Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 81. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode und darf die Anwesenden auf das Herzlichste begrüßen.
Ich komme zu den Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung. Für die 43. Sitzungsperiode liegen mir zwei Entschuldigungen vor. Minister Herr Dr. Haseloff ist heute nicht anwesend. Er nimmt an der 8. Europäischen Chemiekonferenz in Brüssel teil, deren Präsident er ist. Herr Minister Dr. Daehre entschuldigt sich ebenfalls für die heutige Sitzung ganztägig. Er nimmt an der Verkehrsministerkonferenz in Weimar teil.
Alle anderen Mitglieder der Landesregierung sind anwesend, soweit sie nicht erkrankt sind. Das wollte ich Ihnen nicht vorenthalten.
Meine Damen und Herren! Ich komme zur Tagesordnung. Die Tagesordnung für die 43. Sitzungsperiode liegt Ihnen vor. Die Fraktion DIE LINKE und die Fraktion der FDP haben Themen für die Aktuelle Debatte eingereicht.
Der Antrag der Fraktion DIE LINKE trägt den Titel „Zum Einsatz der EU-Mittel für den vorbeugenden Hochwasserschutz durch die Landesregierung“ und liegt in der Drs. 5/2887 vor. Der Antrag der FDP-Fraktion zum Thema „20 Jahre sachsen-anhaltisches Bildungssystem“ liegt in der Drs. 5/2888 vor. Im Ältestenrat wurde vereinbart, die Aktuellen Debatten unter den Tagesordnungspunkten 25 a und 25 b am morgigen Freitag als ersten Punkt zu führen.
Die FDP-Fraktion möchte den Antrag zum Thema „Zukunft der Sicherungsverwahrung in Sachsen-Anhalt“ in der Drs. 5/2867, der als Tagesordnungspunkt 17 behandelt werden sollte, zurückziehen.
Das nehme ich zur Kenntnis. - Frau Grimm-Benne möchte auch noch etwas zur Tagesordnung sagen. Bitte schön.
Herr Präsident, hiermit beantrage ich gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 der Geschäftsordnung des Landtages im Namen der Fraktionen der SPD, der CDU und DIE LINKE, den Tagesordnungspunkt 24 von der Tagesordnung abzusetzen.
Am heutigen Tag wird nach dem Tagesordnungspunkt 11 der Tagesordnungspunkt 19 aufgerufen. Im Zeitplan wurde bereits darauf orientiert, dass gegebenenfalls der Tagesordnungspunkt 14 heute noch behandelt wird.
Meine Damen und Herren! Gibt es weitere Anmerkungen zur Tagesordnung? - Das sehe ich nicht. Wenn Sie der Tagesordnung zustimmen, dann bitte ich um das Handzeichen. - Zustimmung bei allen Fraktionen. Damit können wir so verfahren.
Ich erteile dem Herrn Ministerpräsidenten das Wort. Anschließend werden wir in eine Aussprache zu der Regierungserklärung eintreten. - Herr Professor Dr. Böhmer, Sie haben das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands lebt bereits eine junge Generation unter uns, die die Teilung unseres Landes nicht erlebt hat und für die der 3. Oktober 1990 bereits ein Datum aus dem Geschichtsbuch ist.
Uns, die wir die Teilung, den Mauerbau, die Maueröffnung und die Wiedervereinigung erlebt haben, müssen wir nicht daran erinnern. Die Freude, das Ende der Teilung noch miterlebt zu haben, wird bleiben. Einerseits sind noch lange nicht alle Langzeitfolgen der Teilung und noch nicht alle Komplikationen des Wiedervereinigungsprozesses überwunden. Andererseits wird es zukünftig immer wichtiger werden, an diese Periode unserer Geschichte zu erinnern.
