Protokoll der Sitzung vom 11.11.2011

Ich persönlich habe mich nie als solch ein Opfer verstanden. Ich habe weder im Jahr 1989 noch heute eine Reine-Weste-Diskussion geführt. Ich hatte das Glück, in einer Nische leben zu können, und mit mir auch mein Sohn, der heute vor 22 Jahren auch neun Jahre alt war. Ich glaube, Sie, Herr Herbst, haben in einer ähnlichen Nische gelebt.

Wie weit soll Aufarbeitung gehen? - Ich habe zum Beispiel im Bereich Kirche und Diakonie zu denen gehört, die überhaupt nicht damit leben konnten, dass es Kirchenleute, Theologen und was weiß ich gab, die sich mit der DDR identifizieren konnten, die von „ihrer“ DDR sprachen. Ich hielt diesen Begriff „Kirche im Sozialismus“ für eine besondere Form der Gemeinde- und Volksverdummung. Wollen wir das jetzt auch ganz hart angehen?

Ja, Geschichte kann Schuld sein. Geschichte ist immer Verantwortung. Der Film schließt damit, dass das Opfer einem Kind die Aufgabe gibt: Du darfst nie aufhören zu fragen. - Das gilt auch nach 20 Jahren. Das ist auch unserer Auftrag als Politiker. Ich erlaube mir trotzdem, am Ende meines Redebeitrages als Sozialdemokrat Otto von Bismarck zu zitieren:

„Politik hat nicht zu rächen, was geschehen ist, sondern zu sorgen, dass es nicht wieder geschehen kann.“

Ich wünschte mir von der im Landtag neuen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass sie bei solch tiefgehenden Vorhaben wie diesem Antrag viel

leicht doch in Zukunft vorher einmal mit dem einem oder anderen sprechen. - Vielen Dank.

(Starker Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Miesterfeldt. - Für die Fraktion DIE LINKE spricht nun der Abgeordnete Herr Höhn.

(Herr Herbst, GRÜNE: Ich wollte eigentlich intervenieren!)

- Entschuldigung. Herr Abgeordneter Herbst, bitte.

Geschätzter Kollege Miesterfeldt, ich möchte das noch einmal klarstellen, weil es mir wirklich wichtig ist, dass es nicht so herüber kommt, als ob ich irgendetwas gegen Herrn Stockmann hätte oder ihn hier beleidigen wollte. Wenn dieser Eindruck durch meine Äußerungen entstanden sein sollte, dann tut mir das wirklich leid.

Meine Kritik richtet sich erstens gegen den Umstand, dass die Stelle über so lange Zeit unbesetzt ist, dass wichtige Arbeit liegen bleibt und Schaden für das Land entstanden ist und immer neu entsteht, jeden Tag.

(Frau Budde, SPD: Das ist doch Schwach- sinn!)

- Unterhalten Sie sich einmal mit den Opferverbänden, die Ansprechpartner in einer Behörde mit fünf Mitarbeitern brauchen, in der so viele Aufgaben auf den Chef selbst zukommen.

Zweitens. Meine Kritik richtet sich gegen das Auswahlverfahren. Die Kritik daran ist hinlänglich bekannt. Das haben Sie alles gelesen. Meine Meinung, mein Eindruck ist, dass viele Dinge nicht richtig gelaufen sind. Und aus meiner Sicht legitimiert auch ein Landtagsbeschluss kein Verfahren, in dem Fehler gemacht wurden.

Drittens. Ich glaube schon, dass in dem Auswahlverfahren - darüber ist vieles geschrieben und einiges bekannt geworden - die Zugehörigkeit zu einer Partei auch eine Rolle gespielt hat. Das stellt die fachliche Qualifikation und die Biografie von Herrn Stockmann, den ich schätze, überhaupt nicht infrage. Das habe ich mit meiner Äußerung zum Ausdruck bringen wollen. Das möchte ich hier noch einmal so dezidiert darlegen. - Vielen Dank.

Danke, Herr Kollege Herbst. - Nun spricht für die Fraktion DIE LINKE Herr Abgeordneter Höhn.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich einen Satz zur Vorbemer

kung angesichts des Tagesordnungspunktes und der Debatte zuvor und auch in den letzten Minuten sagen. Ich rede heute in diesem Hause nicht zum ersten Mal zum Thema Geschichte. Ich werde dabei bleiben, dass ich diese Tagesordnungspunkte nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung nutze.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Tagen ist die IM-Vergangenheit eines bekannten Dokumentarfilmers der DDR veröffentlicht worden. Das Besondere an diesem Fall ist, dass Joachim Tschirner einer der Redner auf der großen Kundgebung am 4. November 1989 war, bei der sich eine halbe Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten.

