Wir erleben mehr und mehr, dass Unkenntnis von der jüngeren und der älteren Geschichte um sich greift, dass ihre Gräuel dem Vergessen preisgegeben werden und dass sich der gnädige Mantel des Vergessens auch über die dunkelsten Kapitel deutscher Historie zu legen droht. Das, meine Damen und Herren, dürfen wir genauso wenig zulassen.
Vergessen und Ignoranz sind der Feind jeder Freiheit und am Ende der Tod jeder Demokratie. Wo das Wissen um vergangenes Unrecht verschwindet, haben es diejenigen leicht, die neues Unrecht planen. Nur wer weiß, kann Unrecht sehen. Nur wer weiß, kann Gefahren bannen. Nur wer um die Vergangenheit weiß, kann die Zukunft gestalten. Deshalb lautet das demokratische Gebot der Stunde: Lassen Sie uns die Geschichte wach halten.
Ganz zum Schluss eine Bitte: Die Einheit der Demokratinnen und Demokraten ist nicht nur ein wichtiges Element für das Gelingen einer Demokratie. Sie ist erstes Gebot und sie ist unabdingbare Voraussetzung.
Erinnern wir uns: Kleingeistigkeit, Eigennutz und auch Profilierungssucht waren schon einmal das, was dazu geführt hat, dass die Feinde der Demokratie obsiegen konnten. Lassen Sie uns aus dieser Geschichte lernen; lassen Sie uns das nicht wiederholen. - Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. Wenn das Thema nicht so ernst wäre, würde ich sagen, Ihnen ist das Bonmot der Woche gelungen. Niemand hier im Hause - das kann ich Ihnen versichern - hat vor, ein SPD-Verbotsverfahren anzustrengen.
Das ändert nichts an dem Ernst des Themas und an den wichtigen Aussagen, die bisher von allen Rednern getroffen wurden.
Wir fahren in der Debatte fort. Als Nächster spricht für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Abgeordneter Striegel.
Wir trauern um Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beklagen den Tod von zehn Menschen und zeigen uns solidarisch mit vielen anderen, die durch den Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds an Leib und Seele verletzt worden sind. Mit Scham und Bestürzung fragen wir uns, wie eine Gruppe von Neonazis, unterstützt und geschützt von einem Netz aus Bekannten, ohne wirksames Eingreifen der Sicherheitsbehörden über 13 Jahre hinweg unerkannt Angst und Schrecken verbreiten konnte.
Wir hadern damit, wie diese Niederlage des Rechtsstaates und seiner Behörden zustande kommen konnte. Alles dumme Zufälle? Verkettung unglücklicher Umstände? Oder haben die Terroristen tatsächlich so professionell agiert? Wurde bei den Ermittlungen geschlampt? Gab es stille Unterstützer und Mitwisser in den Behörden?
Haben Verfassungsschützer aus Rücksicht auf ihre Quellen Ermittlungen hintertrieben? - All das scheint möglich und muss vollständig aufgeklärt werden. Doch bevor Verschwörungstheorien blühen
- vielleicht hören Sie mir bis zum Ende zu - sollten wir uns fragen, wie wir, wie jede und jeder von uns die Morde wahrgenommen hat. Wollten wir es denn genau wissen? Haben wir uns nicht vielleicht mit den Erklärungen der Behörden zufrieden gegeben, weil wir hören wollten, dass es sich um „Döner-Morde“, um Verbrechen im kleinkriminellen Milieu, um die „Türkenmafia“, die „Internetmafia“, die „Wettmafia“ handelte? Weil es bequem war und in unser Bild von türkischstämmigen Kleinunternehmern passte? Rassistisches Kopfkino also in unserer Mehrheitsgesellschaft?
Meine Damen und Herren! Ich habe die Fahndungsplakate wiederholt in Polizeidienststellen gesehen. Auch bei mir im Kopf machten sich angesichts der dargestellten Fakten zu bereitwillig rassistische Stereotype breit, konnten mögliche andere Deutungen in den Hintergrund treten - trotz der
Tatsache, dass mich Neonazis, ihre Ideologie, ihre Strukturen und ihre häufig tödliche Gewalt seit mehr als einem Jahrzehnt beruflich und politisch beschäftigen.
Auch in meiner Erinnerung war bis vor wenigen Tagen kein Platz dafür, dass die türkische Community in Deutschland schon vor Jahren ein rassistisches Motiv hinter den Taten vermutete, dass bei vielen Migrantinnen und Migranten die Botschaft der Terroristen auch ohne Bekennerschreiben verstanden wurde: Fürchtet euch - ihr seid gemeint!
Es ist zu befürchten, dass die Auswahl der Opfer durch den NSU Einfluss auf die Wahrnehmung der Taten in der deutschen Öffentlichkeit gehabt hat. Hätten die Terroristen vornehmlich weiße Deutsche oder Repräsentanten des Staates wie die Heilbronner Polizistin attackiert, wären wir und wären die Ermittler wohl früher hellhörig geworden. So aber konnten viele von uns mit der Deutung der Verbrechen als „Döner-Morde“ ganz gut leben.