Selbst im Rückblick und mit 20 Jahren Abstand erscheint es immer noch wie ein Wunder, wie sich die Welt in den nur 329 Tagen zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 veränderte. Die Geschichte lief damals wie im Zeitraffer. War da eben noch die Mauer, die uns in der DDR wie für die Ewigkeit gemacht erschien oder wenigstens erscheinen sollte, so war diese plötzlich nicht nur offen, sondern innerhalb kürzester Zeit folgten freie Wahlen, die Währungsunion und schließlich die deutsche Einheit.
Doch ungeachtet der weltweiten Veränderungen wurde in diesem knappen Jahr unter dem Druck der Bürger in der ehemaligen DDR viel und hart gearbeitet, um die deutsche Wiedervereinigung Wirklichkeit werden zu lassen. Es war die Leistung der letzten Volkskammer und der Diplomatie der Regierung der Bundesrepublik.
An erster Stelle stand zunächst einmal die Aufgabe, Überzeugungsarbeit bei unseren Nachbarn und Verbündeten zu leisten. Die Wiedervereinigung Deutschlands war schließlich mehr als eine bloße Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands. Die Skepsis im Ausland war groß. Das geteilte Deutschland war vier Jahrzehnte lang ein stabilisierendes Element der Nachkriegsordnung gewesen. Dabei war nicht nur gegenüber der Sowjetunion Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch in Großbritannien und Frankreich sah man eine schnelle deutsche Wiedervereinigung durchaus sehr kritisch.
Nach mehrmonatigen Gesprächen wurde mit der Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Vertrages am 12. September 1990 der Weg für die deutsche Wiedervereinigung auf der internationalen Ebene frei gemacht.
Allerdings mussten auch in der DDR die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung geschaffen werden. Die im März 1990 erstmalig frei gewählte Volkskammer der DDR hatte ein riesiges Arbeitspensum. Die DDR, so wie wir sie erlebt hatten, war mit Westdeutschland beim besten Willen nicht vereinbar.
Die letzte Volkskammer hat die DDR wiedervereinigungsfähig gemacht. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Verabschiedung des Verfassungsgrundsätzegesetzes und des Gesetzes über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR - beide Gesetze wurden nicht ohne Grund am 17. Juni 1990 verabschiedet - oder aber an das Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990, über das wir auch schon gesprochen haben. Es ist das historische Verdienst der frei gewählten Volkskammer der DDR, die Voraussetzungen und dann den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland mit Mehrheit beschlossen zu haben.
Schon damals hat es Diskussionen darüber gegeben und auch heute lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob bei der Wiedervereinigung alles richtig gemacht worden sei und ob nicht besser ein anderer Weg hätte beschritten werden sollen. Ich halte solche Überlegungen für nutzlos. Man hätte damals sicherlich manches anders, aber nur weniges besser machen können.
Die eigentliche Politik wurde damals von den Menschen selbst gemacht, das heißt von den Menschen hier in Ostdeutschland. Es waren nicht nur die Demonstrationen auf der Straße, sondern es war die Abwanderung in den Westen, die einen Handlungsdruck erzeugt hat.
Allein zwischen dem 9. November und dem Jahresende 1989 hatten etwa 300 000 Bürger die DDR verlassen. Im Jahr 1990 sind es fast 400 000 gewesen. Der Wiedervereinigungsdruck entstand aus der Bevölkerung heraus. Es war eine Abstimmung mit den Füßen. Beide Teile Deutschlands waren daran interessiert, diese Form einer gewissen Völkerwanderung innerhalb Deutschlands zu beenden.
Auch über die Frage, ob die Vereinigung nicht besser nach Artikel 146 statt nach Artikel 23 des Grundgesetzes hätte erfolgen sollen, wurde diskutiert. Das Grundgesetz hat sich in mehr als vier Jahrzehnten Bundesrepublik hervorragend bewährt.
Zudem muss man sich die damalige Situation vorstellen: Da saßen auf der einen Seite 16 Millionen Ostdeutsche, ein Teil davon schon auf gepackten Koffern; und die anderen waren sich auch nicht richtig darüber einig, was sie wollten. Die DDR war immerhin gerade grandios gescheitert.
