Protokoll der Sitzung vom 27.03.2014

„In unruhigen Zeiten bist du der Prügelknabe im Staat. Aber in ruhigen Zeiten ist es nicht anders. Dein Mitbürger, der eben noch nach deiner Hilfe rief, weil man ihn bestohlen hat, wird dich morgen beschimpfen, wenn du ihn bei einem Verkehrsverstoß erwischst. Du muss ja sagen zu deinem Auftrag, damit andere nein sagen können.

Wenn du glaubst, das alles ertragen zu können, dann werde Polizeibeamter; denn man braucht dich. Auch die, die dich heute beschimpfen, brauchen dich morgen wieder. Sie verlangen viel von dir. Du musst ihnen eine Freiheit bewahren, die auch das Recht einschließt, dich zu verachten. Wenn du begreifst, dass diese scheinbar gegen dich gerichtete Freiheit auch deine Freiheit ist, dann wirst du ein guter Polizeibeamter sein.“

Ich kann und muss an dieser Stelle ausdrücklich feststellen: Wir haben in unserem Land viele gute Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte. Deshalb an dieser Stelle die Anerkennung und der Dank unserer Fraktion für die täglich von ihnen geleistete engagierte Arbeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Doch diese Polizistinnen und Polizisten verrichten ihren Dienst unter Rahmenbedingungen, die ihre

Arbeit wahrlich nicht erleichtern; denn sie wurden und werden von einer Reform in die andere getrieben, und zwar jetzt in eine Reform hinein, die einzig und allein dem Diktat des Finanzministers unterliegt und ausschließlich von nackten Zahlen und fiskalischen Aspekten diktiert wird.

Es kann doch nicht sein, dass es Plätze, Orte, Stadtteile und Straßen in unserem Land gibt, in denen Verwahrlosung, Vandalismus und Gewalt zunehmen, in denen sich die Bürgerinnen und Bürger nachts nicht mehr allein auf die Straße trauen und in denen das Sicherheitsgefühl letztendlich auf der Strecke bleibt.

Dabei ist es völlig unerheblich, dass die Statistiken aussagen und belegen, dass zum Beispiel schwere Gewaltverbrechen rückläufig sind. Es geht um das subjektive Sicherheitsgefühl unserer Bürgerinnen und Bürger, das sich oft nicht in Zahlen widerspiegelt. Wer sich - berechtigt oder unberechtigt - im öffentlichen Raum sowie im häuslichen Umfeld nicht sicher fühlt, ist nicht wirklich frei.

Meine Damen und Herren! Die Polizeibeamtinnen und -beamten in unserem Land stehen inzwischen mit dem Rücken an der Wand. Wenn der Finanzminister und der Innenminister nicht von ihren angekündigten Vorhaben hinsichtlich ihrer strukturellen Reformpläne abrücken und nur die fiskalischen Aspekte in den Vordergrund stellen, droht der Kollaps, aber dann für uns alle.

Das Land Sachsen-Anhalt befindet sich auf einem Schlingerkurs und steuert auf eine Polizei hin, die künftig nicht mehr in der Lage sein wird, die öffentliche Sicherheit als originären Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge zu gewährleisten.

Wie sieht die Realität nun aus? - Die Polizeibeamtinnen und -beamten im Land Sachsen-Anhalt arbeiten unter teilweise sehr schwierigen Bedingungen. Schlechte Bezahlung, eine miserable Beförderungspraxis, Großeinsätze, die sie an die Grenzen der Belastbarkeit bringen, und häufige Schichtdienste, die kaum Zeit zur Erholung bieten, lassen Frust und Stress bei ihnen aufkommen. Der Krankenstand legt beredtes Zeugnis davon ab.

Meine Damen und Herren! Auch wir müssen feststellen, dass strukturelle Veränderungen im Bereich der Polizei und darin eingebunden eine Optimierung der derzeitigen Organisation der Behördenstruktur erforderlich sind.

