Protokoll der Sitzung vom 01.07.2015

Also: Alternsgerechte Quartiere, in anderen Worten „generationengerechte Sozialräume“, stehen dafür, die Menschen vor Ort darin zu bestärken, gemeinsam älter zu werden. Wir wollen lokale Verantwortungsgemeinschaften fördern. Dann kann das Gemeinwesen - davon bin ich überzeugt - sogar gestärkt aus der demografischen Entwicklung hervorgehen.

Der Quartiersansatz setzt auf eine wohnortnahe Betreuung und Pflege von Unterstützungsbedürftigen. Dafür ist eine vernetzte und kooperative Zusammenarbeit aller Akteurinnen und Akteure notwendig. Dazu zählen professionell ambulant arbeitende Pflegedienste, insgesamt der Gesundheitsbereich, Wohlfahrtsverbände, ehrenamtlich engagierte Verbände und Vereine, die Angehörigen und schließlich, endlich und nicht zuletzt die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers.

Der Quartiersansatz setzt ausdrücklich auf die Beteiligung, die Mitwirkung und die Eigenverantwortung aller Einwohnerinnen und Einwohner, gerade auch der älteren und pflegebedürftigen. Er ist gelebte, emanzipative Altenpolitik.

(Zustimmung von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE)

Wer die Arbeit der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfolgt, wird wissen, wir haben einen Leit

satz, der lautet: Du entscheidest von Anfang an. - Im Kontext der Großen Anfrage, im Kontext des Themas muss man konsequenterweise sagen: Und du entscheidest bis zum Schluss. - Im Sinne unserer Großen Anfrage haben wir deswegen einen Entschließungsantrag formuliert, um das Thema noch weiter nach vorn zu bringen.

Die Zielbeschreibung soll das Land zweifach als Leitbild entwickeln, in der besagten Pflegekonzeption und als Sozialziel. Auf dieses Ziel hat die Landesregierung alle Aktiven im Land einzuschwören. Es reicht nicht, per Gesetzgebung wie mit dem Wohn- und Teilhabegesetz Möglichkeiten zu eröffnen. Das ist ein guter Ansatz. Das Land hat darüber hinaus aber konkrete Ziele zu entwickeln. Hierbei hat eine aktive Entwicklung in Richtung Pflege im Quartier vonstatten zu gehen, die vom Land ausgehen muss.

Zu untersetzen ist dieses Ziel mit folgenden Punkten unseres Entschließungsantrages: Erstens der Ausbau und die inhaltliche Erweiterung der Beratungsstelle „Prävention im Alter“, kurz PiA. Diese Beratungsstelle ist gut. Sie kann aber noch besser werden. Wir wollen sie deshalb inhaltlich weiterentwickeln. Nicht mehr nur - in Anführungsstrichen - die Beratung für bauliche Anpassung und die Wohnberatung sollen dort stattfinden. In Zukunft soll auch zum Thema altersgerechte Quartiersentwicklung beraten werden.

Damit rücken wir nicht mehr nur die Einzelperson in den Mittelpunkt, sondern auch die Kommunen, die sich auf den Weg machen wollen, ihr Gemeinwesen an dieser Stelle zu stärken, die Alterung und Pflege als gemeinschaftliche Aufgabe und Verantwortung begreifen. Für diese Kommunen muss das Land Beratungen anbieten. Es hat zu einer stärkeren Vernetzung beizutragen.

Zweitens die Finanzierung von Quartiersmanagerinnen und -managern vor Ort. Es braucht Personen vor Ort, die sich kümmern. Es braucht Menschen, die die Fäden in einem Quartier zusammenhalten, die alle Aktivitäten, die im Quartier ablaufen, koordinieren.

In Magdeburg gibt es dafür ein gutes Beispiel, die sogenannten Alten- und Service-Zentren. Dort finden Beratungen statt. Es werden Möglichkeiten für Kontakte geschaffen. Sportliche und kulturelle Angebote werden gebündelt. Kurz und gut: Es wird ein soziales Schwerkraftzentrum im Viertel geschaffen. Solche Stellen soll das Land künftig perspektivisch mitfinanzieren.

