Inzwischen haben auch die Länder gemeinsam mit der KMK und dem BMBF das Thema aufgegriffen und eine breit angelegte Öffentlichkeitskampagne gestartet. Unter dem Titel „Lesen und Schreiben - mein Schlüssel zur Welt“ wird diese Kampagne durchgeführt. Der Startschuss dieser Kampagne fiel übrigens am 22. Oktober 2012 in Magdeburg.
men in Höhe von 1,3 Millionen € initiiert und sich mit den Verantwortlichen im Land auf Themenschwerpunkten für die Projektarbeit verständigt. Diese Schwerpunkte lauten wie folgt: Sensibilisierung von Personen aus Behörden, Institutionen und Arztpraxen mit Publikumverkehr und in Firmen, damit man überhaupt erkennt, wer ein funktionaler Analphabet ist, Durchführung von Kursen sowie die Schulung des genannten Personenkreises zur Verbesserung der Beratung von funktionalen Analphabeten.
Für die kommende EU-Förderperiode von 2014 bis 2020 wurden Mittel in Höhe von 1 Million € mit Kofinanzierungsmitteln des Landes beantragt. Der Vorschlag der Vereinbarung einer gemeinsamen Strategie für Sachsen-Anhalt mit den Sozialpartnern orientiert sich an anderen Ländern.
Die Koordinierungsstelle Alphanetzwerk beim Volkshochschulverband bereitet mit dem Kultusministerium einen Masterplan vor. Ziel des Projekts sind weiterhin der Aufbau von Netzwerkstrukturen mit gesellschaftlich relevanten Institutionen, eine landesweite internetbasierte Informationsplattform sowie die Koordination, Information und Professionalisierung im Bereich Alphabetisierung im Land Sachsen-Anhalt.
Das heißt, wir haben an dieser Stelle eine deutliche Verbesserung der öffentlichen Repräsentanz der Akteure, der Entwicklung von Materialien und des Ausbaus der Beratungstätigkeit. Im Rahmen dieses Projekt wird auch eine statistische Erhebung und Auswertung zum Thema und zur Arbeit durchgeführt.
Wenn man einmal über die Grenzen des Landes schaut, beispielsweise nach England, dann kann man feststellen, dass dort vor zehn Jahren ebenfalls eine Alphabetisierungskampagne und Strategie entwickelt wurde. Seither sinkt die Anzahl der Analphabeten auf der britischen Insel kontinuierlich. Ich wünsche mir, dass wir das für Deutschland und auch für Sachsen-Anhalt in diesem wichtigen Arbeitsfeld ebenfalls sagen können. - Vielen Dank.
Danke schön, Herr Minister Dorgerloh. - Für die Fraktion DIE LINKE spricht nun Frau Abgeordnete Bull.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will Folgendes gleich vorwegnehmen: Ich finde, das ist ein sehr wichtiges Thema. Bis vor fünf Minuten wollte ich auch noch sagen, dass ich es begrüßenswert
finde, dass die Koalitionsfraktionen diesen Antrag eingebracht haben. Ich nörgele an dieser Stelle auch nicht darüber, dass wir im Bildungsausschuss bereits seit einem halben Jahr daran arbeiten, dass wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Zukunft einladen, dass also die zweite Anhörung noch aussteht. Nein, darüber nörgele ich nicht. Das überlasse ich gern Ihnen, wenn wir beim nächsten Mal in gleicher Weise verfahren.
Zunächst fand ich es begrüßenswert. Aber wenn ich nun höre, dass Sie den Antrag direkt abstimmen wollen, dann muss ich sagen, dass das ganz schlechter Stil ist. Wir laden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Level-One-Studie ein und wissen im Grunde genommen schon, wohin wir wollen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Wenn ich das einmal in Relation zu der ausbleibenden Eile setze, die Sie bei diesem Thema im Ausschuss an den Tag gelegt haben, dann finde ich das bemerkenswert. Der Begriff „Eile“ ist hierbei in Anführungsstriche zu setzen.
Wer sind sie, die man in der Sprache des Bildungsbürgertums als funktionale Analphabetinnen und Analphabeten bezeichnet? Es sind Menschen mit einer ausgesprochen hohen sozialen Kompetenz. Das ist auch nicht verwunderlich; denn sie befinden sich in einer Situation, in der sie ein Leben lang das Problem ihres Nichtlesen- und Nichtschreibenskönnens mit viel Anpassungsfähigkeit und Kreativität verbergen mussten.
Es sind Menschen, die in Branchen mit schlechtem Image arbeiten. Dazu hat Herr Wanzek bereits ausgeführt. Es sind Menschen, die in ihrem Leben viele Erfahrungen mit subtilen und offenen Diskriminierungsstrategien machen mussten und sehr viele Erfahrungen der Kränkung erlebt haben. Die meisten dieser Kränkungen passierten wahrscheinlich in der Schule.