Das heißt für uns konkret: maximal zwei Polizeipräsidien, leistungsstarke Polizeireviere in jedem Landkreis und in den kreisfreien Städten, Revierkommissariate in den größeren Orten und Stationen nur noch dort, wo Revier und Kommissariat räumlich zu weit auseinander liegen. Die Schließung vieler Stationen ist nur die Anpassung an die Realität, weil die meisten Stationen aufgrund des

Personalmangels nur noch auf dem Papier existieren.

Ergänzend dazu kann man dann über die flexiblen Streifenfahrten und die Bereichsbeamten in den Rathäusern nachdenken. Wobei man sich schon verwundert die Frage stellen muss, warum die Bereichsbeamten in den Rathäusern sitzen sollen und nicht in den Kommissariaten, von denen manche nur einige hundert Meter von den Rathäusern entfernt liegen; von der Frage der Finanzierung einmal ganz abgesehen, daneben auch das Landeskriminalamt und die Fachhochschule der Polizei, die Bereitschaftspolizei und das Technische Polizeiamt.

Meine Damen und Herren! Das erfordert eine realistische Personalbedarfsberechnung auf der Grundlage des Aufgabenerledigungskonzeptes und einer Wirtschaftlichkeitsanalyse. Und ja, das bedeutet letztlich auch mehr Neueinstellungen. Denn auch die Reformvorstellungen des Innenministers werden mit dem vorhandenen Personal nicht erledigt werden können.

Die Realität ist doch schon heute, dass überhaupt nicht mehr 6 000 Polizeibeamte tatsächlich zur Verfügung stehen. Das Land Sachsen-Anhalt liegt doch schon längst darunter. In der Regel fehlen in den Behörden ca. fünf und mehr Beamtinnen und Beamte wegen dauerhafter Erkrankungen oder weil sie sich im Vorruhestand befinden.

Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 46 Jahren. Bei Polizeivollzugsbeamten auf Verwaltungsstellen liegt er bei über 55 Jahren. All das wird sich nicht mit den Zielvorgaben des aktuellen PEK lösen lassen, auch nicht mit der Anzahl der geplanten Neueinstellungen.

Ein Problem ist auch der Krankenstand bei den Beamten. Die häufigsten Krankheitsbilder sind Rückenprobleme, psychische Erkrankungen und Augenerkrankungen. Vieles davon ist leider vorprogrammiert. Die Arbeitsplätze von Polizeibeamten werden nicht als PC-Arbeitsplätze anerkannt, das heißt, der Dienstherr muss auch keine besonderen Vorkehrungen treffen, wie zum Beispiel für entsprechende Stühle oder augenschonende Bildschirme bzw. für Vorsorgeuntersuchungen sorgen. Über den Anstieg der Erkrankungen brauchen wir uns dann nicht zu wundern.

Unlängst wurde festgestellt, dass Streifenpolizisten öfter krank sind als der durchschnittliche SachsenAnhalter. Der Krankenstand lag im Jahr 2013 bei über 10 %.

Noch etwas kommt hinzu. Die Polizeibeamtinnen und -beamten müssen einmal im Jahr die Sportnorm erfüllen und entsprechend nachweisen. Dafür sind eigentlich vier Stunden Training im Monat vorgesehen, rein theoretisch. Denn praktisch absolviert werden können diese nicht, das heißt, die

Beamten gehen völlig untrainiert in diese Prüfung. Man muss sich dann auch nicht wundern, wenn nicht nur in den Kriminalfilmen die Kriminellen schneller als die Polizisten sind.

Meine Damen und Herren! Man kann die Kriminalitätsrate auch künstlich sinken lassen. Wenn die Kriminalpolizei aufgrund ihrer sehr schlechten personellen Ausstattung im Grunde nur noch die „Bringe-Kriminalität“ bearbeitet und sich nicht mehr selber die Straftaten „heranholen“ kann, wie zum Beispiel bei der Drogenkriminalität oder auch bei der Umweltkriminalität, dann kann man natürlich sinkende Zahlen vorweisen.

Das erinnert mich dann sehr stark an die in einem Untersuchungsausschuss zu untersuchenden Vorfälle in einem Revier in Dessau, wo man auch nicht so genau hinschauen sollte und das erhoffte Ergebnis bekam.

