Protokoll der Sitzung vom 12.07.2013

Aber was sind denn funktionale Analphabeten? - Funktionale Analphabeten sind nicht in der Lage, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es im sozialen Kontext als notwendig und selbstverständlich angesehen wird. Funktionale Analphabeten sind Menschen, die zwar Buchstaben erkennen können und durchaus auch in der Lage sind, ihren Namen und ein paar Wörter zu schreiben, die aber den Sinn eines etwas längeren Textes entweder gar nicht oder nicht schnell genug und nicht mühelos verstehen können, um daraus praktischen Nutzen zu ziehen. Eine starre Grenze zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen existiert dabei nicht.

In der besagten Level-One-Studie werden die ersten drei von den fünf Level als funktionaler Analphabetismus gewertet, wobei man grob zusammengefasst sagen kann: Bei Level eins können einzelne Wörter geschrieben werden, bei Level zwei einzelne Wortgruppen, bei Level drei kurze Sätze. Aber: Orthografie und Schriftbild lassen in allen Fällen zu wünschen übrig.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere moderne Welt ist komplex und wird immer mehr über Schriftsprache vermittelt. Deshalb ist Lesen eine fundamentale und alltägliche Kompetenz, die man nicht nur braucht, um Behördengänge zu absolvieren und Anträge und Formulare auszufüllen, sondern die man auch braucht, um einfach nur eine Fahrkarte zu erwerben oder beim Führerscheinerwerb oder um Mails und Zeitungen lesen und verstehen zu können, bei schriftlichen Anweisungen im Beruf, beim Abschließen von Verträgen, ja sogar beim Einkaufen oder um den eigenen Kindern bei den Hausaufgaben helfen zu können.

Es kommt hinzu, dass der Anspruch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer höher wird. Die Anforderungsprofile für Berufe werden immer vielseitiger und verlangen ein immer höheres Bildungsniveau.

Schauen wir doch einmal, in welchen Berufsfeldern die Menschen mit niedriger Grundbildung tätig sind. Es sind Tätigkeiten wie Gartenarbeit, Reinigungsdienste, Sortier- und Verpackungsarbeiten, Gelände- und Außenreinigung, einfache Tätigkeiten in der Gastronomie sowie Haushaltsdienstleistungen. Es sind also hauptsächlich Tätigkeiten im

Dienstleistungsbereich mit vergleichbar niedrigen Löhnen, ungünstigen Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten sowie geringeren beruflichen Aufstiegschancen.

In Anbetracht des immer wieder beschworenen Fachkräftemangels haben wir hier ein beachtliches Potenzial an möglichen Fachkräften, wenn wir nur zielgerichtet motivieren und ergebnisorientiert fördern würden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich das Problem am Beispiel eines Betroffenen skizzieren, von dem ich im Februar dieses Jahres erfahren habe.

Ein Lkw-Fahrer konnte jahrelang seinen Beruf ohne Probleme ausüben; denn man musste ihm nur, bevor er losfuhr, auf der Landkarte zeigen, wo der Ort ist. Aus Erfahrung konnte er sich dann erschließen, wie er fahren musste. Doch in der heutigen Welt der Logistik muss ein Kraftfahrer von Ort A über B und C in der Fläche zurück zu C nach A fahren, und zwischendurch können sich Orte immer wieder ändern. Dies überforderte sein perfektes System.

Wir würden heutzutage unser Navi einschalten. Aber auch hierin liegt schon das Problem: Man muss lesen und es verstehen können, um es bedienen zu können. Sie können sich vorstellen: Dieser Mann übt seinen Beruf leider nicht mehr aus.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es sind solche Schicksale, die wir gemeinsam mit den Wirtschafts- und Sozialverbänden verhindern müssen.

Viele Betroffene schämen sich dafür, dass sie nicht lesen können. Sie halten sich gar für dumm und unfähig, lesen zu lernen. Die Menschen sind aber nicht dumm, nein, sie sind auf ihre Weise intelligent. Stellen Sie sich doch nur die intellektuelle Anpassungsleistung vor, die nötig ist, die Lese- und Schreibschwäche zu verbergen und trotzdem gute Arbeit zu leisten.

Aber diese Menschen belastet auch eine große Unsicherheit. Sie brauchen Hilfe und Bestätigung bei dem langen Weg, als Erwachsener das Lesen und Schreiben zu erlernen bzw. wiederzuerlernen. Wir müssen ihnen Mut machen und vor allen Dingen Strategien entwickeln, die es den Betroffenen ermöglichen, ohne Gesichtsverlust Hilfe zu finden, zum Beispiel bei Alphabetisierungskursen.

Was sind denn nun Maßnahmen? - Zunächst muss man sagen, dass es die richtige Entscheidung des Kultusministeriums war, für die aktuelle EU-Förderperiode 1 Million € zur Alphabetisierung aus ESFMitteln zur Verfügung zu stellen. Aber dann müssten doch jetzt langsam einmal die Projekte genehmigt werden und müsste das Geld fließen.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

Es sind viele gute Initiativen dabei, zum Beispiel ein Projekt der Kreisvolkshochschulen, bei dem Seminarleiter von Alphabetisierungskursen extra für diese Aufgabe qualifiziert werden.