Es gibt andere gute Beispiele. Von der Stadt Dessau-Roßlau beispielsweise kann ich berichten: Mein Büro befindet sich im sogenannten Johannisviertel. Das hatte das Glück, vier Jahre lang über eine Bundesinitiative einen Quartiersmanager gefördert zu bekommen. Die Kollegen aus DessauRoßlau werden sicherlich bestätigen können, dass

das Quartier in dieser Zeit den Leerstand abbauen konnte, ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln konnte, was man beispielsweise an halbjährlich stattfindenden Festen ablesen kann, die gemeinsam gestaltet werden, die nach außen wirken, dass die Ansiedlungspolitik in dem Quartier sehr nach oben gegangen ist. Es gibt zahlreiche gute Beispiele. Das wollen wir generalisieren.

Drittens die Neufassung der Pflegeverordnung, gerade in einem Land, in dem wir immer wieder die leeren Kassen bemühen, die gar nicht so leer sind, wie wir soeben gehört haben. Trotzdem können wir es uns nicht leisten, Geld zu verschenken, tun dies aber. Es sind jährlich etwa eine halbe Million Euro, die zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements und zur Selbsthilfe vorgesehen wären.

Zwei Drittel der Gelder, die von den Pflegekassen dafür veranschlagt werden, bleiben ungenutzt, schreibt die Landesregierung in der Antwort auf unsere Große Anfrage. Diese Gelder müssen dringend abgerufen und besser eingesetzt werden. Dafür ist unter anderem die Pflegeverordnung an den § 45d SGB IX anzupassen. Seit dem Jahr 2009 steht diese Aufgabe vor uns. Letztmalig wurde die Überarbeitung der Verordnung im Oktober 2014 im Sozialausschuss in Aussicht gestellt. Meiner Kenntnis nach ist in dieser Hinsicht bis heute nichts passiert.

Viertens die Prüfung einer gesetzlichen Verankerung von Pflegekonferenzen wie in NordrheinWestfalen. Wir wollen damit die kommunale Entwicklung der Pflegeinfrastruktur fördern. Wir wollen lokale Vernetzung und Abstimmung ausbauen.

Wir wissen natürlich: Die Zuständigkeit sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Pflege liegt beim Land, was die kommunale Initiative an der Stelle erschwert. Wir scheinen damit bundesweit die Einzigen zu sein, die die Kommunen derart außen vor lassen. Mittelfristig müsste man, glaube ich, auch an der Stelle über Veränderungen nachdenken. Ich will das Ausführungsgesetz hier aber nicht weiter thematisieren, auch wenn wir - das will ich klarstellen - in diese Richtung weiterarbeiten. Es lohnt sich aber, vor Ort durch Pflegekonferenzen einen Austausch und eine Abstimmung zu fördern.

Grundsätzlich findet bei uns im Land zurzeit einzig ein Case-Management statt. Das heißt, sowohl PiA als auch die vernetzte Pflegeberatung zielen einzig auf den Einzelfall ab. Sie bieten die natürlich wichtige Beratung Einzelner. Das soll auch so bleiben; das ist gut und richtig. Es ist aber nicht gut und nicht richtig, das Care-Management zu vernachlässigen; die Situation haben wir aber im Land. Wir brauchen eine Weiterentwicklung der Pflegeinfrastruktur. Eine politische Steuerung für diesen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge ist nicht zu erkennen. Das kann und darf so nicht weitergehen.

Selbst wenn die Wahlen nicht allzu fern liegen und ich mir keine Illusionen über noch stattfindende große Veränderungen mache, muss doch einiges schnell passieren und es kann doch auch noch einiges schnell passieren.

Wir wollen mindestens ein erstes Eckpunktepapier zur Landespflegekonzeption. Wir wollen mindestens erste Gespräche zum alternsgerechten Quartier als Sozialziel. Wir wollen - ganz klar - eine neue Pflegeverordnung.

Und abseits des Quartiers: Wir brauchen unbedingt eine Einzelzimmer-Initiative. Sie werden sich an die Schlagzeile „Niemand will im Mehrbettzimmer sterben“ in der „Mitteldeutschen Zeitung“ erinnern. Das ist sicherlich sehr plakativ. Ich glaube aber, dass die Dreibettzimmer - 73 sind es in diesem Land - deutlich zu viele sind. Es gibt in einem Seniorenheim sogar ein Vierbettzimmer.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)

Die 45%-Quote an Doppelzimmern darf hier nicht Schlusspunkt der Entwicklung sein.