Meine Damen und Herren! Ein weiteres gravierendes Problem ist die derzeitige Beförderungssituation und die Frage der Dienstpostenbesetzung bei der Polizei. Es fällt schon auf, dass der Beförderungsstau insbesondere bei den Polizeibeamten bis zur Besoldungsstufe A 13 vorhanden ist; dort wurde gerade noch ein Anteil von 20 % befördert. Ab der Besoldungsstufe A 15 ändert sich die Situation; in diesem Bereich beträgt die Beförderungsquote fast 100 %. Das sollte uns arg zu denken geben.

Wenn zum Beispiel Dienstgruppenleiter noch immer Kommissare sind, was eigentlich gar nicht sein darf, dann stimmt etwas nicht im Gefüge. Die Betroffenen müssten alle mindestens Oberkommissare sein.

Wenn auf eine Nachfrage hierzu geantwortet wird, dass nach den entsprechenden Leistungs- und Befähigungsbeurteilungen befördert wird, stellt sich die Frage, warum dann die Kollegen, die ihren Dienst jahrelang beanstandungsfrei auf diesem höheren Dienstposten versehen haben - manche über mehr als zehn Jahre -, nicht befördert und auch nicht entsprechend besoldet werden. Das ist nicht im Geringsten nachvollziehbar und hinnehmbar. Wir können den Unmut und die Wut der Kollegen völlig nachvollziehen.

Hinzu kommt ein regelmäßiges Chaos bei den Ausschreibungen. Niemand braucht sich über die Klageflut zu wundern.

Bei der Frage des Beurteilungswesens stellte es ein Kollege folgendermaßen dar: Um eine A-Beurteilung zu bekommen, müsse man gottgleich sein, für eine B-Beurteilung wie sein Gehilfe und nur eine C-Beurteilung passe auf einen normalen Menschen. Dazu kommen dann noch die prozentualen Vorgaben dazu, wie viele in welcher Kategorie sein dürfen.

Ich könnte an dieser Stelle eine ganze Reihe von konkreten Beispielen nennen, die uns nach der Antwort des Ministers auf die mündliche Anfrage meiner Kollegin Hunger erreicht haben, fast alle anonym - auch das sagt etwas über den Zustand in der Polizei aus -, aber aufgrund der Zeit muss ich das unterlassen.

Doch ich wiederhole hier unsere Forderung, die wir nicht erst jetzt aufmachen: Es muss sich schleunigst etwas ändern. Das sind wir den Polizeibeamtinnen und -beamten schuldig. Sie müssen entsprechend ihrer Arbeit besoldet und befördert werden.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, es gibt Probleme über Probleme. Aber das Problematische dabei ist: Es sind seitens des Innenministers keine Lösungen in Sicht, die wirklich tragfähig wären. Selbst innerhalb der Koalition scheinen die Lösungsansätze nicht tragfähig zu sein, ganz zu schweigen von den öffentlichen Positionierungen der Gewerkschaften.

Sehr geehrter Herr Innenminister, es war mehr als kurzsichtig von Ihnen, die Gewerkschaften nicht rechtzeitig und vor allem überhaupt nicht umfänglich in Ihre Strukturpläne einzubeziehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine Reform innerhalb der Polizei steht und fällt mit der Zustimmung oder Ablehnung durch die Polizeigewerkschaften. Der offene Brief der Polizeigewerkschaften spricht eine deutliche Sprache. Die Probleme werden dort klar benannt und die geäußerten Befürchtungen sind leider höchst real.

Noch ist Gelegenheit, die Entwicklung in vernünftige Bahnen zu leiten. Das hat auch der Ministerpräsident erkannt und die Reform zur Chefsache erklärt. Hoffen wir, dass es hilft.

(Herr Gallert, DIE LINKE, und Herr Henke, DIE LINKE, lachen)

Noch ist es möglich, die Pläne des Innenministers zu stoppen und mit allen Beteiligten vernünftige und realistische Schritte zu entwickeln.

Meine Damen und Herren! Zusammenfassend sage ich Folgendes: Die geplante Polizeireform kann aufgrund des bestehenden und sich noch verschärfenden Personalmangels die Probleme nicht lösen.

