Protokoll der Sitzung vom 16.10.2014

aus dem Nichts entstandene Organisation. Im Gegenteil: Sie hat mehrere Vorläufer. Ihr Entstehen wurde durch die seit Jahren andauernde Erschütterung der gesamten Region, durch Kriege und kriegsähnliche Zustände massiv begünstigt und teilweise auch erst ermöglicht.

Im syrischen Bürgerkrieg erlangte der IS als ISIS - Islamischer Staat im Irak und Syrien - im Jahr 2013 internationale Berühmtheit und kämpfte zunächst an der Seite der Freien Syrischen Armee gegen das Assad-Regime. Später wendete sie sich gegen die FSA und bekämpfte sie.

Ende Juni schließlich rief die supranationale Terrormiliz nun unter dem Namen „Islamischer Staat“ oder IS in weiten Teilen Syriens und des Iraks ein Kalifat aus und kämpft mit großer Brutalität gegen die von ihr ausgemachten Ungläubigen.

Opfer dieser Gewaltexzesse werden alle, die als Abweichler von der „wahren Lehre des Islam“ begriffen werden. Im Irak trifft dies die Mehrheit der Bevölkerung, die schiitischen Muslime, die auch in Syrien etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Religiöse Minderheiten wie Jesidinnen und Jesiden, Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen, Mandäerinnen und Mandäer werden zum Konvertieren gezwungen oder getötet.

Der IS ist dabei, seinen selbsternannten Gottesstaat auszuweiten. Dabei ist er in den letzten Wochen in das Hauptsiedlungsgebiet der religiösen Minderheit der Jesiden rund um die Provinzhauptstadt Shingal sowie in die autonomen kurdischen Gebiete eingedrungen. Dabei wurden grauenhafte Verbrechen begangen, Menschen getötet, Mädchen und Frauen vergewaltigt und zu Hunderten verschleppt.

Laut dem UNO-Sonderbeauftragten für den Irak Nikolaj Mladenow entwickelt sich eine humanitäre Katastrophe. Meldungen zufolge sind 200 000 Menschen im kurdischen Teil des Iraks auf der Flucht. Dabei sind schon viele aufgrund von Versorgungsmangel gestorben. Die Zahl der Menschen, die die Region Kobane verlassen müssen und in die Türkei oder auch in kurdische Gebiete des Iraks fliehen, wächst stetig.

Die meisten, teils kurdisch bewohnten und auch politisch von der türkisch-kurdischen Demokratischen Regionenpartei verwalteten und regierten, türkischen Grenzstädte und -dörfer leisten dabei eine sehr große Hilfe. Sie organisieren Flüchtlingscamps und beschaffen Lebensmittel. Sie versuchen, medizinische Versorgung zu gewährleisten und Verwundete aus den umkämpften Gebieten zu holen. Sie versuchen, Familien zusammenbleiben zu lassen und verwaiste Kinder in ihre Obhut zu nehmen.

Diese Hilfe wird vor Ort organisiert und finanziert - wohlgemerkt: nicht von der türkischen Regierung

und - auch darüber mehren sich die Berichte - auch nicht von den türkischen Sicherheitskräften unterstützt. Im Gegenteil: Gerade der Transport der Verwundeten ist eines der größten Probleme, weil der Grenzstreifen zwischen Syrien und der Türkei immer schärfer und immer weiter abgeriegelt wird und teilweise mit Mienen gesicherte Gelände überwunden werden müssen, um überhaupt zu einer medizinischen Versorgung zu gelangen.

Es fehlt an vielem. Vor allem Zelte, Toilettencontainer, Medikamente, Wasser und Babynahrung werden dringend benötigt. Angesichts der sich abzeichnenden langen Dauer der Kämpfe wächst die Angst vor dem kommenden Winter.

Zirka neun Millionen Menschen mussten in den letzten Jahren aus Syrien fliehen; etwa 5,2 Millionen Menschen im Irak sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Hauptlast der aus der Verfolgung durch den IS entstehenden Flüchtlingsbewegungen und der steigenden Flüchtlingszahlen tragen die unmittelbaren Nachbarländer und Regionen. Von fünf Menschen im Libanon beispielsweise ist einer ein Flüchtling.

Und so geeignet das Thema IS und die Situation im Nahen Osten scheinen, auch hier im Landtag Weltpolitik zu diskutieren und die jetzt notwendigen Schritte gegen den IS zu erörtern, will ich ganz klar sagen, dass dies mit dem hier vorliegenden Antrag ausdrücklich nicht unser Ziel ist. Uns geht es darum, hier folgende Fragen zu stellen: Was tut der Westen? Was tut Europa und was können wir aus Sachsen-Anhalt heraus als Teil der Bundesrepublik und als Teil Europas tun? Was müssen wir tun, um Elend und Leid zu mildern?

