hätten uns gegenseitig alle des größtmöglichen Pessimismus bezichtigt, wenn wir im Jahr 1990 darüber gesprochen hätten, dass wir einen Solidarpakt bis zum Jahr 2019 brauchen, weil diese Aufgabe in einem kürzeren Zeitraum nicht zu schaffen ist.
Wir haben uns darin getäuscht. Vielleicht haben wir uns auch glücklicherweise getäuscht; denn wir wären sonst möglicherweise auch ein Stück weit entmutigt gewesen, wenn wir den Leuten damals hätten sagen müssen: Leute, jetzt haben wir das Jahr 1990, vielleicht ist im Jahr 2020 das Gröbste erledigt. In der Geschichte ist es manchmal ein Glück, dass man die Größe der Aufgabe im Moment der Aufgabenbewältigung nicht sofort erkennt.
Ganz wichtig ist, so glaube ich, die prägende Erfahrung für alle Menschen in diesem Land, dass die soziale Marktwirtschaft das Netz gewesen ist, das letztlich alle aufgefangen hat.
Auch wenn wir auf dem Weg längst nicht alle mitnehmen konnten und auch wenn so mancher, der im Jahr 1990 mit Anfang 50 seine Arbeit verloren hat und nie wieder Tritt gefasst hat, mit sich selbst hadert und sagt, das Schicksal habe es mit ihm persönlich nicht gut gemeint, so wird doch jeder rein materiell anerkennen, dass er besser lebt als zum Ende der untergegangenen DDR. Ich denke, das muss ganz deutlich gesagt werden.
Wenn man sich allein das Gebiet der Gesundheitsversorgung anschaut, dann sieht man, was heute jedem selbstverständlich an medizinischen Leistungen gewährt wird, auch wenn er sich mit seiner Kasse und mit seinem Arzt kabbeln muss, welche Leistung ihm gewährt und welche nicht gewährt wird. Das sind Leistungen, die zum allergrößten Teil zum Ausgang der untergehenden DDR überhaupt nicht verfügbar waren. Wir klagen also auf einem Niveau, das zum Glück viel, viel höher ist als das, das wir früher zu bewältigen hatten. Ich glaube, das muss ab und zu wirklich sehr deutlich gesagt werden.
Ich will aber auch daran erinnern, dass die deutsche Einheit und damit auch die Entwicklung des Landes Sachsen-Anhalt in die Entwicklung der Europäischen Union eingebunden ist. Das ist schon vielfach angesprochen worden; ich komme darauf noch einmal zurück. Ich möchte auch ein anderes Wort hinzufügen: die Nato. Ich halte die Nato jetzt und in Zukunft für unverzichtbar.
Denn mit dem Zusammenbruch auch der anderen sozialistischen Staaten, insbesondere der Sowjetunion, ist die Welt - das muss man sagen - nicht automatisch friedlicher und sicherer geworden. Wer meint, dass wir in Zukunft kein Verteidigungsbündnis mehr brauchten, den hielte ich angesichts der vielen Feuer, die überall in der Welt lodern, für sehr fahrlässig und für sehr leichtsinnig.
Ich kann nur dafür plädieren, dass wir andere Strategien entwickeln - das tut die Bundesregierung. Aber die Vorstellung, wir würden in den nächsten Jahren oder in wenigen Jahrzehnten in der Lage sein, ohne ein starkes Verteidigungsbündnis auszukommen, ist eine Vision, die ich persönlich nicht habe; und diese möchte ich auch nicht leichtfertig anderen Menschen nahebringen.
Wenn es noch einer authentischen Erinnerung bedarf, wie es in der untergegangenen DDR war, dann verweise ich auf den vielfach zitierten Schürer-Bericht, der einfach die Schlussfolgerung zog: Leistung und Verbrauch müssen wieder in Übereinstimmung gebracht werden; und wenn das nicht gelingt, muss das Lebensniveau um ca. 30 % abgesenkt werden. Spätestens dann ist jedem klar: Wenn das hätte umgesetzt werden müssen, wäre das der endgültige Kollaps geworden; denn unter den Bedingungen, die wir damals hatten, wäre das überhaupt nicht umzusetzen gewesen.
Richtig ist, dass wir in eine Leistungsgesellschaft hineingegangen sind und dass wir eine Leistungsgesellschaft wollen, die es schafft, die notwendigen materiellen Güter zur Verfügung zu stellen.
Die Europapolitik ist zu Recht angesprochen worden. Auch ich möchte sie ganz kurz erwähnen; denn wir haben zum Beispiel in unserer Landesverfassung am 16. Juli 1992 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Land Teil der europäischen Völkergemeinschaft ist und dass es das Ziel aller staatlichen Tätigkeit des Landes Sachsen-Anhalt ist, zu einem lebendigen Glied der Gemeinschaft der Völker zu werden.
Wir merken jetzt, dass dieser abstrakte Satz mehr und mehr ausgefüllt wird, weil die Aufgaben, die wir zu erledigen haben, in immer engerer Verzahnung und Kopplung mit Europa stehen. Und weil die Welt derart komplex und vielgestaltig ist, können wir auch wirklich nicht erwarten, dass wir wieder in eine Situation kommen, in der wir in der Lage wären, viele Bereiche ohne die Europäische Union zu ordnen.