Auf der anderen Seite standen mindestens 60 Millionen Menschen, die zu Recht auf eine gelungene wirtschaftliche Entwicklung verweisen konnten. Diese sollten sich nun von uns sagen lassen, wie man alles auf dieser Welt besser machen könne. Das war schon damals eine irreale Vorstellung.
Der Weg über Artikel 23 mit allen damit verbundenen Problemen ist damals letztlich der einzig vernünftige gangbare Weg gewesen.
Andere wiederum behaupten, die frühe Währungsunion und die Arbeit der Treuhandanstalt hätten die DDRWirtschaft kaputtgemacht. Das müsste eigentlich jeder, der die DDR bewusst erlebt hat, besser wissen.
Schon Experten der Regierung Modrow hatten Anfang des Jahres 1990 etwa 30 % der Unternehmen der DDR als dringend sanierungsbedürftig und weitere 30 % als nicht mehr sanierungsfähig eingestuft. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit der Treuhandanstalt und ihrer Nachfolger einzuschätzen, auch wenn wir wissen, dass dabei auch Fehler begangen wurden und dass mancher angebliche Investor nur an eine Marktbereinigung zum eigenen Vorteil gedacht hat.
So wäre die Rettung der Chemieindustrie in SachsenAnhalt ohne die Arbeit der Treuhand und der BvS wohl kaum gelungen.
Dabei stand gerade die chemische Industrie der DDR, die zum größten Teil im Gebiet des heutigen SachsenAnhalts beheimatet war, in einem denkbar schlechten Ruf. Sie produzierte auf oft veralteten Anlagen und ohne Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen. Leuna und Bitterfeld-Wolfen waren dafür vor 20 Jahren zum Synonym geworden.
Ende der 80er-Jahre war bereits jeder fünfte Beschäftigte der chemischen Industrie der DDR nur mit Reparaturaufgaben betraut. Im Jahr 1989 wurde allein auf dem Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt ein Drittel mehr Schwefeldioxid und Staub emittiert als in der gesamten alten Bundesrepublik. Heute beträgt die Belastung noch 1 % der Werte aus DDR-Zeiten und auch die Kohlendioxidemissionen wurden um etwa 55 % gesenkt.
Natürlich war der Umbau der chemischen Industrie bei uns kein einfacher Prozess. Zunächst einmal gingen sehr viel mehr Arbeitsplätze verloren, als erhalten werden konnten oder neu entstanden, und nicht jede Entscheidung konnte von den von ihr Betroffenen nachvollzogen werden, auch wenn sie letztlich notwendig war. Ich erinnere nur an die Worte des damaligen Wirtschaftsministers Klaus Schucht zu den Buna-Arbeitern auf dem Domplatz. Heute wird in Schkopau gewiss niemand mehr bezweifeln, dass die Privatisierung an Dow die Rettung für den Standort war.
In der chemischen Industrie Sachsen-Anhalts waren im Jahr 1991 noch rund 75 000 Menschen beschäftigt. Innerhalb von weniger als zehn Jahren ging deren Zahl auf etwa 16 000 zurück. Heute arbeiten in der chemischen Industrie unseres Landes wieder rund 25 000 Menschen. Vor allem aber: Schon 2005 wurde mit einer deutlich geringeren Zahl von Beschäftigten wieder der Umsatz erreicht, den die Branche in den Jahren 1989/ 1990 einmal hatte. Hinsichtlich des Umsatzes je Beschäftigten liegen wir bereits seit der Jahrtausendwende kontinuierlich über dem deutschen Branchendurchschnitt.
All dies zeugt von einem erfolgreichen Strukturwandel, auf den wir zu Recht auch stolz sein können, der gleichwohl ohne die deutsche Einheit nicht zustande gekommen wäre, und so wie in der chemischen Industrie vollzog er sich in den anderen Wirtschaftsbereichen unseres Landes. Für Tausende führte dieser Strukturwandel leider zunächst zum Verlust ihres Arbeitsplatzes.