Es muss eine realistische Personalbedarfsberechnung auf der Grundlage eines realistischen Aufgabenerledigungskonzepts sowie einer Wirtschaftlichkeitsanalyse erarbeitet werden. Es sind zusätzliche Neueinstellungen vorzunehmen. Der Beförderungsstau ist schnellstmöglich abzubauen. Es sind vor allem der Landtag und die Polizeigewerkschaften in den gesamten Reformprozess einzubeziehen.

Herr Innenminister, in Ihrer Pressemitteilung zur Kriminalitätsentwicklung sagten Sie, dass der organisatorische Schuh für die Polizei mittlerweile zu groß geworden sei. Ich möchte in diesem Bild bleiben: In einem zu kleinen Schuh schmerzen die Füße und man holt sich schlimme Blasen. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Tiedge. - Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Stahlknecht. Bitte schön, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Tiedge, zum wiederholten Male reden wir auch in diesem Hohen Hause über eine erforderliche Polizeistrukturreform. Wir haben unzählige Male im Innenausschuss dazu berichtet. Wir haben sehr viele Gespräche mit den Polizeigewerkschaften geführt. Wir haben sehr viele Gespräche mit betroffenen Polizeibeamten geführt.

Wir haben in einer bis dahin nie dagewesenen Weise eine Transparenz - der Dank dafür gilt den Medien - in dieser Sache gehabt, dass auch die Menschen von Anfang an in diesen Prozess einbezogen waren - immer mit dem Risiko, dass in einer Demokratie, wo Meinungsfreiheit gilt, das, was wir vorhaben, kritisch begleitet wird. Und dafür bin ich dankbar. Das ist, wenn man ein solches Amt innehat, gelegentlich nicht ganz leicht, aber wir haben uns ganz bewusst dafür entschieden.

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Einiges von dem, was Sie vorgetragen haben - nehmen Sie es mir nicht übel - ist auch von Halbwissen getragen. Wir hatten im Jahr 2008 eine Reform, die hat 8 000 Beamtinnen und Beamte im Vollzug vorausgesetzt. Als ich Minister wurde, hatten wir bereits weniger als 7 000, und wir werden im Jahr 2016 - das ist mit den drei Gewerkschaften vereinbart und im Koalitionsvertrag festgeschrieben - 6 000 Beamte haben.

Frau Tiedge, das sind 2 000 Polizeibeamte mehr als in der Struktur, die jetzt läuft. Um ein Bild anderer Art zu verwenden, nicht das mit den Schuhen und den Blasen: Ein Fahrzeug, das für vier Reifen konstruiert ist, fährt eben nicht mit dreien. Und eine Polizeireform, die auf 8 000 Beamte ausgelegt war, funktioniert eben nicht mit 6 000. Insofern nehmen wir mit dieser Reform jetzt eine Anpassung an den tatsächlich vorhandenen Personalschlüssel im Jahr 2016 vor.

Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich dem Finanzminister Jens Bullerjahn, der es durch die Aufstockung um 50 Stellen in diesem Jahr - die Größenordnung für die Jahre 2015 und 2016 werden wir einvernehmlich regeln - ermöglicht, dass wir im Jahr 2016 mit 6 000 Beamten eine Struktur haben werden, die für die Polizei zukunftsfähig und richtungweisend ist. Eine neue Landesregierung hat dann festzulegen, ob sie bei den 6 000 Beamtinnen und Beamten, die wir jetzt gemeinsam garantieren und organisieren, bleiben will. Mein Dank gilt dem Kollegen Jens Bullerjahn.

(Zustimmung bei der CDU, bei der SPD und von der Regierungsbank - Frau Dr. Klein, DIE LINKE: Hätten wir eher haben können!)

Liebe Frau Tiedge, niemand hat gesagt - ich weiß gar nicht, woher Sie das haben -, dass Regionalbereichsbeamte in Rathäusern sitzen müssen. Von „müssen“ haben wir nie geredet. Wir haben gesagt: Wir reden mit den kommunalen Entscheidungsträgern, weil wir in diesem Land die Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit den kommunalen Entscheidungsträgern schaffen. Einen solchen Dialog hat es noch nie gegeben.