Protokoll der Sitzung vom 18.06.2010

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/2646

Einbringer ist Herr Dr. Eckert, DIE LINKE. Sie haben das Wort, bitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte unseren Antrag einbringen. Seit März 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Sie ist wesentlicher Ausgangspunkt für unseren Antrag, vor allem der Artikel 24. Darin heißt es in Absatz 1 - ich zitiere -:

„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel, a) die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken...“

Dann geht es weiter mit b und c. In Absatz 2 heißt es - weiteres Zitat -:

„Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass... c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden, d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern...“

Ich habe die Teile dieses Artikels relativ ausführlich zitiert, um den Handlungsauftrag für uns, der sich aus der UN-Konvention ableitet, deutlich zu machen. Auch wenn sowohl die Bundesregierung als auch teilweise unsere Landesregierung der Meinung sind, dass die Situation bei uns schon völlig in Ordnung sei, gehen wir von dem Bestehen diskriminierender Bedingungen aus. Das wird auch durch das Gutachten „Völkerrechtliche Fragen des inklusiven Unterrichts in Deutschland im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Darin wird zur Situation in Deutschland festgestellt - Zitat, Seite 18 -:

„Zunächst stellt eine Sonderung in Förderschulen und das Vorenthalten des inklusiven Unterrichts immer eine Diskriminierung aufgrund einer Behinderung dar.“

Weiter heißt es:

„Weiterhin ist die bereits herausgearbeitete grundlegende Wertentscheidung des Artikels 24 Abs. 1 Satz 2 zu beachten, nach der ein nichtinklusives Schulsystem grundsätzlich eine Diskriminierung im Sinne der Konvention darstellt.“

Klar ist zugleich, dass nach über 100 Jahren Sonderschulsystemen in Deutschland ein rascher Umbau mit

erheblichen Risiken verbunden ist. Die Bedingungen für einen gemeinsamen Unterricht, für eine inklusive Schule können nur schrittweise geschaffen werden. Das betrifft die baulichen, die personellen und auch die Einstellungsfragen sowohl bei den Kollegien als auch bei den Eltern und selbstverständlich auch im gesellschaftlichen Umfeld.

Unser Antrag ist in diesen Kontext einzuordnen. Aufgrund der Initiativen von Eltern oder auch von Behindertenorganisationen streben seit mehreren Jahren Kinder mit Behinderungen danach, im Rahmen des gemeinsamen Unterrichts in so genannten Regelschulen zu lernen. Dafür sind nicht nur barrierefreie Räume erforderlich, sondern auch personelle, sehr individuell abgestimmte Hilfen.

Da kommen Integrationshelfer bzw. Schulbegleiter ins Spiel. Sie unterstützen, sie helfen, sie assistieren bei der Bewältigung des Schulalltags, beim Lernen, beim gemeinsamen Unterricht behinderter und nicht behinderter Kinder. Wie sie arbeiten, in welchem Umfeld sie arbeiten und in welchem Anstellungsverhältnis und unter welchen Bedingungen diese Leistungen erbracht werden, ist in Sachsen-Anhalt höchst unterschiedlich.

Die Kosten hat in der Regel der Sozialhilfeträger zu tragen, denn es handelt sich um Eingliederungshilfe zur Teilhabe an Bildung. Es gibt einige Träger der Behindertenhilfe, die solche Assistenzleistungen organisieren. Einige davon finanzieren den Einsatz nach dem Sachleistungsprinzip und verhandeln mit dem Kostenträger die Stundensätze. Andere gehen über das persönliche Budget als Assistenzleistung, meist zu einem Minipreis. Manche Familien regeln das auch mit Freunden und Bekannten.

Allen Varianten ist gemeinsam, dass keine dauerhafte Einstellung von Hilfs- oder gar Fachkräften möglich ist, weil die Kostenerstattung auf die konkreten Unterrichtsstunden des behinderten Kindes begrenzt wird und die Ferien- und Krankheitszeiten nicht entgolten werden. Die Stundenkalkulation ist so eng bemessen, dass für den Integrationshelfer eine Urlaubsgewährung problematisch ist.

Damit verbunden ist ein ständiger Wechsel der Bezugsperson für die betreffenden Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen. Sie stimmen mir sicherlich darin zu, dass das keine günstige Lernsituation für diese Kinder ist.

Hinzu kommt, dass sehr häufig das Antragsverfahren für die Eingliederungshilfe mit einem sehr hohen bürokratischen Aufwand verbunden ist und relativ lange dauert. Das heißt dann aber auch, dass die Vereine bzw. die Träger in Vorleistung gehen müssen. Ich denke, auch das ist nicht besonders günstig und förderlich. Es ist vor allem nicht förderlich für die Entwicklung des gemeinsamen Unterrichts.