Unsere Verantwortung besteht darin, dafür Sorge zu tragen, dass auch in der nächsten Förderperiode ESF-Mittel zur Alphabetisierung genutzt werden können.

Wie gesagt: Es laufen zwar bei den Volkshochschulen und bei den anderen Trägern der Erwachsenenbildung Alphabetisierungskurse. Aber wenn wir in die Studie schauen, dann stellen wir fest, dass das noch nicht ausreicht und wir noch mehr unternehmen müssen.

So stellt sich also die große Frage: Wie bringen wir funktionale Analphabeten dazu, sich quasi zu outen und Hilfe zu suchen? - Werbungen wie „Schreib dich nicht ab - lern lesen und schreiben“ oder Projekte wie das „Alfa-Telefon“ sind gute Ansätze, aber gerade in Sachsen-Anhalt zu wenig präsent.

Das sind Maßnahmen, die nicht nur den Betroffenen helfen sollen, sondern die generell dazu beitragen müssen, die Gesellschaft für dieses Thema zu sensibilisieren. Dazu braucht es Informationen. Wir brauchen also eine zielgruppenorientierte Medienarbeit, damit Betroffene ermutigt und motiviert werden, aus ihrer Anonymität herauszutreten und an Alphabetisierungskursen teilzunehmen. Öffentlich muss daher immer wieder auf Kampagnen hingewiesen werden. Adressen und Verbände müssen leicht zugänglich sein.

Auch sollten wir dafür werben, die einfache Sprache mehr zu verbreiten und öffentliche Verwaltungen und Behörden zu veranlassen, diese in Broschüren und Veröffentlichungen jeglicher Art anzuwenden. Kleine Lichtblicke gibt es dabei schon. Aber auch wir als Landtag könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn wir bestimmte Zielgruppen tatsächlich erreichen wollen, müssten auch wir unsere Broschüren öfter einmal in einfacher Sprache verfassen.

Ich sage Ihnen jetzt schon: Wenn dieser Antrag beschlossen werden sollte, werde ich den Beschluss in einfacher Sprache auf meiner Homepage veröffentlichen.

(Zustimmung bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wichtigste Maßnahme wird aber sein, einen Grundbildungspakt Sachsen-Anhalt zu schmieden - mit allen den Vertretern, die im Antrag aufgeführt sind.

Nur zusammen können wir für die Betroffenen die landesweiten Strategien und Maßnahmen sowohl kurz- und mittel- als auch langfristig entwickeln und bündeln, um funktionalen Analphabetismus in Sachsen-Anhalt zu verringern und die Betroffenen besser in die Gesellschaft zu integrieren.

Dazu gehört auch, dass wir gemeinsam überlegen, wie man Betroffene besser erkennen kann. In Sachsen gibt es zum Beispiel schon einen Leitfaden für Verwaltungen. Das könnten wir ganz einfach und kurzfristig übernehmen.

In Verwaltungen und Betrieben könnte man darüber nachdenken, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber vor allem die Schichtleiter und die Vorarbeiter in Weiterbildungen ein Modul „Sensibilisierung Analphabetismus“ durchlaufen zu lassen. Daher ist es wichtig, dass wir die Kammern und Wirtschaftsvertreter mit ins Boot, in den Grundbildungspakt holen.

Interessant ist auch das Fazit der Forschungsgruppe „Potenziale der Weiterbildung durch den Zugang zu sozialen Gruppen entwickeln“ aus dem Jahr 2009 und „Bildungsferne - ferne Bildung: Transferprojekt neue Potenziale für die Weiterbildung“ aus dem Jahr 2010, welche festgestellt hat, dass Weiterbildungseinrichtungen mittelschichtorientiert sind. Doch funktionale Analphabeten sind nicht nur in dieser sozialen Schicht zu finden. Sie sind überall zu finden.

Hier müssen also Konzepte angepasst werden. Es muss gelernt werden, Weiterbildung aus der Perspektive des bildungsfernen Bürgers zu verstehen und sich daran zu orientieren, wenn wir bestimmte Zielgruppen erreichen wollen. Weiterbildungseinrichtungen sollten eine aufsuchende Bildungsarbeit entwickeln. Stichworte sind hierbei Vertrauenspersonen oder Brückenmenschen. Denn es existiert immer noch die Hürde, dass Betroffene von sich aus aktiv werden müssen, der Weg zu einer Bildungseinrichtung für sie jedoch unüberwindbar erscheint.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Patentrezept habe ich nicht. Wir müssen auf jeden Fall niedrigschwellige Angebote schaffen, um die Betroffenen zu erreichen. Dazu müssen wir deren Ängste kennen, mit ihnen ins Gespräch kommen und verstehen, welche Hürden es gibt. Dazu rufe ich uns alle auf. Betroffene brauchen Unterstützung und Ermutigung. Sie brauchen auch die zweite oder dritte Chance, um ihre Potenziale ausschöpfen zu können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Fazit lautet wie folgt: Alphabetisierung ist eine gesamtgesellschaftliche Gemeinschaftsaufgabe. Die Hilfe der Familie, der Nachbarschaft, des Freundeskreises, der Kollegen und der Vereine ist genauso wichtig wie eine gemeinsame Strategie der Wirtschafts- und Sozialpartner, um dem funktionalen Analphabetismus gezielt zu begegnen und ihn wirklich zu einem Randphänomen werden zu lassen.