Die Taten des Nationalsozialistischen Untergrundes dürfen deshalb nicht nur unseren Blick auf Terror, Gewalt und Bedrohung der Demokratie durch Neonazis lenken. Sie müssen uns auch wachsamer für eigene Stereotype, für institutionellen Rassismus und für Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung von Randgruppen in der Mehrheitsgesellschaft machen.
Unsere Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren, muss der Mitte der Gesellschaft gelten, nicht nur ihren Rändern.
Es geht eben nicht um einen verquasten Extremismus, wie ihn die CDU und leider auch Teile der SPD gern beschwören. Es geht um die Bedrohung von Menschenrechten und Demokratie durch Neonazis und um Menschenfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft.
Die kürzliche Verlautbarung der Landesregierung, sie wolle nun endlich ein Programm - Herr Dorgerloh ist leider nicht anwesend - gegen Extremismus auf den Weg bringen, ist deshalb nicht hilfreich, sondern kontraproduktiv. Sie ist ein Schlag ins Gesicht von Hunderten Opfern rechter Gewalt, die wir in Sachsen-Anhalt in den vergangenen Jahren zu beklagen hatten. Die Täter waren nicht Extremisten. Es waren Neonazis, Rassisten, Antisemiten oder Menschen, die Obdachlose für nicht lebenswert halten.
Seit dem Jahr 1990 starben mindestens zehn Menschen in Sachsen-Anhalt infolge rechter Gewalt. Sie, Herr Stahlknecht, hätten die Chance gehabt, den Opfern zumindest im Nachhinein gerecht zu werden. Sie hätten eine politische Neu
Die unzureichenden und fehlerhaften Ermittlungen der Polizei sowie die blinden Flecken von Staatsanwaltschaften und Gerichten, die ein rechtes Motiv nur dann anerkennen, wenn der Täter während der Tathandlung „Heil Hitler“ brüllt, lassen sich politisch so nicht aufarbeiten, im Übrigen auch nicht durch Strafverschärfungen.
Auch wenn Ihre Regierung es nicht sehen will, ein Racheangriff von 30 Neonazis, bei dem ein Unbeteiligter totgeschlagen wird, ist ein rechtes Tötungsdelikt. Ebenso ist es der Tod eines Rentners, der sich über das Abspielen von Nazimusik beschwert und diese Zivilcourage mit dem Leben bezahlt.
Sachsen-Anhalt ist in den vergangenen Jahren wiederholt als das Bundesland mit der höchsten Belastung durch rechte Gewalttaten benannt worden. Mindestens 132 rechte Angriffe gab es hier allein im vergangenen Jahr.
Wer jetzt noch und nach dem Bekanntwerden der Taten des NSU von allgemeinem Extremismus spricht, der hat etwas nicht verstanden. Und wer angesichts der neu erkannten Gefahren des Rechtsterrorismus und des nur knappen Scheiterns der NPD bei der Landtagswahl sowie der weiterhin vorhandenen Bedrohung unserer Gesellschaft durch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit glaubt, mit 150 000 € sei ein Landesprogramm zu gestalten, der irrt, der irrt gewaltig.
Er irrt oder schlimmer, er täuscht die Öffentlichkeit, wenn er gleichzeitig die Mittel für politische Bildung, für Integrationsmaßnahmen und für Maßnahmen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zusammenstreicht.
Diese Landesregierung baut die Arbeit für Demokratie und Vielfalt nicht aus. Sie streicht diese Arbeit mithilfe von vielen kleineren Kürzungen und dem mangelnden Ausgleich von Fehlbedarfen zusammen. Das ist die Realität, meine Damen und Herren.
Beenden Sie dieses Trauerspiel! Schaffen Sie ein Landesprogramm für Demokratie, das seinen Namen verdient. Führen Sie die bisherigen Aktivitäten
Meine Fraktion hat dafür Vorschläge unterbreitet. Wir sehen mindestens 3 Millionen € im Jahr 2012 und 5 Millionen € im Jahr 2013 als notwendig an.
Mit diesem Geld kann ein integriertes Programm geschaffen werden, mit dem auch bislang brachliegende Bereiche, wie die Beratung von Eltern neonazistischer Jugendlicher oder nichtstaatliche Ausstiegshilfen, bearbeitet werden können.
Als Bundesland sind wir zudem in der konkreten Aufklärung der Verbrechen des NSU gefordert. Tatorte, Spuren und Verbindungen des Terrortrios und ihre Unterstützerinnen reichen inzwischen in alle Bundesländer. Das engmaschige Netz der rechten Szene, in dem sich das Trio des NSU bewegte und auf dessen direkte und indirekte Unterstützung es bauen durfte, zieht Fäden auch nach Sachsen-Anhalt.
Wir wollen dieses Netzwerk offen gelegt sehen, sowohl im Rahmen der juristischen Aufarbeitung der Terroranschläge als auch vor den Augen der Öffentlichkeit. Wir wollen die Gründe für das Versagen von 17 Verfassungsschutzbehörden untersuchen.