Das Interessante dabei ist, dass das ganz offenkundig sehr wenig mit ihrem Leistungsvermögen zu tun hat. Denn davon, dass sie lesen und schreiben lernen können, sind wir alle überzeugt; denn ansonsten müsste man ein solches Programm nicht auflegen.
Es hat vielmehr damit zu tun, dass ihre familiäre und ihre soziale Lebenslage wenig Unterstützung aufgebracht hat, dass sie in Wohnverhältnissen leben, die quasi das Stigma schlechthin waren.
Meine Damen und Herren! Zur Wahrheit gehört auch, dass die Kompetenzen von Pädagoginnen und Pädagogen, mit denen sie ihr Schülerleben lang zu tun hatten, nicht ausgereicht haben, um sie zu stärken, um ihnen Zuversicht zu geben, um diesen Teufelskreis mangelnder Unterstützung zu durchbrechen und um ihnen ein Stückweit Resilienz zu vermitteln. Möglicherweise wurden die Probleme in der Schule noch verschärft.
Wir alle wissen zu wenig über die Mechanismen, über die Lebenslagen und über die konkreten individuellen Probleme. Es bleibt auch ein schwieriges Unterfangen; das liegt in der Natur der Sache. Denn das Vertrauen dieser Menschen zu erlangen, ist für diejenigen, die in vergleichsweise privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind, wie wahrscheinlich die Mehrheit von uns, extrem schwierig. Dieses Vertrauen ist aber Voraussetzung, um ein Stück weit mehr über sie zu erfahren.
Uns allen geht der Begriff „Bildungsferne“ vergleichsweise leicht über die Lippen. Was aber heißt Bildungsferne? - Es ist ein Stück weit eine doppelte Distanz, die damit ausgedrückt wird. Zum einen ist es die Distanz der Betroffenen gegenüber den institutionalisierten Bildungseinrichtungen, wie es Schule ist. Mit anderen Worten: Um keinen Preis der Welt mögen sie in ihrem Leben jemals wieder so etwas wie eine Schule betreten. Allein diesen Umstand muss man sich einmal verdeutlichen. An dieser Stelle hat es die Schule als Bildungseinrichtung tatsächlich geschafft, Neugier und Erkenntnisinteresse zu ruinieren.
Umgekehrt ist es die Distanz der institutionalisierten Bildungseinrichtungen zu den Betroffenen. Mit anderen Worten: Menschen mit einer solchen Biografie merken sehr schnell und vor allem auch sehr verlässlich, ob sie an einer Volkshochschule oder bei einem anderen Bildungsträger wirklich willkommen sind und wirklich wertgeschätzt werden, oder ob diejenigen, die dort beschäftigt sind, etwas anderes im Sinn haben.
All diese Aspekte aufzuarbeiten und aufzubrechen bedeutet Schwerstarbeit, meine Damen und Herren, ein riesiges Maß an Professionalität und immer auch die Bereitschaft von Pädagoginnen und Pädagogen, sich in jeder Minute auch selbstkritisch zu hinterfragen.
Wie sollen solche Veranstaltungen aussehen? - Sie sind sehr zeit- und personalintensiv. Man muss zusehen, dass man Personen innerhalb dieser Milieus für sich gewinnt, dass man Brücken baut, dass man eher mit einer Geh-Struktur daherkommt, als zu erwarten, dass diese Menschen freiwillig kommen.
Man muss sehen, dass man eine sehr ausgefeilte, wahrscheinlich niedrigschwellige methodischdidaktische Strategie an den Tag legt.
Frau Kollegin, die Redezeit wird vermutlich nicht ausreichen, um alle guten Hinweise vorzutragen; denn sie ist bereits zu Ende.
Deshalb zum Antrag selbst. Ich habe es am Anfang bereits gesagt: Ihre La-Ola-Welle in Punkt 1 des Antrages ist überflüssig. Denn zur Wahrheit
gehört auch, dass Sie im Bereich der Erwachsenenbildung zunächst gekürzt haben. Ich wette, dass Sie das wieder tun werden und dass dieses Programm lediglich ein Ersatz für die Kürzungen ist.
Es ist eine Reihe von guten Vorschlägen enthalten. Das will ich gern zugestehen. Unsinnig finde ich Ihren letzten Punkt; denn die Frage der Lehrerfortbildung werden Sie nicht dadurch lösen, dass Sie ein Pflichtmodul einführen.
Hier sind wir im Grunde dabei zu sagen, wie Lehrerinnen- und Lehrerausbildung komplett sein muss, also wie man mit Vielfalt umgeht.
Deswegen werden wir Ihnen nicht zustimmen, sondern werden Ihren Antrag mit Enthaltung quittieren und trotzdem hoffentlich die Arbeit im Ausschuss fortsetzen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bull, wir wissen in diesem Fall genau, wohin wir uns bewegen wollen; es steht in unserem Antrag.