Meine Damen und Herren! Notwendig ist die Analyse der gegenwärtigen Situation, das Zusammentragen und die Kenntnisnahme der doch sehr vielfältigen Erfahrungen in diesem Bereich. Die Erstellung dieser Analyse ist Inhalt des ersten Punktes unseres Antrages.

Zu Punkt 2 unseres Antrages. Ich möchte zunächst daran erinnern, dass beinahe alle, ich würde sagen, alle Artikel der UN-Konvention mit dem Satz beginnen: „Die Staaten ergreifen Maßnahmen für …“ Also, sie ergreifen Maßnahmen. Wenn wir also schrittweise Bedingungen

für eine inklusive Schule schaffen wollen, wobei es, so meine ich, nach der Ratifizierung der Konvention durch den Deutschen Bundestag nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie gehen kann, sind Veränderungen im Einzelnen wie auch im Gesamtsystem notwendig.

Wir fordern die Landesregierung, konkret das Kultusministerium zusammen mit dem Sozialministerium auf, ihre Vorstellungen für einen verbesserten und umfassenden Einsatz von Integrationshelfern und Schulbegleitern in den entsprechenden Ausschüssen darzustellen. Wir gehen davon aus, dass bei dieser Darstellung ihrer Vorstellungen unter anderem Fragen nach Standards und einheitlichen Richtlinien für die Gestaltung der arbeitsrechtlichen Bedingungen beantwortet werden, dass Fragen nach Qualifizierungs- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie verbindliche Empfehlungen für eine einheitliche Verwaltungspraxis in den Sozial- und Jugendämtern beantwortet werden.

Mit unserem dritten Punkt greifen wir ein weiteres Problem auf: mangelnde Beratung, und zwar sowohl der Eltern als auch der Schule im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Unterricht und den Möglichkeiten von Assistenzleistungen und Integrationshilfen. Wir sehen diesbezüglich künftig wachsenden Informations- und Beratungsbedarf. Dieser besteht eben gerade deshalb, weil wir eine hundertjährige Aussonderungstradition haben, die wir überwinden wollen.

Gegenwärtig wird über die Neuordnung der Beratungsstellenlandschaft nachgedacht. Wir meinen, dass die Gelegenheit genutzt werden sollte, um zu prüfen, inwieweit in diesem Prozess der Neugestaltung der Beratungsstellenlandschaft dieser neue Beratungsbedarf bei Unterstützungsleistungen für einen inklusiven Unterricht Beachtung finden könnte. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Dr. Eckert. - Wir kommen zum Beitrag der Landesregierung. Minister Herr Bischoff spricht in Vertretung der Kultusministerin. Herr Bischoff, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nicht noch einmal ausführlich Stellung dazu nehmen, was Integration und Inklusion bedeuten und wie wichtig das ist, und ich möchte auch nicht auf die UN-Konvention eingehen.

(Herr Kley, FDP: Wir haben Zeit!)

- Das mache ich mit Herrn Kley dann einmal ausführlich und lange beim Kaffeetrinken.

(Frau Dr. Hüskens, FDP: O ja! - Herr Tullner, CDU: Und erläutern das dann auch!)

- Dann erläuterte ich das auch.

Es ist klar, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu gewährleisten und so viel Normalität wie möglich zu erlangen ist. Das ist eine Zielstellung, die wir natürlich verfolgen.

Ich habe mir erzählen lassen, dass wir im Jahr 2000 201 Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, mit

sonderpädagogischem Förderbedarf hatten, die am regulären Unterricht teilnahmen, und in diesem Schuljahr sind es 1 445. Das ist kein riesengroßer Anstieg, aber zumindest gab es in den letzten zehn Jahren keinen Stillstand.

(Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

Die Frage ist, wie man eine normale Schullaufbahn im Rahmen einer inklusiven Beschulung ermöglichen und gestalten kann. Dabei geht es jetzt darum, wie das Leistungspotenzial erweitert wird. Das Land als überörtlicher Träger der Sozialhilfe stellt den Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen Integrationshelferinnen und Integrationshelfer zur Seite.

Jetzt habe ich gehört, dass der Antrag wohl an den Bildungsausschuss und an den Sozialausschuss überwiesen werden soll. Ich finde es richtig, dass wir uns darüber verständigen, welche Funktion diese Integrationshelferinnen und Integrationshelfer bzw. - wie heißt es? - diese Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter eigentlich ausüben sollen und welche Qualifikation sie haben sollen.