(Zustimmung bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Dafür gibt es aus unserer Sicht zwei wesentliche Handlungsansätze, nämlich Hilfe vor Ort und Hilfe durch Aufnahme von Flüchtlingen in Europa, auch in Deutschland. Beide Optionen bzw. Handlungsansätze gehören ausdrücklich zusammen, weil angesichts der weltweiten Verteilung von Flüchtlingen, weil angesichts der Verteilung von Wirtschaftskraft das eine auch das andere erfordert.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wer ernsthaft einen relevanten Beitrag dazu leisten will, die Versorgung der Flüchtlinge innerhalb Syriens, im Irak, in den kurdischen Gebieten, in den türkischen Grenzregionen, im Libanon und in den anderen Ländern zu verbessern, der muss auch zwingend anerkennen, dass es notwendig ist, Einreisewege, ja, Fluchtwege nach Europa zu schaffen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Nun ist dieses Anerkenntnis grundsätzlich offenbar durchaus parteiübergreifend vorhanden. Es gibt

durchaus Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge. Die Innenminister der Länder und des Bundes einigten sich im Juni 2014 auf die Aufnahme weiterer 10 000 syrischer Flüchtlinge und von Menschen aus der syrischen Krisenregion in die Bundesrepublik. Insgesamt wurde damit der Aufenthalt von 20 000 syrischen Staatsangehörigen ermöglicht. Das ist gut, das ist notwendig. Aber das reicht eben nicht.

Bei allen Problemen, die wir derzeit in Fragen der Unterbringung in der ZASt, in den Kommunen hier haben, sagen wir auch ganz deutlich: Deutschland ist nicht nur in der humanitären Pflicht, hierbei mehr zu tun und für einen solchen Ansatz auch in Europa zu werben. Deutschland ist auch in der Lage, hierbei mehr zu tun. Auch Sachsen-Anhalt kann das, wenn man die entsprechende politische Priorität setzt.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Politische Priorität ist auch das Stichwort, sich die Haushaltsberatungen auf Bundesebene anzuschauen: Während mit 75 Millionen € zusätzlichen Mitteln zwar eine überplanmäßige Ausgabe bei der humanitären Hilfe im laufenden Jahr bekannt gegeben wurde, wird gleichzeitig - das muss man sich vor Augen halten - über einen Haushaltsplan diskutiert, der für 2015 ernsthaft eine Absenkung der Mittel im Bereich der humanitären Hilfe um die 30 % vorsieht. Das ist doch absurd.

Angesichts dessen, was wir jeden Tag aus den Krisenregionen dieser Welt, insbesondere aber aus Syrien, dem Irak und ihren Anrainerstaaten, erfahren, ist das einfach unverständlich und zeigt, wie notwendig auch die politische Debatte in den Ländern ist.

Wenn wir uns die jetzt laufende humanitäre Hilfe anschauen, zeigt sich auch: Die öffentliche und allgemeine Infrastruktur in den Ländern, die Flüchtlinge aufgenommen haben, ist in keinem guten, oftmals in einem richtig schlechten, desaströsen Zustand.

Die Krise betreffe nicht nur Syrien, sondern auch die Nachbarländer, betonte der Leiter der Delegation der Europäischen Kommission in Syrien und dem Irak Eduardo Fernández-Zincke in der jüngsten Debatte des Europäischen Parlamentes. Lediglich 15 % der drei Millionen registrierten Flüchtlinge lebe in den Flüchtlingscamps, der Großteil lebe in den Städten. Mehr als die Hälfte der humanitären Hilfe von der Europäischen Kommission sei bereits an die Nachbarländer Syriens verteilt worden, um die Flüchtlinge in diesen Ländern zu unterstützen.

Auch Sema Genel, Büroleiterin der Diakonie Katastrophenhilfe Istanbul, betonte, dass die EU lokale öffentliche Infrastruktur, soziale Dienstleistungen und Initiativen der Zivilgesellschaft unterstützen müsse.

Wir greifen mit unserem Antrag diese beiden Handlungsansätze - Hilfe vor Ort und Hilfe durch Aufnahme in Europa - auf und wir tun dies - wenn man sich den Antrag sehr genau anschaut, stellt man das fest - durchaus sehr zurückhaltend.

Der Änderungsantrag der Kollegen von den GRÜNEN deutet an, dass man an dieser Stelle durchaus weitergehen und - wie ich finde, mit gutem Recht und mit großer Berechtigung - weit mehr fordern kann.

Mir und meiner Fraktion fielen durchaus weitere Punkte ein, die wir für richtig hielten, die wir für angezeigt hielten, die wir auch nach wie vor verfolgen. Die Überwindung der Dublin-Verordnung - Sie verweisen mit Ihrem Änderungsantrag darauf, natürlich gehört das in diesen Kontext -, die Öffnung der Grenzen für alle, die Schutz brauchen und für jene, die nicht in die Kategorien bisheriger Aufnahmeprogramme passen, die Absenkung der zahlreichen Hürden innerhalb der Aufnahmeprogramme, ein stärkerer Druck auf die Türkei zur Hilfe vor Ort sind nur einige Punkte, die wir hier sicherlich sehr kontrovers diskutieren würden.

Wir haben mit dem vorliegenden Antrag ganz bewusst darauf verzichtet und uns an einem Antrag unserer Kolleginnen und Kollegen der Bremischen Bürgerschaft orientiert, der dort im Übrigen sowohl von der LINKEN, den GRÜNEN, der SPD als auch der CDU beschlossen wurde.

