Protokoll der Sitzung vom 09.09.2010

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 79. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode. Ich bitte um Aufmerksamkeit.

Ich möchte die Damen und Herren Abgeordneten und die Gäste recht herzlich begrüßen. Ich hoffe, Sie hatten alle einen schönen Sommer und haben genug Kraft getankt für die Periode, die vor uns liegt. Diese wollen wir dann gemeinsam angehen.

Meine Damen und Herren! Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Ich komme zu den Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung. Für die 42. Sitzungsperiode liegen mir folgende Entschuldigungen vor:

Herr Minister Dr. Aeikens hat sich für die Sitzung am Freitag ganztägig entschuldigt. Er nimmt an einem feierlichen Gelöbnis seines Sohnes teil.

Herr Minister Dr. Daehre entschuldigt sich ebenfalls für den morgigen Tag für die Zeit vom 10.30 Uhr bis 13 Uhr. Er hält ein Grußwort anlässlich des Jubiläums eines Unternehmens.

Herr Minister Bullerjahn hat sich für die heutige Sitzung für den Vormittag aufgrund der Teilnahme an der Beisetzung des verstorbenen Ehegatten unserer Kollegin Frau Dr. Kuppe entschuldigt. Er nimmt an dieser Trauerfeier teil.

Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer entschuldigt sich für den Freitag ab 17 Uhr wegen des Festspiels der deutschen Sprache im Goethetheater in Bad Lauchstädt. - Das sind die Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung.

Meine Damen und Herren! Ich leite zur Tagesordnung über. Die Tagesordnung für die 42. Sitzungsperiode liegt Ihnen vor. Gibt es noch Wünsche, etwas zu verändern? - Herr Gürth.

Herr Präsident, ich zeige an, dass es eine Verständigung unter den Fraktionen gab, den Tagesordnung 30 - Konzept zur Neuausrichtung von Aussteigerprogrammen - am heutigen Donnerstag als letzten Tagesordnungspunkt zu behandeln. Das hängt mit der Anwesenheit der Redner zusammen.

Wenn sich alle Fraktionen darauf verständigt haben, sehe ich keinen Grund, dass wir das nicht so machen.

Meine Damen und Herren! Gibt es weitere Fragen? - Das sehe ich nicht. Wenn Sie der Tagesordnung zustimmen wollen, meine Damen und Herren, dann bitte ich um Ihr Kartenzeichen. - Zustimmung bei allen Fraktionen. Damit ist die Tagesordnung so bestätigt worden und wir können die Sitzungsperiode so organisieren.

Zum zeitlichen Ablauf: Wir werden die Sitzung gegen 19.30 Uhr beenden. Für 20 Uhr sind wir von der Landeshauptstadt Magdeburg zu einer parlamentarischen Begegnung in das Rathaus eingeladen worden. Ich hoffe, dass die Mitglieder des Landtags dort zahlreich erscheinen werden.

Meine Damen und Herren! Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Debatte

Armutsrisiken in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/2820

Im Ältestenrat ist eine Debatte mit einer Redezeit von zehn Minuten je Fraktion vereinbart worden. Die Landesregierung erhält ebenfalls zehn Minuten Redezeit. Die Reihenfolge der Redebeiträge lautet: DIE LINKE, CDU, FDP und SPD.

Zunächst erhält der Antragsteller das Wort. Für die Fraktion DIE LINKE wird Herr Gallert sprechen. Bevor er das Wort nimmt, möchte ich Gäste der Landeszentrale für politische Bildung auf der Tribüne begrüßen. Herzlich willkommen zu unserer heutigen Sitzung!

(Beifall im ganzen Hause)

Nun bitte ich den Abgeordneten Herrn Gallert, das Wort zu nehmen. Bitte.