(Frau Budde, SPD: Das war der Parteivor- sitzende, der das war!)

Tschirner traf in seiner Rede dort die Aussage:

„Ich glaube nicht daran, dass eine wirkliche Wende möglich ist mit denen, die lediglich ihre Sessel um 180 Grad gedreht haben. Ich plädiere für die Analyse von Vergangenem, und ich plädiere auch für die persönliche politische Konsequenz aus dem eigenen Versagen.“

In dem jüngst veröffentlichten Beitrag der Tageszeitung „Die Welt“ wird nun berichtet, dass er jahrelang seine Kolleginnen und Kollegen in der DEFA bespitzelt und verraten hat. Was geht in einem Mann vor, der nur wenige Wochen vor den wichtigen Sätzen auf dem Alex das letzte Treffen mit seinem Führungsoffizier hatte? Wie kommt man dazu, mit dieser Hypothek für die Erneuerung, die Demokratisierung der DDR einzutreten? Und: Wird das dort von ihm Gesagte durch das Wissen über seine Person falsch?

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin den Bündnisgrünen für ihren heutigen Antrag dankbar. Zu selten gelingt es, die Debatte um die DDR-Vergangenheit und ihre Unterdrückungsmechanismen über die Beschäftigung mit der Staatsicherheit hinaus zu erweitern.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Immerhin war die Stasi der SED unterstellt, wie auch die Motivation der hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter nicht ohne Bezug zur DDR und zum sozialistischen Ideologiegebäude insgesamt zu verstehen sind.

Vom Begriff der Versöhnung als Zielsetzung der Vergangenheitsbetrachtung ist im Antrag an vielen Stellen die Rede. Zum einen sehen wir als Linke darin einen durchaus mutigen Ansatz, um Geschichte, Gegenwart und Zukunft zusammen zu denken. Zum anderen verschränkt der Begriff der Versöhnung die politische mit der persönlichen

Ebene, wenn nicht gar mit einer theologischen. Herr Herbst ist darauf eingegangen.

Versöhnung ist jedoch manchmal gar nicht gewollt. Man kann sie von niemandem verlangen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man sie durch staatliches Handeln ermöglich kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie im Antrag mit den Begriffen Täter und Opfer umgeht, muss sich auch anderen Diskursen der sogenannten Vergangenheitsbewältigung stellen. Wer den Begriff der Täterschaft aus dem Kontext nationalsozialistischer Verbrechen oder aus dem Kontext der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zu den Terrorakten in Staaten wie Chile und Südafrika heraus versteht, muss bei der Verwendung des Begriffs auf die DDR stocken.

Auf der gedenkpolitischen Ebene, die frei von Naivität über das Verhältnis von Geschichte und Politik sein sollte, ist mir der Begriff des Verständnisses der weiterführende. Es gibt ein allgemeines Missverständnis darüber, dass Verstehen gleichzusetzen wäre mit Vergebung.

Wenn ich das Handeln des anderen und auch das eigene verstehen will, muss ich es dabei nicht entschuldigen. Aber: Nur ein echtes Bedürfnis nach Verständnis kann über die handlungsleitenden Motive derjenigen Auskunft geben, die Unrecht nicht nur für Recht befanden, sondern sich selbst auch für moralisch legitimiert hielten. Nur Verständnis für die Mechanismen eines Zwangs- und Glaubenssystems, Verständnis über die Handlungsspielräume von Menschen, lässt sich handlungsleitend in Konzepte für Bildung, Schule oder Kultur übersetzen.

Deshalb ist es so wichtig, den Fokus der Aufarbeitung - wie im Antrag formuliert - auf weitere Institutionen des Staatsapparats der DDR zu erweitern, nämlich auf die Rolle der Blockparteien, der örtlichen Räte, der Polizei und des Militärs.

Weiter gedacht muss es aber auch heißen, die Handlungsspielräume von Pädagoginnen und Pädagogen, die Handlungsspielräume im Sport, in der Kultur zu betrachten. Denkt man das System DDR und Staatssozialismus an dieser Stelle zu Ende, so wird klar, dass die ebenfalls im Antrag formulierte Art der Aufarbeitung nicht funktionieren kann.