Ich habe einmal nach Baden-Württemberg geschaut, weil das sonst die CDU-Fraktion immer so gern tut. Da hört mir im Moment zwar keiner zu, aber vielleicht tun dies andere. Das Land BadenWürttemberg hat inzwischen eine gesetzliche Verpflichtung erlassen, bis zum Jahr 2019 zu 100 % Einzelzimmer einzuführen. Das ist, glaube ich, das Ziel, das vorgegeben ist, das vorgegeben sein sollte.

Ich weiß und bin mir dessen bewusst, dass das für unsere Heimträger eine Herausforderung ist. Daher wollen wir zu Anfang einen Verständigungsprozess beginnen. Wir wollen statt strikten Vorgaben eine Arbeitsgruppe, die sich diesem Ziel widmet. Aber: Die 100 % müssen das Ziel sein.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! „Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter“, so lautet der Titel unserer Großen Anfrage. Das sollte die Maxime unserer Landespolitik sein.

(Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff: Ist sie!)

In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke sehr, Kollegin Lüddemann. - Für die Landesregierung spricht Minister Bischoff.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Thema „Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter“ richtet mit insgesamt 52 Fragen den

Blick auf drei große Themenkomplexe: erstens stationäre Alten- und Pflegeheime sowie moderne Wohnformen, zweitens entlastende und unterstützende Dienste für pflegende Angehörige und zum Schluss die alternsgerechte Quartiersentwicklung.

Beim Wort „altern“ kann ich vermuten, was sich dahinter verbirgt. Das bedeutet nicht nur „altersgerecht“. Der Mensch wird ab dem Zeitpunkt der Geburt jeden Tag einen Tag älter. Die alternsgemäße Quartiersentwicklung betrifft also, wenn man das miteinander vergleicht, auch die Jüngeren. Deshalb kann man es nicht nur unter dem Pflegeaspekt sehen, sondern muss es auch unter dem viel weiteren Aspekt von Inklusion sehen. Das ist aber so in den Formulierungen - komme ich gleich noch darauf - nicht zu erkennen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Aber richtig ist, dass man den Blick etwas weitet. Ich bin total überzeugt davon und ein Fan davon, dass wir aufpassen müssen, dass wir nicht in eine Struktur laufen: Wir machen betreutes Wohnen, wir machen Wohnformen für Ältere und vernachlässigen automatisch den guten Gedanken der Inklusion. Denn die Frage stellt sich den Älteren und auch mir: Wer möchte denn im Alter nur unter Alten leben?

(Zustimmung von Staatsminister Herrn Ro- bra)

Wer möchte, dass Behinderte nur unter Behinderten leben, Familien mit Kindern nur unter Familien mit Kindern leben? Sondern genau in diesen „Mischformen“, dass Jung und Alt, Mann und Frau, Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben, erschließt sich der Sinn einer alternsgerechten Struktur von Wohnformen.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD, und bei der LINKEN)

Im ersten Komplex werden die Situation in Alten- und Pflegeheimen dargestellt sowie die Entwicklung von Umbaumaßnahmen zu modernen und möglichst individuellen Wohnformen aufgezeigt. Skizziert werden dabei die begrenzten landesrechtlichen Möglichkeiten der Einflussnahme.

Da haben Sie Recht. Zukünftig sind die Kommunen auch nach den Ergebnissen der Bund-LänderArbeitsgruppe immer mehr in ihrer Verantwortung gefragt; denn die demografische Entwicklung macht es notwendig, alle Bereiche - das habe ich eben gesagt - alternsgerechten Wohnens zu berücksichtigen und dabei auch regional vernetzte Strukturen mit zu beobachten. Das kann man in manchen Ländern auch sehen, weil die Bedürfnisse nicht nur der Betroffenen, sondern auch der Angehörigen, der Eltern, mit berücksichtigt werden müssen. Wir können dies nicht nur isoliert für eine Gruppe sehen, auf die wir gerade im Fokus haben.