Wir glauben, damit durchaus Punkte formuliert zu haben, die die gemeinsamen Nenner aller Fraktionen hier im Hause aufgreifen, und haben deshalb bewusst auf darüber hinausgehende Vorstellungen verzichtet.

Lassen Sie uns im Hohen Hause angesichts der täglich schlimmer werdenden Notsituation und der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe einmal übereinkommen und damit einen realen Beitrag zur Verbesserung der Lage leisten und ein dringend notwendiges politisches Zeichen setzen. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Quade. - Ich darf jetzt ganz herzlich Damen und Herren des Seniorenbeirats des Landkreises Harz begrüßen. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Für die Landesregierung spricht jetzt der Minister für Inneres und Sport Herr Stahlknecht. Bitte schön, Herr Minister.

(Frau Budde, SPD: Mit dem Seniorenbeirat kann das so, wie die Gäste aussehen, nicht stimmen!)

Frau Budde hat Ihnen ein Kompliment gemacht. Sie hat gesagt, mit dem Seniorenbeirat könnte das so, wie Sie aussehen, nicht ganz stimmen. Das geben wir einmal so weiter.

(Heiterkeit und Zustimmung bei der LINKEN und bei der SPD)

Der Seniorenbeirat stellt einen Teil der Besucher auf der Tribüne dar. Die anderen Besucher sind immer noch die Damen und Herren aus Halle. Dabei gibt es auch Menschen, die keine Senioren sind.

(Heiterkeit und Zustimmung bei der LINKEN und bei der SPD)

Herr Minister, jetzt haben Sie aber ganz sicher das Wort.

Ich komme jetzt zum Inhalt. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Berichte, die uns täglich über die Gräueltaten der Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien und im Nordirak erreichen, sind unerträglich. Kurden und Angehörige religiöser Minderheiten wie Christen und Jesiden werden gejagt, versklavt, vergewaltigt und auch auf grausamste Weise ermordet. Ihre Häuser und Gedenkstätten, darunter mehr als tausend Jahre alte Kirchen und Klöster werden zerstört.

Dieses brutale Vorgehen hat Methode. Den Kämpfern des IS geht es um die Schaffung eines Staatsgebildes, in dem nur Menschen Platz haben, die ihre radikal-fanatischen Überzeugungen teilen. Deswegen werden Andersgläubige und Andersdenkende systematisch vertrieben. Betroffen sind Volksgruppen, die seit vielen Generationen in Syrien und im Irak leben und ansässig sind.

Aufgrund der Verbrechen des IS sind in der Region mittlerweile viele Tausend Menschen auf der Flucht. Es steht außer Frage, Frau Quade, dass diesen Menschen geholfen werden muss.

Nach meiner Überzeugung muss diese Hilfe aber zunächst einmal vorrangig in der Region selbst verankert sein. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Viele der Vertriebenen wollen eigentlich keine Flucht nach Europa, sondern in ihrer Region bleiben, da sie so schnell wie möglich in ihre Heimatorte zurückkehren wollen. Insofern können wir zweitens mit jedem Euro, der in humanitäre Hilfe vor Ort investiert wird, mehr Menschen erreichen als mit der Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland.

Drittens können Hilfen vor Ort viel schneller wirksam werden; denn die Organisation und Durchfüh

rung von Aufnahmeprogrammen benötigen, wie die bereits laufenden Programme zur Aufnahme von syrischen Schutzsuchenden zeigen, auch bei großem Engagement bei allen beteiligten Behörden einen erheblichen Zeitaufwand.

Das UNHCR hat in den autonomen Kurdenregionen im Nordirak bereits Flüchtlingslager errichtet. Diese müssen zeitnah ausgebaut und für den herannahenden Winter ertüchtig werden.

Ich begrüße es daher, dass sich die Bundesregierung bereit erklärt hat, zügig humanitäre Hilfe in der Region auf den Weg zu bringen. Ich erwarte, dass sich auch andere Staaten und die Europäische Union mit humanitärer Hilfe vor Ort verstärkt einbringen. Diese Flüchtlingskrise kann nur von der gesamten Weltgemeinschaft bewältigt werden. Deutschland kann und wird hierzu einen Beitrag leisten. Wichtig ist aber auch, dass wir uns insbesondere mit unseren europäischen Partnern abstimmen, wie nachhaltige Hilfe in der Region geleistet werden kann.

Im Übrigen gewährt die Bundesrepublik bereits einer großen Zahl von syrischen und irakischen Staatsangehörigen Schutz. Allein von Anfang 2013 bis Ende August dieses Jahres ist die Zahl der sich in Deutschland aufhaltenden syrischen Staatsangehörigen um 48 823 Personen und die Zahl der sich in Deutschland aufhaltenden irakischen Staatsangehörigen um 2 476 Personen gestiegen. Insgesamt leben in Deutschland mittlerweile knapp 90 000 syrische und rund 86 500 irakische Staatsangehörige.