Menschen das SED-Regime. Dabei beriefen sie sich auch auf den 17. Juni. Diesmal standen der SED-Führung keine Panzer der Roten Armee bei. Honecker und Mielke - nach dem Volksaufstand des 17. Juni in höchste staatliche Ämter gelangt - mussten abtreten. Das Volk hatte das vollendet, woran es 36 Jahre vorher gescheitert war: Es hatte die SED-Herrschaft beseitigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Generation musste vergehen, ehe dieses Ziel erreicht werden konnte. Was für ein Leid wäre den Menschen erspart geblieben, wenn der Volksaufstand am 17. Juni 1953 erfolgreich gewesen wäre? Welche gebrochenen Lebensbiografien hätten wir uns ersparen können? Und welche Umschreibungen von Lebensbiografien in den 90er-Jahren wären erspart geblieben? - Allein daran kann man die Tragik der Ereignisse erkennen.
Das Wissen um den Volksaufstand entspricht insbesondere bei den jungen Menschen nach meiner tiefsten Überzeugung nicht der Bedeutung, die dem Ereignis zukommt und zukommen müsste. Deshalb findet es meine volle Sympathie und Anerkennung, dass in der Lutherstadt Eisleben Schüler des Martin-Luther-Gymnasiums mit der Unterstützung eines Historikers das dortige Geschehen untersucht und in einer Broschüre veröffentlicht haben.
Darüber hinaus wurden in dieser Woche in der Stadt zwei Gedenktafeln enthüllt, unter anderen für den während des Aufstands erschossenen Bergmann Kurt Arndt.
Uns Politikern, die wir in unterschiedlichen Bereichen Verantwortung tragen, sollte der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 Auftrag sein, im Geiste jener Forderungen zu handeln. Auch uns Abgeordneten des Landtags von Sachsen-Anhalt sollte bewusst sein, welch hohes Gut die freiheitlichdemokratische Grundordnung und deren Freiheitsrechte für uns sind.
Niemals dürfen wir vergessen, in wessen Auftrag wir hier sind, wir hier diskutieren und wir hier Beschlüsse fassen. Unser Auftrag ist es - das lassen Sie mich an dieser Stelle unmissverständlich zum Ausdruck bringen -, den Willen des Volkes zu repräsentieren und Demokratie und Pluralismus zu stärken. Hierzu gibt es keine und darf es keine Alternative geben.
Eines ist auch klar geworden: Man kann mit Panzern Menschen beiseiteschieben und töten, aber Gedanken kann man mit Panzern nicht besiegen.
Die Gedanken des Jahres 1953 waren die in diesen Boden gelegte Saat, die in unterschiedlichen Institutionen besorgt, begossen wurde - auch in den Kirchen - und die im Jahr 1989 aufging in dem einheitlichen Willen zur Freiheit. Das war am Ende der Beginn eines Kausalverlaufes für die
Lassen Sie mich etwas Persönliches sagen. Auch dies war der Beginn dafür, dass es mir und meiner Familie nach 1989 möglich war, in diesem Teil Deutschlands eine neue Heimat zu finden und heute in einer Stadt zu Ihnen reden zu dürfen, die für mich persönlich vor 1989 gedanklich weiter entfernt war als Grönland. - Herzlichen Dank.
Danke schön. - Wir fahren fort in der Debatte. Als nächste Rednerin spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Abgeordnete Bull.
Sehr geehrte Damen und Herren! Demokratie braucht den Widerspruch. Demokratie lebt vom Widerspruch. Ganz am Anfang gilt der Dank denen, die diesen Widerspruch gewagt haben, die das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit für sich in Anspruch genommen hatten, die damit unter den gegebenen Umständen ganz persönlich viel Mut und Zivilcourage bewiesen haben,
weil sie nicht mehr einverstanden waren damit, durch die sich weiter verschlechternden wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR eine drastische Einschränkung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse hinzunehmen, und weil sie nicht mehr einverstanden waren damit, dass ihnen demokratische Grundrechte vorenthalten wurden.
Im Jahr 1952 ist nach dem sowjetischen Vorbild das politische Programm zum Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen worden. Normerhöhungen, Preissteigerungen, der Vorrang der industriellen Produktion, Enteignungen, Repressionen gegen die Junge Gemeinde, landwirtschaftliche Kollektivierung - all das zerstörte Vertrauen und Zuversicht der Bevölkerung.
Mit dem Korea-Krieg begann zudem ein Wettrüsten, das die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der DDR an ihre Grenzen brachte. Menschen stimmten mit den Füßen ab und verließen die DDR.