Der zweite Komplex zeigt die Vielzahl von Beratungs- und Unterstützungsangeboten, die Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in Anspruch nehmen können. Das Modell der vernetzten Pflegeberatung wird in Sachsen-Anhalt praktiziert. Das haben wir anders gemacht als andere Länder. Das wurde auch schon vor meiner Zeit vom Landtag so abgesegnet.

Meiner Ansicht nach hat sich das bewährt, dass die vorhandenen Strukturen mit allen Trägern vernetzte Beratung anbieten. Da gab es das Modellprojekt der Landesvereinigung für Gesundheit, bei der es in den letzten Jahren gelungen ist, dass nach einer Steigerung - es hat eine Weile gedauert - niedrigschwellige Betreuungsangebote

nunmehr landesweit vorhanden sind.

Dann gibt es noch das Beratungsnetzwerk des Vereins „Prävention im Alter“, wo diese neuen Wohnformen vorgestellt werden und dazu beraten wird. Ich finde es besonders wichtig - denn ich bin ja auch ein bisschen unterwegs auf dem Gebiet -, dass auch jüngere Leute, die sich schon mit 50 oder 60 Jahren vorbereiten und sagen, wir wollen anders leben, Familie gestaltet sich anders, Beratung brauchen. Das fängt wirklich an damit: Wo kann man das machen? Wie kann man das machen? - Teilweise gibt es in Städten wie Leipzig und Berlin sogar Bauberater, Architekten, die ihnen zur Seite gestellt werden, um einmal durchzuexerzieren, wie so etwas funktionieren kann, es gibt private Initiativen zur Förderung, genossenschaftliche sowieso.

Da habe ich übrigens mit den Wohnungsgenossenschaften in den letzten Jahren immer so ein bisschen die Auseinandersetzung gehabt. Die haben gesagt: „Sozialminister, du kannst uns doch mal ein bisschen fördern. Wir haben betreutes Wohnen, und da müssten so etwas wie Beratungs- und Begegnungsstellen mit hinein oder Ähnliches.“ Denen habe ich gesagt: „Ihr könnt doch auch einmal Wohnformen probieren, die generationenübergreifend sind“.

Die gibt es übrigens. Die findet man überall in kleineren oder größeren Städten. Das machen kommunale Wohnungsverwaltungen, aber auch private, und das zu fördern und zu unterstützen halte ich für richtig.

Der dritte Komplex beschäftigt sich mit den Fragen der Quartiersentwicklung, wo die Zuständigkeit der Kommunen nach vorne geschoben wird. Ich würde sagen, das sind so die Fragestellungen, die enthalten sind.

Sie haben noch ein paar Dinge angesprochen bei den Bund-Länder-Arbeitsgruppen. Vielleicht müsste jemand noch einmal die Frage stellen, wie viele es da gibt. Wenn wir die alle bestücken wollten, so viel Personal hätte ich gar nicht.

Wir sind bei bestimmten Arbeitsgruppen, wie bei der Pflege, mit dabei. Bei manchen wird ein Losverfahren durchgeführt, damit die Arbeitsgruppen nicht zu groß sind, wie beim Krankenhausgesetz. E ist es sehr unterschiedlich. Aber wir sind auf Arbeitsebene natürlich vernetzt, weil wir wissen wollen, was dort läuft.

Ich will etwas zum Entschließungsantrag sagen. Da wird es konkreter, darin stehen die Forderungen nach einer Landespflegekonzeption, die diese alternsgerechte Quartiersentwicklung fördert und diese auch in den Sozialzielen des Landes verankert wissen will.

Um dieses Antragsziel umzusetzen, bedarf es meines Erachtens nicht der geforderten Erarbeitung einer neuen Landespflegekonzeption. Man kann in andere Länder gucken, wie die das machen, noch dazu, wenn man eine besondere Beziehung dorthin hat. Man kann gucken, wie es in Baden-Württemberg geht und wie in Sachsen-Anhalt. Wir haben mit einer bestimmten Entwicklung etwas anderes gemacht, wo andere Länder wieder sagen: Hat Sachsen-Anhalt gar nicht schlecht gemacht.