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Aktuelle Debatte zu den Armutsrisiken in Sachsen-Anhalt ist notwendig geworden, weil eine Reihe von Vergleichskennziffern der sozialen und ökonomischen Situation des Landes Sachsen-Anhalt in den letzten Wochen dazu angetan ist, uns insgesamt und insbesondere die Koalition auf den Boden der Realität zurückzuholen.

Eine der entscheidenden Fragen für die Politik ist die, ob sie überhaupt noch in der Lage ist, die Realitäten in einem Land wahrzunehmen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. In letzter Zeit - das sage ich ganz ehrlich - sind uns daran berechtigte Zweifel gekommen, vor allen Dingen wenn man sich die permanenten Erfolgsmeldungen aus dem Wirtschaftsministerium unseres Landes anhört bzw. wenn man sich das eine oder andere Positionspapier der CDU anschaut.

Man meint, dass Sachsen-Anhalt vom Image der grauen Maus mit der roten Laterne befreit sei, dass es zum dynamischsten Bundesland Deutschlands gemacht worden sei, ja sogar zum Aufsteigerland im Herzen Europas, dass es der interessanteste Wirtschaftsstandort in den neuen Bundesländern sei und dass nun endlich die Zeit vorbei sei, in der Sachsen-Anhalt schwach und hilfsbedürftig erschienen sei. Kurz: Man ist drei Schnitte vor der Einführung des Paradieses - natürlich dank der CDU.

Nun kann jede Partei und jede Fraktion für sich ihren Maßstab für eine solche Bestandsanalyse in SachsenAnhalt bestimmen. Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wir richten uns dabei nicht nach fantasievollen Dynamikrankings und Insidertipps. Wir gucken uns die reale Lebenssituation der Menschen in diesem Land an.

(Frau Brakebusch, CDU: Ach!)

Auch die wirtschaftliche Entwicklung ist kein Selbstzweck. Im Endeffekt entscheiden die Dinge darüber, was bei den Menschen im Land ankommt, wie sie in der Lage sind, ihre Lebenswege zu gestalten, ob sie in der Lage sind, Ressourcen zu mobilisieren, um ihre Persönlichkeiten zu entfalten.

Dazu sage ich mit aller Deutlichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die harten Fakten sprechen eine völlig andere Sprache, was die Situation in diesem Land Sachsen-Anhalt angeht, als die genannten Erfolgsmeldungen vermuten lassen.

Eine der wichtigsten Kennziffern ist der Anteil der Menschen, deren materielle Existenzgrundlage so stark beschnitten ist, dass sie eben nicht wirklich an der Gesellschaft teilhaben können. Sozialwissenschaftler haben dafür seit langem eine Grenze definiert. Die liegt in etwa bei 60 % des Durchschnittseinkommens.

Ich sage an dieser Stelle gleich: Klar, wenn das Durchschnittseinkommen steigt, dann steigt auch die 60%Grenze. Aber wenn das Durchschnittseinkommen steigt, dann steigen auch die Preise und die Vielfalt der Teilhabemöglichkeiten. Von denen ist man dann mit einem Einkommen von weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens wieder ausgeschlossen, selbst dann, wenn man mit diesen 60 % woanders noch ganz gut leben kann.

(Herr Scharf, CDU: Eine vollkommen willkürliche Zahl ist das, Herr Kollege Gallert!)

Insofern ist diese Debatte völlig überflüssig.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

- Ich könnte noch darauf eingehen, Herr Scharf. Dann können Sie mir auch noch eine Frage stellen. Ich lasse es jetzt erst einmal.

Die jüngsten Zahlen besagen, dass Sachsen-Anhalt nach Mecklenburg-Vorpommern das Land mit dem zweitgrößten Anteil der Bevölkerung ist, der über geringere Einkünfte als 60 % des Bundesdurchschnitts verfügt und damit vom Armutsrisiko betroffen ist, nämlich 21,8 %. In der Reihenfolge hat sich seit dem Jahr 2005 nichts geändert, wohl aber im Verhältnis zu den ostdeutschen Bundesländern insgesamt. Während der Anteil in Sachsen-Anhalt im Jahr 2005 noch bei 2 Prozentpunkten über dem ostdeutschen Durchschnitt lag, sind es inzwischen 2,3 Prozentpunkte.