Wir brauchen ein neues Berufsbild in der Pädagogik, das sich speziell mit diesem Betroffenenkreis befasst. An dieser Stelle sind wir in unserem Bun

desland dank der Träger der Erwachsenenbildung schon auf einen guten Weg. Wir müssen dieses Problem verstärkt in der Öffentlichkeit diskutieren und den Betroffenen das ernsthafte Gefühl vermitteln, dass sie erstens nicht alleine sind und nicht allein gelassen werden, dass sie sich zweitens nicht schämen müssen und dass sie drittens nicht zu dumm sind und deshalb die Chance bekommen, lesen und schreiben neu oder wieder neu zu lernen.

Meine verehrten Damen und Herren! Ich will zu denen gehören, die diesen Menschen helfen. Ich hoffe, Sie wollen das auch. Ich bitte daher um die Zustimmung zu diesem Antrag.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Herr Wanzek. - Es gibt eine Anfrage der Kollegin Hohmann. Möchten Sie diese beantworten?

Wenn ich das kann.

Herr Wanzek, wir haben gestern einen Antrag zur Sprachförderung im Kita-Bereich beraten. Wie Sie wissen, benötigen Kinder zum Erlernen der Sprache sieben Basisqualitäten. Können Sie einen Zusammenhang dahin gehend herstellen, dass es in dem Fall, in dem einige dieser Basisqualitäten nicht erlernt werden, zu Analphabetismus kommen könnte?

Diese Frage müsste seitens der Wissenschaft einmal genauer geklärt werden. Ich kann mir vorstellen, dass dies so sein könnte. Aber ich bin zu wenig in diesem Metier zu Hause, als dass ich darauf fundiert antworten kann.

Es gibt eine weitere Anfrage der Abgeordneten Bull. - Frau Kollegin Bull, bitte.

Herr Kollege, ich möchte an Ihre Aussage, Sie hätten kein Patentrezept, anknüpfen. Ich möchte vorausschicken, dass ich ein solches auch nicht habe. Das ist auch ein schwieriges Problem. Deshalb frage ich Sie: Weshalb verzichten Sie auf die Expertise im Bildungsausschuss dazu, zumal wir mitten in den Beratungen dazu sind?

Wir verzichten nicht auf diese Expertise. Aber diesen Antrag wollte ich auch nicht länger warten las

sen. Die Expertise, die wir zur Erwachsenenbildung erwarten, bezieht sich auf die Struktur der Träger der Erwachsenenbildung generell. Daher sehe ich an dieser Stelle keinen Zusammenhang.

Wir wollen zeigen, dass wir jetzt etwas machen. Es gibt in anderen Ländern gute Beispiele, zum Beispiel im Saarland. Lassen Sie uns in unserem Land genauso gut vorankommen.

(Zustimmung bei der SPD)

Danke schön, Herr Kollege Wanzek. Weitere Nachfragen gibt es nicht. - Für die Landesregierung spricht nun Herr Kultusminister Dorgerloh.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herzlichen Dank für diesen Antrag, um das Thema Alphabetisierung auf diese Weise auf die Tagesordnung zu setzen. Durch die leo.-Level-One-Studie liegen seit 2011 erstmals belastbare Zahlen über die Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland vor.

Statt der bislang vom Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung geschätzten vier Millionen Menschen zeigt diese schon genannte Studie, dass funktionaler Analphabetismus kumuliert mehr als 14 % der erwerbstätigen Bevölkerung betrifft. Das entspricht einer Größenordnung von ungefähr 7,5 Millionen funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten in Deutschland. Wenn man versucht, das für Sachsen-Anhalt umzurechnen, kommt man auf eine Größenordnung von ungefähr 150 000 bis 200 000 betroffene Menschen.

Es geht um das Problem, nicht ausreichend lesen und schreiben zu können. Das beeinträchtigt in erheblichem Maße die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Betroffenen und hat auch mit fehlendem Selbstwertgefühl, gesellschaftlicher Ausgrenzung und beruflichen Barrieren zu tun.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Jahr 2011 hat sich die Kultusministerkonferenz an einer nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland beteiligt und ihr auch zugestimmt. In der Beratung der letzten Amtschefkonferenz der KMK wurde der erste nationale Bericht verabschiedet.

Inzwischen haben auch die Länder gemeinsam mit der KMK und dem BMBF das Thema aufgegriffen und eine breit angelegte Öffentlichkeitskampagne gestartet. Unter dem Titel „Lesen und Schreiben - mein Schlüssel zur Welt“ wird diese Kampagne durchgeführt. Der Startschuss dieser Kampagne fiel übrigens am 22. Oktober 2012 in Magdeburg.