Dank schulden wir auch jenen Mitarbeitervertretungen, die diesen Prozess aus Einsicht in die Notwendigkeiten verantwortungsvoll begleitet haben. Niemand wird leugnen, dass diejenigen, die dabei für längere Zeit arbeitslos wurden oder es heute noch sind, die größte individuelle Last zu tragen hatten und zum Teil noch zu tragen haben.
Aber nicht einmal Wirtschaftstheoretiker konnten bisher glaubhaft aufzeigen, wie ein solcher Strukturwandel auch des Arbeitsmarktes ohne zeitweise hohe Arbeitslosigkeit hätte organisiert werden können. Alle unsere ehemaligen sozialistischen Bruderländer haben den gleichen Prozess durchmachen müssen und stecken zum Teil noch darin. Wir hatten gegenüber den ehemaligen Bruderländern den Vorteil, die Belastung mit hohen finanziellen Sozialtransfers aus dem westlichen Teil Deutschlands abfedern zu können.
Einige haben sich damals sogar überlegt, wie man die erhofften Erlöse aus der Privatisierung der Volkswirtschaft unter der Bevölkerung verteilen könnte. Um den riesigen Bedarf an technologischer Modernisierung und ökologischer Sanierung überhaupt bezahlen zu können, musste die Treuhand für jede D-Mark, die sie eingenommen hat, noch etwa 2 DM dazulegen, um überhaupt eine Privatisierung organisieren zu können. Dieses Geld musste aus dem Staatshaushalt dazugegeben werden. Finanziert wurde es aus dem Fonds Deutsche Einheit, der bis heute noch nicht völlig abgezahlt ist. Der Neuaufbau der Wirtschaft war nur mit erheblicher finanzieller Hilfe möglich.
Lassen Sie mich dazu ein paar Zahlen nennen, die die Dimension der Aufbauleistung allein für uns in SachsenAnhalt deutlich machen:
Seit 1991 bis einschließlich 2010 sind aus verschiedenen Quellen rund 85,6 Milliarden € nach Sachsen-Anhalt geflossen, darunter 9,5 Milliarden € aus dem Länderfinanzausgleich und rund 7,8 Milliarden € aus den EUFonds. Mehr als 55 Milliarden € stammen aus Bundesergänzungszuweisungen und weiteren Bundesmitteln, 12,6 Milliarden € aus dem Fonds Deutsche Einheit.
Die Gelder sind zum Beispiel in den Ausbau der Infrastruktur geflossen, so zum Beispiel rund 9,2 Milliarden € in den Straßenbau. Wir alle wissen, wie es um den Zustand der Straßen in der DDR bestellt war und wie notwendig diese Investitionen waren.
Rund 4,4 Milliarden € sind in die bauliche Sanierung und die medizintechnische Ausstattung von Krankenhäusern gegangen.
6,2 Milliarden € dienten der Förderung von Investitionsvorhaben der gewerblichen Wirtschaft und haben dort ein Investitionsvolumen von rund 32,5 Milliarden € ausgelöst. So konnten damit mehr als 131 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Fast ein Drittel der Investitionen, nämlich rund 9,3 Milliarden €, stammten von ausländischen Unternehmen.
Nicht in der genannten Summe enthalten sind die Mittel, die aus den Sozialversicherungen an die Bürgerinnen und Bürger geflossen sind, da diese Leistungen in Ost wie West nach den gleichen Grundlagen gezahlt werden. Deshalb darf daran erinnert werden, dass es neben der vereinbarten Wirtschafts- und Währungsunion die dritte Komponente, nämlich die Sozialunion, war, die uns sehr geholfen hat, diese schwierige Phase des Umbaus zu meistern, indem sie soziale Härten abgefedert und so verhindert hat, dass Menschen, die ihre Arbeit verloren, plötzlich vor dem Nichts standen. Dazu gehört auch die Anfang der 90er-Jahre in großem Umfang praktizierte Frühverrentung.
All dies hat uns in den neuen Bundesländern deutlich von unseren osteuropäischen Nachbarn unterschieden, bei denen der Transformationsprozess sehr viel stärker