Der Untertitel des Antrags der Fraktionen der CDU und der SPD in der Drs. 6/2250, liebe Kolleginnen und Kollegen, „Alphabetisierung in Sachsen-Anhalt fördern“ könnte auch die Überschrift tragen „Teilhabe fördern“. Das Handicap, keine zusammenhängenden Texte lesen oder schreiben zu können, stellt im Alltag eines in Deutschland lebenden Menschen oft eine unüberwindbare Barriere dar.
Diese Art von Grundbildungs- oder kultureller „Behinderung“ ist nicht sichtbar und meist auch nicht wahrnehmbar. Sie beeinflusst aber häufig den individuellen Lebens- und/oder Berufsweg. Führerschein, Schulabschluss, Lehre stellen oft gravierende Hürden dar. Die Bitten eines Kindes „Papi, lies mir vor“ oder die Unterschrift unter Versicherungsurkunden mit weitreichenden Folgen sind nicht weniger schwerwiegend.
Analphabetismus verhindert in vielen Fällen Teilhabe, für die gerade wir als Politiker und Politikerinnen uns einsetzen sollten und wollen. Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen ist sehr stärk geprägt von schriftlich dargelegten Informationen, ohne die Selbstbestimmung nicht funktionieren kann.
Die gesamtgesellschaftliche Tabuisierung ist häufig die Ursache dafür, dass die Betroffenen sich nicht trauen, ihr Problem zu offenbaren - weder in
der Familie noch im Beruf. Denn Analphabetismus ist keineswegs gleichzusetzen mit Dummheit. Viele Menschen, die nicht lesen und schreiben können, stehen im Beruf ihren Mann oder ihre Frau, leiden aber unter der großen Angst, entdeckt zu werden. Andere werden an einem Schulabschluss, einer Lehre, einer Berufsorientierung gehindert, nur weil sie die erforderliche Kulturtechnik nicht beherrschen.
Im Sinne von Aufklärung und Hilfestellung für die Betroffenen bitten wir um Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön, Frau Abgeordnete Gorr. - Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nun Frau Professor Dr. Dalbert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Bildungsforschung gibt es eine Debatte darüber, ob man beim Erwerb befriedigender Kenntnisse des Lesens und Schreibens nicht die Beweislast umkehren müsste, dass man also sagt: Jedes gesunde Kind muss vom Staat so unterrichtet werden, dass es hinreichend lesen und schreiben kann, weil das ein Grundrecht ist und weil man sonst nicht in der Lage ist, an der Gesellschaft wirklich teilzuhaben, wenn man das nicht kann. Das ist eine Debatte, die da geführt wird.
Es ist ihnen nicht gelungen, diesen Menschen, die die Fähigkeiten dazu in sich tragen, diese Fähigkeiten in ihrem Leben mitzugeben. Darüber reden wir heute. Deswegen - ich verstehe die Ärgernisse über die Ausschussgeschichte, die Frau Bull dargestellt hat - begrüßen wir dennoch diesen Antrag, weil er dieses wichtige Thema aufnimmt. Im Kern begrüßen wir auch den Inhalt des Antrags, dass Sie gemäß dem Vorbild der Bundesebene und des Saarlands zu einer gemeinsamen Strategie zur Bekämpfung des Analphabetismus in SachsenAnhalt kommen wollen. Das begrüßen wir und das werden wir auch durch Zustimmung zu dem Antrag unterstützen.
Die La-Ola-Welle, wie die geschätzte Kollegin Bull das genannt hat: Ich gebe gerne mein Lob und mache meine Verbeugung vor den Trägern der Erwachsenenbildung, die in der Tat hier im Land sehr, sehr gute Arbeite leisten.
Aber die Regierung dafür zu loben, dass sie erst die Mittel kürzt und jetzt einen Weg gefunden hat, sie über den ESF wiederzufinden und da etwas zu tun, das hätte ich mir bei solch einem Antrag auch schenken können.
Ich will einen Punkt aus dem Antrag aufgreifen, den ich ganz spannend finde, Frau Bull. Das ist der fünfte Punkt. Er hat zwei Teile. Da geht es zum einen um die Lehrerausbildung. Dabei geht es in der Tat darum - das haben wir hier schon an völlig unterschiedlichen Stellen diskutiert -, dass wir Lehrerinnen und Lehrer besser befähigen zu dem, was wir den „individualisierten Unterricht“ nennen, also dass man das einzelne Kind wirklich in den Mittelpunkt der Lern- und Lehrbemühungen stellt.
Wenn das gelingt, dann wird sich, glaube ich, auch eine Zahl ändern, die ich sehr spannend finde und die Sie in der Begründung zu Ihrem Antrag ausgeführt haben. 70 % der funktionalen Analphabeten haben einen Schulabschluss. Das heißt, sie sind formal erfolgreich durch die Schule gegangen, und es ist von ihren Lehrern und Lehrerinnen eben nicht entdeckt worden, dass da offensichtlich ein Problem vorhanden ist.