Die Entwicklung in den vier Jahren, die wir jetzt hinter uns haben, bedeutet also, dass sich die Zahl der Menschen mit Armutsrisiko in Sachsen-Anhalt deutlich schlechter als in anderen Ländern entwickelt hat. Es gibt nur ein Land, in dem es noch schlechter ist: Sachsen. Dort ist die Zahl der Menschen mit Armutsrisiko gestiegen. Alle anderen ostdeutschen Flächenländer waren in der Lage, den Anteil der Menschen mit Armutsrisiko deutlicher zu senken, als es hier passiert ist.

Wie kann es aber nun sein, dass ein Land, das nach Aussagen des Wirtschaftsministers das ostdeutsche Flächenland mit der höchsten Arbeitsproduktivität ist, ausgerechnet das Land ist, in dem die Armutsrisiken am stärksten steigen, ja - das wissen wir auch seit kurzem - das Land ist, das in der Bundesrepublik Deutschland das Billiglohnland Nr. 1 ist? Wie kann es dazu kommen?

Wir brauchen eine Analyse, wie sich die Dinge bei uns entwickelt haben. Die erste Analyse muss natürlich auf die Arbeitseinkommen gerichtet werden. In SachsenAnhalt ist es so, dass sich die durchschnittlichen Arbeitseinkommen Vollzeitbeschäftigter im schwachen ostdeutschen Durchschnitt bewegen.

Anders sieht es bei den Teilzeitarbeitsverhältnissen aus. Die Menschen, die in Sachsen-Anhalt mit Teilzeitarbeits

verhältnissen leben, verdienen über einen Euro weniger als in den anderen ostdeutschen Bundesländern, die mit denselben Strukturproblemen zu kämpfen haben wie Sachsen-Anhalt - mehr als einen Euro unter dem ostdeutschen Durchschnitt im Bereich der Teilzeitarbeitsverhältnisse!

Das heißt, in keinem Land der Bundesrepublik gibt es einen so ausgeprägten Niedriglohnsektor im Bereich der Teilzeitarbeitsverhältnisse wie in Sachsen-Anhalt, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein politischer Skandal und hat uns alle zu bewegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir reden hier von einem riesigen Bereich. Im Teilzeitarbeitsmarkt wird in Sachsen-Anhalt inzwischen etwa genauso viel gearbeitet wie im Vollzeitbereich. Nur deswegen sind diese miesen Einkommensverhältnisse übrigens in der Lage, den Durchschnitt für Sachsen-Anhalt so stark zu senken, dass wir im Durchschnitt am Ende der Skala des Einkommens aus Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland stehen.

Diese Einschätzung haben nicht nur wir getroffen, sondern auch andere. Da schreibt zum Beispiel der SPDLandesvorstand Folgendes:

„Das Mitglied des Landesvorstands der SPD Andreas Steppuhn warf Haseloff vor, Sachsen-Anhalt regelrecht zu einem Billiglohnland ausbauen zu wollen. Wer gegen Mindestlöhne und Tariftreuegesetze ist und ständig im Ausland bei Investoren mit Billiglöhnen wirbt, treibt Lohn- und Sozialdumping voran.“

Recht hat er, der Kollege Steppuhn; wir können ihn in seiner Einschätzung nur unterstützen.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei der SPD - Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

Was also muss getan werden, um an dieser Situation etwas zu verändern?

Erstens. Wir brauchen in der Bundesrepublik sofort einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 €, der in der Perspektive auf 10 € steigen muss.

(Beifall bei der LINKEN - Herr Gürth, CDU: Min- destens!)

Damit kann man zumindest Armut in Arbeit begrenzen.