Bereits am Vormittag des 17. Juni fuhren sowjetische Panzer in Berlin auf. Der am 9. Juni geheim verhandelte, durch die Sowjets erzwungene Schwenk kam zu spät und kam - was noch problematischer ist - genau so autoritär zustande wie die zuvor beschlossenen Zwangsmaßnahmen.
Die Repressionswelle in den Junitagen danach war ebenso erbarmungslos wie willkürlich. Es gab standrechtliche Erschießungen. Es gab Todes
urteile in Halle und Magdeburg. Es gab hundertfache Verurteilungen zu lebenslangen oder langjährigen Freiheitsstrafen. Und die Diffamierung der Ereignisse als faschistischer, später als kontrarevolutionärer Putsch diffamierte jede Form des kritischen Diskurses und Protestes im Nachhinein.
Auch die von Bertolt Brecht so dringlich geforderte Aussprache unterblieb. Stattdessen wurden Exempel statuiert. Da sich ganze Belegschaften eben nicht wegsperren ließen, galt es, die vermeintlichen Agenten und Provokateure aufzuspüren.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sichtbar wurde damit die Doppelstrategie der Partei- und Staatsführung der DDR. Auf der einen Seite versuchte man mit den vorgezogenen sozialen Leistungen dort, wo sie überhaupt noch möglich und finanzierbar waren, die vermeintliche Überlegenheit dieses Sozialismuskonzeptes vor dem Hintergrund zunehmender wirtschaftlicher Schwäche zu demonstrieren.
Andererseits wurde mit autoritären und repressiven Mitteln der demokratische Diskurs und der eben für die Demokratie so notwendige Widerspruch verleumdet, kriminalisiert und verfolgt. Das Gesicht des Sozialismus stalinistischer Prägung wurde durch militärische Intervention, durch staatliche Verfolgung von Andersdenkenden und Kritikerinnen bis hinein in die eigenen Reihen der SED bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 wie auch viele der darauf folgenden Entwicklungen und Geschehnisse ließen diesen Geburtsfehler, die Missachtung von Demokratie und Freiheit, offen zutage treten. Der real existierende Sozialismus der DDR konnte sich auch in den Jahren und Jahrzehnten danach nicht davon lösen.
Sehr geehrte Damen und Herren! All das sind für uns demokratische Sozialistinnen wahrlich sehr schmerzhafte, aber dennoch unumgängliche und notwendige Einsichten. Wir waren in der Pflicht und wir sind in der Pflicht, uns diesem politischen Erbe zu stellen und Schlussfolgerungen zu ziehen.
Bei allen politischen Forderungen und Konzepten müssen und werden wir uns die Frage stellen: Wie halten wir es mit den politischen Grund- und Freiheitsrechten? Wie halten wir es mit der Demokratie, und zwar auch oder vor allem dann, wenn sich demokratischer Widerspruch gegen die eigenen politischen Forderungen Mehrheiten verschafft? - Hierbei müssen wir sehr achtsam, sehr glaubhaft und auch sehr verlässlich sein. Oder anders gesagt: Es kann keine Hegemonie sozialistischer Politik geben, wenn sie nicht von einer demokratischen Mehrheit getragen wird. Und es kann keine Hegemonie sozialistischer Politik geben über den Tag hinaus, an dem sie abgewählt wurde - dies gilt
Sehr geehrte Damen und Herren! Demokratie ist ein sehr fragiles Konstrukt, auch in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart, im Kleinen wie im Großen, in der Verfassungswirklichkeit und im politischen Alltagsgeschäft.
Die verfassungsmäßige Verankerung der politischen und freiheitlichen Grundrechte ist die Grundlage, ja. Die Verfassungswirklichkeit von möglicher parlamentarischer Kontrolle bei all ihren uns bekannten Barrieren, die Wirklichkeit von Gewaltenteilung, von unabhängigen Institutionen zur Kontrolle von Macht und nicht zuletzt das Gewaltmonopol des Staates - all das ist ein Gewinn aus dem Jahr 1989, ist ein Gewinn der friedlichen Revolution.
Die Verankerung der Grund- und Freiheitsrechte ist aber sehr viel mehr Herausforderung als Garantie. Und immun machen sie auch keineswegs. Der Demokratie geht es dann an den Kragen, wenn in Teilen der Welt Menschen die politischen und sozialen Grundrechte verwehrt werden, dortige Machthaber hingegen aus wirtschaftlichem Interesse von unmissverständlicher Kritik und wirksamen Interventionsmöglichkeiten verschont werden.
Der Demokratie geht es dann an den Kragen, wenn die Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul und in zwei Dutzend anderen türkischen Städten derzeit auf die blutige und brutale Reaktion der Staatsmacht treffen, oder auch dann, wenn mit polizeilichen Mitteln friedliche Demonstrantinnen in Frankfurt am Main bei den Blockupy-Protesten ganz gezielt provoziert, diskreditiert und an der Wahrnehmung ihrer demokratischen Grundrechte gehindert werden.