Nach Meinung der Landesregierung und des Sozialministeriums ist es wichtig, dass diese Eingliederungsleistung dazu dient, diesen Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen, und zwar in Bezug auf Orientierung, Mobilität, persönliche Hygiene, also sozusagen in Bezug auf die Voraussetzungen, damit man in der Schule lernen kann. Sie sollen jedenfalls nicht - in Anführungsstrichen - Hilfslehrerinnen und Hilfslehrer sein. Sie sollen auch nicht Nachhilfeunterricht geben. Sie haben auch keinen pädagogischen Auftrag. Das sollen vielmehr die engagierten Lehrerinnen und Lehrer bewerkstelligen.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Deshalb glauben wir, dass kein besonderes fachliches Profil vonnöten ist. Viel wichtiger ist es, dass sich ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden Beteiligten entwickelt. Wichtig ist die Persönlichkeit der Integrationshelferinnen und Integrationshelfer, welche charakterlichen Eigenschaften sie haben, ob sich ein Zusammenspiel entwickelt. Dies bedarf nach unserer Auffassung keiner spezifischen Regularien. Diese könnten sogar kontraproduktiv sein, weil dann wieder bürokratische Hürden aufgebaut würden: Welche Qualifizierung muss vorhanden sein? Welche Qualifizierungsangebote müssen unterbreitet werden? Man könnte es auch nicht flexibel genug anbieten.

Von den genannten 1 445 Schülerinnen und Schülern, die integrativ beschult werden, benötigen 50 eine Integrationshelferin oder einen Integrationshelfer. Die Mehrzahl dieser integrativ beschulten Kinder benötigt keine dritte Person, die hinzugezogen werden muss, um in der Schule zurechtzukommen. - Ich will das einmal so stehen lassen.

Man kann sich darüber streiten, woran es liegt, dass es so wenige Schülerinnen und Schüler sind - weil die Beantragungssituation vielleicht so ist, dass es noch zwischen dem örtlichen und dem überörtlichen Träger, der Sozialagentur, ausgehandelt werden muss. Aber zumindest kann man sagen, dass es für den größeren Teil nicht erforderlich ist.

Ich finde es wichtig, weil der Antrag in Punkt 2 deutlich macht, dass es um Qualifizierung und Ähnliches geht, dass die Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker im

Bildungsausschuss Überlegungen darüber anstellen, welche Qualifizierung die Integrationshelferinnen und Integrationshelfer brauchen oder ob es ausreichend ist, wie ich es verstehe und auch mit der Kultusministerin abgestimmt habe, dass ein Vertrauensverhältnis besteht, dass man sich in dieser Lebenssituation Menschen anvertrauen kann, die ein offenes Ohr und ein offenes Herz haben.

Darüber sollte man sich auch im Sozialausschuss verständigen. Dann können wir auch zu den anderen Fragen Rede und Antwort stehen, sodass es sich eventuell erübrigte, es noch einmal im Landtag zu behandeln. Aber darin sind die Antragsteller und die Ausschüsse ja frei. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der SPD)

Herzlichen Dank, Herr Minister. - Wir kommen zu den Debattenbeiträgen der Fraktionen. Für die SPD-Fraktion hat Frau Dr. Späthe das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf zuerst feststellen, dass ich hier für die Koalition spreche, also auch mit für den Vertreter der CDU-Fraktion.

(Zustimmung von Herrn Kurze, CDU - Herr Kley, FDP: Oh! - Frau Dr. Hüskens, FDP: Ist der schon weg? - Unruhe)

Ich möchte erstens feststellen, dass die UN-Konvention - das steht außer Frage - in der Bundesrepublik geltendes Recht ist, und zweitens, dass die Anwendung der UN-Konvention im Bildungsbereich entsprechend § 24, nämlich gemeinsamer Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern, bundesweit weiter als in Sachsen-Anhalt entwickelt ist. Das ist nun einmal so. Wenn wir das ändern wollen, dann müssen wir uns mit diesem Problem beschäftigen.

Eine Form der Förderung des integrativen Unterrichts ist der Einsatz der so genannten Integrations- oder Schulhelfer. Ich möchte es noch einmal betonen, was der Minister schon ausgeführt hat: Es sind Helfer, die während des Unterrichts Handreichungen wie Seitenumblättern oder Stiftezureichen vornehmen oder eventuell pflegerische Hilfeleistungen anbieten. Es sind keineswegs Zweitlehrer oder Heilpädagogen.