Protokoll der Sitzung vom 06.10.2011

Ich danke für die Nachfrage, da sie ein Problem offenkundig macht. Es sind zwei verschiedene Paar Schuhe, wofür ich das Demonstrationsrecht nutze.

(Beifall bei der SPD; bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Von Rechtsradikalen gehen in dieser Gesellschaft Gefahren aus, und die Zivilgesellschaft ist gefordert, sich vor ihnen zu schützen und auch dagegen zu demonstrieren.

(Zurufe von der CDU)

Bei Straftätern, die entlassen worden sind, bei denen die Voraussetzungen für eine weitere Sicherungsverwahrung nicht mehr vorliegen, bei denen die Polizei die anfangs gewissermaßen noch auf Schritt und Tritt durchgeführte Bewachung eingestellt hat

(Zuruf von der CDU: Warum?)

- weil die Gefährdung nicht mehr vorlag -

(Zurufe von der CDU)

und bei denen alle, die bisher mit ihnen gesprochen haben, den Eindruck haben, dass sie resozialisierbar sind und dass von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht,

(Herr Kolze, CDU: Ja, bis zum nächsten Fall!)

das Demonstrationsrecht zu missbrauchen, damit habe ich meine Probleme und das habe ich hier deutlich gemacht. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich weitere Gäste auf der Besuchertribüne begrüßen. Herzlich willkommen, Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Rüsternbreite aus Köthen!

(Beifall im ganzen Hause)

Wir fahren in der Debatte fort. Es spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Abgeordnete von Angern.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Zunächst möchte ich für meine Fraktion feststellen: Es ist gut und es ist vor allem wichtig für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat, dass sich die Fraktionen des Landtages von Sachsen-Anhalt auf eine gemeinsame Erklärung verständigt haben, über die wir nachher zu beschließen haben. Wir setzen damit ein Zeichen für gelebten Parlamentarismus und wir sagen deutlich in Richtung Landesregierung: Wir sind das Parlament, an dem nicht vorbeizuregieren ist.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Die Vorgänge in der Gemeinde Insel sind ein trauriger Beleg für das Scheitern der Resozialisierung und damit auch für das Scheitern der Integration ehemaliger Straftäter in unsere Gesellschaft.

Doch, meine Damen und Herren, niemand in Sachsen-Anhalt sollte vergessen, dass sowohl die beiden Männer in Insel als auch alle anderen in Haft befindlichen Straftäter Teil unserer Gesellschaft sind. Ich möchte das ausdrücklich nicht als Drohung verstanden wissen, sondern als Tatsache, der wir uns alle zu stellen haben.

In jeder Gesellschaft gab es, gibt es und wird es immer Menschen geben, die gegen gemeinschaftlich gesetzte Normen verstoßen, und es ist an uns allen zu entscheiden, wie wir mit ihnen umgehen. Das Grundgesetz bildet dabei einen wesentlichen Rahmen, den es stets zu beachten gilt.

Angesichts der aktuellen Geschehnisse in der Altmark stellt sich jedoch uns allen die Frage: Inwieweit wird das Grundgesetz von den Menschen tatsächlich als gesellschaftlicher Konsens angesehen?

Wie oft war in den letzten Wochen medial zu hören: „Natürlich sollen die beiden ein Recht auf ein Leben in Freiheit haben, aber doch bitte nicht hier bei uns!“ - Bei diesen Worten stellt sich die Frage: Wie stehen wir, wie stehen die Menschen in Sachsen-Anhalt tatsächlich zu Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“?

Ich sage von dieser Stelle aus sehr deutlich: Jetzt, wo die beiden Männer vermeintlich aus Insel wegziehen - bemerkenswert ist festzustellen, dass sie am Dienstagabend noch eine genau gegenteilige Äußerung von sich gegeben haben, dass sie dort bleiben wollten -, haben sich all jene durchgesetzt, die den Rechtsstaat erpresst haben.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Jetzt lesen wir in der „Mitteldeutschen Zeitung“, dass die Straße gesiegt hat, jetzt müssen auch wir feststellen, dass wir die Fehler nicht nur bei der Landesregierung suchen können und müssen, sondern dass vor allem auch wir als Landtag von Sachsen-Anhalt zu spät aktiv geworden sind.

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Herr Innenminister, es ist eben nicht so, wie von Ihnen gegenüber der „MZ“ geäußert, dass es vorliegend allein um die menschliche Vernunft geht. Wir - damit meine ich tatsächlich uns alle - sind gescheitert in dem Bemühen, Menschen nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe eine zweite Chance zu geben. Und wir haben uns erpressbar gemacht für alle zukünftigen ähnlich gelagerten Fälle.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das ist nach Ansicht der Fraktion DIE LINKE eine klare Niederlage für unseren Rechtsstaat, die uns noch lange begleiten wird.

Am Beispiel Insel kristallisiert sich heraus, dass in der Gesellschaft vor allem eine Erwartung besteht: ein wirksamer Schutz vor Rückfalltätern. Ich gehe davon aus, dass in diesem Hohen Hause Konsens besteht, dass Sorgen und Ängste der Menschen, Opfer von Straftaten zu werden, ernst zu nehmen sind. Selbstverständlich hat der Staat die Pflicht, Menschen vor Straftaten zu schützen.

Aber ebenso - und nicht etwa nachrangig - haben ehemalige Straftäter einen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte sowie auf Resozialisierung und rechtskonforme Rückkehr in die Gesellschaft. Gerade Letzteres ist im Übrigen zugleich der beste Schutz der Bevölkerung vor neuen Straftaten.