Es ist in dem Antrag sowohl von der wissenschaftlichen als auch von einer juristischen Aufarbeitung sowie indirekt von der formalen Erweiterung der Zuständigkeiten des Landesbeauftragten die Rede. Wie man 22 Jahre nach der Wende die juristische Aufarbeitung mit dem Gedanken der Versöhnung in Einklang bringen will, bleibt das Geheimnis Ihres Antrages.

In dem von mir eingangs genannten Fall Tschirner hilft weder die juristische noch die wissenschaft

liche Auseinandersetzung, sondern nur Selbstreflexion. Sie ist Dreh- und Angelpunkt auch unsers parteiinternen Umgangs mit der DDR. Herr Thiel hat es erklärt. Das ist für den Einzelnen schwieriger als von außen anerkannt und zugestanden und schwieriger als die Selbstgewissheit derjenigen, die schon immer alles besser gewusst haben

(Zustimmung bei der LINKEN)

und deren politische Gegenwart die eigene Vergangenheit scheinbar verschwinden lässt.

DIE LINKE begrüßt die Initiative der GRÜNEN, mit diesem Antrag einen differenzierten Blick auf die Aufarbeitung der DDR zu begründen. Wir werden uns jedoch der Stimme enthalten, weil wir bei dieser Differenziertheit die dichotome Einteilung der Gesellschaft in Täter und Opfer nicht nachvollziehen. - Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke schön, Herr Kollege Höhn. - Für die Fraktion der CDU spricht nun Herr Schröder.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Gesellschaft kann nicht ohne historisches Bewusstsein leben, sie muss sich ihrer Geschichte stellen. Das gilt auch für die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Hierbei stehen vor allem - das ist aus meiner Sicht immer wieder hervorzuheben - Schulen und Bildungseinrichtungen in der Pflicht.

An diesem Grundsatz orientiert sich die schulische und außerschulische politische Bildung in Sachsen-Anhalt. Angebote wie Tagesseminare, Zeitzeugengespräche, Fortbildungen bis hin zu länderübergreifenden Schulprojekten wie jüngst in Marienborn sind dafür Beispiele. Die Lehrpläne in den Schulen greifen nicht nur Unrecht, nicht nur Stasi, sondern auch die Alltagsgeschichte in der DDR auf. Für meinen Geschmack könnte es davon durchaus noch mehr in der Aufarbeitung an unseren Schulen geben.

Unbestritten ist auch, denke ich, der Stellenwert unserer Gedenkstättenarbeit. Geschichte - dort ist sie unmittelbar erlebbar. Die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, die Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg und die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn leisten einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Daran wird sich - darin sind wir uns in der Koalition einig - auch zukünftig nichts ändern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie wollen mit Ihrem Text nicht nur die Aufklärungs- und Aufarbeitungsarbeit stärken, Sie wollen auch die Wür

de der Opfer wahren und den Tätern Perspektiven bieten. So steht es als Zielstellung in der Begründung. Aber der Text des Antrages - so muss ich feststellen - kann diesem hohen Anspruch nicht genügen. Ich füge hinzu: leider auch Ihr Vortrag im Hohen Haus nicht.

Ich stimme Herrn Miesterfeldt ausdrücklich darin zu, dass dieser Antrag zu viel will und eigentlich gar kein Antrag ist, weil er in dieser Form Punkte enthält, die man nicht beschließen kann. Er lebt auch von vielem, das selbstverständlich ist, zum Beispiel dass Politik den gesellschaftlichen Dialog fördern müsse oder dass die Wissensvermittlung über politische Verhältnisse in der DDR wichtig sei, dass die wissenschaftliche Auswertung des Unrechts weitergehen müsse. Dann plötzlich die pauschale Forderung einer unbefristeten Möglichkeit von Beratung und Betreuung für alle Opfer und deren Angehörige.

Dann kommt die Stelle mit dem Landesbeauftragten. Der Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes hat eine wichtige Funktion. Der Landtag hat eine Persönlichkeit gewählt. Dieser Beschluss des Landtages in der vergangenen Wahlperiode muss sich bis heute rechtlich bewähren. Ich gestehe freimütig, dass dieser Zustand der nicht vollzogenen Stellenbesetzung, obwohl die Institution funktioniert und dort gute Arbeit geleistet wird, unbefriedigend ist.

Sie wissen allerdings auch genau, dass einer unverzüglichen Besetzung rechtliche Verfahren entgegenstehen, die zunächst abgeschlossen werden müssen. Ich kann Ihnen für meine Fraktion versichern, dass es unser Bestreben ist, hierfür eine zeitnahe Lösung zu finden. Ich denke, dass es Ihres Antrages dazu nicht bedarf.