Meine Damen und Herren! Für demokratische Prozesse wird aber bereits dann gewissermaßen die Luft dünn, wenn es an der Zivilcourage mangelt, um autoritärem Gehabe und demokratiegefährdenden Ritualen und Machtverhältnissen im Alltag oder im alltäglichen politischen Geschäft zu widersprechen. Ich denke, die Fähigkeit, das Wort Nein auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit, Demokratie im Kleinen.
Bewegen im wahrsten Sinne des Wortes kann nur erlebte und konkrete Demokratie. Keineswegs ist es nach unserer Meinung ausreichend, bei Wählerinnen und Wählern einmal in vier oder fünf Jahren um ihre Stimme zu werben. Wir brauchen sehr viel
Die demokratischen Auseinandersetzungen um das beste Argument, das Abwägen zwischen unterschiedlichen, mitunter auch gegenläufigen Interessen, das Erleben der Konsequenz aus der eigenen Entscheidung, die Erfahrung daraus - all das muss Eingang in den politischen Alltag finden, muss zur demokratischen Alltagskultur - das sind die Mühen der Ebenen - gehören, in der Schule, in den Unternehmen, in den Hochschulen. Das klingt anstrengend, meine Damen und Herren, und das ist es auch.
Ich wünsche mir - diese Bemerkung sei mir trotz des Themas gestattet - in diesem Parlament oft mehr Zustimmung für das, was Willy Brandt einmal als „mehr Demokratie wagen“ bezeichnet hat.
Das Interesse an Mitbestimmung und Teilhabe kann nur durch Mitbestimmung und Teilhabe zurückgewonnen werden. Und, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Erosion von demokratischer Teilhabe und Mitbestimmung ist ebenso in vollem Gange, wenn Menschen zunehmend ausgeschlossen werden von dem, was eine Gesellschaft an gutem Leben zu bieten hätte, wenn sie das untrügliche Gefühl haben, dass es ungerecht zugeht.
Das nährt Resignation. Das nährt den Ruf nach autoritären Verhältnissen, die mit vermeintlich einfachen Lösungen daherkommen und vielleicht auch Erleichterung verschaffen. Deshalb ist eine unserer politischen Prämissen, eine der Erfahrungen aus dem real existierenden Sozialismus: Politische und soziale Rechte sind für eine stabile und lebendige Demokratie zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Das eine bleibt ohne das andere entweder ungelebt oder es führt zu autoritären, unfreien Gesellschaften. Gerechtigkeit ist eine der Geschäftsgrundlagen einer demokratischen Gesellschaft, meine Damen und Herren.
Armut, Ungerechtigkeit und soziale Spaltung untergraben die Demokratie im Land. Um es ganz einfach mit Gottfried Seumes Worten aus dem Werk „Der Spaziergang nach Syrakus“ zu sagen: Wo keine Gerechtigkeit ist, ist keine Freiheit, und wo keine Freiheit ist, ist keine Gerechtigkeit.
Danke schön, Frau Kollegin Bull. - Wir fahren in der Debatte fort. Als nächster Redner spricht für die CDU-Fraktion der Abgeordnete Herr Schröder.
„Der Otto-Brosowski-Schacht im Mansfelder Bergbaukombinat ‚Wilhelm Pieck’ ist durch hervorragende Erfolge im Bergbau weit über die Republik hinaus bekannt geworden. Das reizt besonders die von Adenauer wohlbehüteten, aus der Deutschen Demokratischen Republik vertriebenen Zechenherren. Deshalb trachten sie danach, recht bald wieder die Besitzer der Gruben und Schächte zu werden und die Arbeiterklasse bis aufs Blut ausbeuten zu können. Der von ihnen provozierte Putsch vom 17. Juni ist genug Beweis dafür.
Der ‚Sozialist’ Zobel, der am 1. Mai hinter den Gardinen seines Fensters stand und hasserfüllten Blickes auf die ob ihrer Produktionserfolge stolz demonstrierenden Kumpel blickte, marschierte am 17. Juni Arm in Arm mit den faschistischen Putschisten, Seite an Seite mit den SS-Leuten aus Gerbstedt, die den faschistischen Krawallmarsch veranstalteten.“
Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie merken am Duktus, dass dies ein Zitat war, ein Zitat ausgerechnet aus einer Zeitung, die sich damals „Freiheit“ nannte. Der Artikel stammt vom 26. August 1953 und hatte die Überschrift „Die Parteiorganisation entlarvt die Provokateure des 17. Juni“.