(Beifall bei der LINKEN und bei der SPD)

Die Gesellschaft muss sich daher die Frage stellen und diese auch beantworten: Wie wollen wir mit ehemaligen Straftätern nach ihrer Entlassung umgehen? Wie wollen wir mit Straftätern in ihrer Haftzeit umgehen, um sie auf ein straffreies Leben danach vorzubereiten?

Meine Damen und Herren! Auch wenn heute vor allem die rechtspolitischen Sprecher der Fraktionen reden, möchte ich Ihnen bewusst machen, dass wir es hierbei mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun haben. Wir alle tragen Sorge dafür, wie mit diesem Thema umgegangen wird. Dabei helfen weder einseitige Schuldzuweisungen noch lockere Sprüche im privaten Umfeld und auch kein passives Zuschauen oder Wegschauen.

All diese Verhaltensweisen unterstützen vor allem Menschen, die die Menschenwürde nicht als höchstes Gut unserer Gesellschaft erachten und sie einigen Menschen gar absprechen. Und nie

mand, niemand darf wegschauen, wenn elementare Menschenrechte missachtetet werden.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Lassen Sie uns gemeinsam dafür streiten, dass tatsächlich jeder Mensch vor dem Grundgesetz gleich ist und dass Menschen nach Verbüßung der Haft ein Recht auf eine zweite Chance nicht nur rechtsstaatlich, sondern auch gesellschaftlich gewährt bekommen. Es darf nicht gesellschaftlicher Konsens sein oder werden, dass wir Täter für immer aus der Gesellschaft ausgrenzen. Eine solche Ausgrenzung erfolgt, wenn Menschen gedrängt werden, nicht ihr Recht auf freie Wohnortwahl auszuüben.

Wir sind alle dafür verantwortlich - wir als politische Verantwortungsträger und wir die Zivilgesellschaft -, die im Grundgesetz verankerten Rechte eines jeden Menschen zu verteidigen und nicht zuzulassen, dass es eine Abstufung zwischen den Menschen gibt.

Insel zeigt sehr deutlich, dass staatliches Handeln allein nicht ausreicht, sondern dass vor allem die Zivilgesellschaft gefordert ist. Meine Damen und Herren, das verwundert gar nicht. Ein Staat ist kein künstliches Gebilde, das aus Abgeordneten, Regierungen, Behörden oder Justiz besteht. Staat, das sind wir alle, das ist die Zivilgesellschaft.

Deswegen bestimmt und trägt maßgeblich die Zivilgesellschaft die Verantwortung für das Miteinander und für die gemeinsam gefundenen Regelungen wie das Grundgesetz. Dabei ist gerade der Umgang mit den sogenannten schwächsten Gliedern einer Gesellschaft, wie Straftäter es sind, ein Maßstab für die politische und zivilgesellschaftliche Reife unserer Gesellschaft.

DIE LINKE verurteilt es auf das Schärfste, wenn politisch Verantwortliche vor Ort latente Ängste von Menschen noch schüren und damit instrumentalisieren und wenn Rechtsextreme versuchen, mit den in Insel entstandenen Problemen ihre eigenen menschenverachtenden Ziele und verfassungsfeindlichen Positionen zu propagieren.

So hat der Ortsbürgermeister, der in der Angelegenheit übrigens sämtliche Briefe unter dem Briefkopf der Stadt Stendal versendet, den Aufmarsch von Rechtsextremisten in Insel billigend in Kauf genommen.

Ich weiß nicht, ob ihm, den demonstrierenden Menschen vor Ort und auch allen hier im Haus bewusst ist, dass es gerade rechtsextreme Gruppierungen sind, die die Forderung „Todesstrafe für Kinderschänder“ propagieren. Genau an dieser Stelle ist entschiedener Widerstand angezeigt und dringend notwendig. Hier erwarte ich den Aufstand der Anständigen, der vorliegend leider ausgeblieben ist.

(Beifall bei der LINKEN, bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Gibt es einen solchen Aufstand der Anständigen nicht, nimmt nicht nur der Ruf des Landes Sachsen-Anhalt in der Bundesrepublik, sondern vor allem die demokratische Kultur in Sachsen-Anhalt einen erheblichen Schaden. Nicht umsonst fordert der Verein „Miteinander", dass die auf Landesebene, aber auch auf der Ebene der Kommunen politisch Verantwortlichen auf Aufklärung und Toleranz setzen und das Grundgesetz verteidigen.

(Zurufe von der CDU)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vertreter aller Fraktionen haben sich gestern auf Augenhöhe und mit einem ehrlichen Interesse daran, wie wir gemeinsam unserer Verantwortung als Parlamentarier gerecht werden können, zusammengesetzt. Wir gingen dabei aufeinander zu und verfassten ein Papier mit der Botschaft „Resozialisierung möglich machen“. Ich sehe die gemeinsame Entschließung als einen großen Wert für unser Parlament an.

Doch was tat zeitgleich der Innenminister? - Er zeigte dem Land: Ich packe es an. Ich handele so, wie es die Mehrheit der Insulaner erwartet und wie es das Justizministerium mit Verweis auf die Grundrechte nicht realisieren konnte.

Doch was haben Sie erreicht, Herr Minister? - Eine klare Botschaft in die Bundesrepublik: Der Wegzug ist vermutlich zwangsläufig erreicht und Integration muss anderswo stattfinden.

Ich frage Sie, Herr Minister: Warum und mit welchem Ziel ist so eine schriftliche Erklärung der beiden Männer entstanden? - Sie sind freie Menschen und bedurften einer solchen schriftlichen Erklärung nicht.