Protokoll der Sitzung vom 23.06.2020

An Schlussfolgerungen aus dem Terroranschlag in Halle arbeiten wir beispielsweise als Parlament im Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz. Wir werden aber auch darauf schauen müssen, ob wir genug tun, den Morast trockenzulegen, aus dem heraus solche Taten entstehen.

Hierbei sehe ich durchaus noch Handlungsbedarf. Zum Beispiel haben wir in SachsenAnhalt nach wie vor keine Schwerpunktstaatsanwaltschaft für den Bereich der sogenannten Hasskriminalität. Aber gerade in diesem Bereich muss die Strafverfolgung deutlich konsequenter werden.

Die Behörden in Sachsen-Anhalt stehen in der Verantwortung, dass die juristische Aufarbeitung des Falles reibungslos vonstattengeht. Das schulden wir zuallererst den Angehörigen der Todesopfer. Es muss aber auch das Zeichen an die Welt gesendet werden, dass wir uns der ganzen Dimension der in Rede stehenden Tat bewusst und der daraus erwachsenden Verantwortung gewachsen sind.

Vor diesem Hintergrund haben der Fluchtversuch des Täters und die in der Folge zutage getretenen Versäumnisse dem Ruf des Landes SachsenAnhalt großen Schaden zugefügt.

Nach bisherigem Sachstand ist festzustellen, dass der Ausbruchsversuch des Täters von Halle und die nicht angemessene Informationspolitik des Justizministeriums im Anschluss das Resultat - die Ministerin hat darauf verwiesen - von individuellem Fehlverhalten, aber auch von systematischen Missständen war.

Auf der Ebene der Justizvollzugsanstalt hat man die Notwendigkeit einer konsequenten permanenten Überwachung des Inhaftierten offensichtlich falsch eingeschätzt und senkte die Vorgaben ab. Bis heute ist unklar, ob dies mit stillschweigender oder ausdrücklicher Billigung des Hauses geschah.

Hinzu kam, dass der Inhaftierte schlicht unbeaufsichtigt blieb. Das allein ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Die Tatsache, dass man den Fluchtversuch als ein Ereignis einschätzte, das nicht von öffentlichem Interesse sei, spricht in negativer Hinsicht Bände.

Die Ministerin muss sich die Frage gefallen lassen, ob man bei der Unterbringung des wichtigsten Strafgefangenen des Landes genau genug hingeschaut hat. Die Unzulänglichkeiten hätten auffallen müssen und sie wären aufgefallen, wenn eine regelmäßige Berichtspflicht durch den ehemaligen Staatssekretär angeordnet worden wäre.

Wie andere Beobachterinnen und Beobachter des ganzen Vorganges auch, war ich überrascht von dem geringen Interesse der Ministeriumsspitze an den Haftbedingungen des Attentäters von Halle. Ich begrüße es ausdrücklich, dass sowohl auf der Ebene der Justizvollzugsanstalt als auch an der Spitze des Ministeriums personelle Konsequenzen gezogen wurden.

Ich bin dabei ausdrücklich froh, dass es nicht bei der Versetzung der stellvertretenden Anstaltsleiterin geblieben ist. Man hätte es als ein Bauernopfer empfinden müssen. Denn es liegt doch recht eindeutig ein Organisationsversagen auf höherer Ebene vor, für das politisch Verantwortung zu übernehmen war. Die Ministerin steht politisch nunmehr unter Bewährung.

Der Nachfolger des bisherigen Staatssekretärs hat die anspruchsvolle Aufgabe vor sich, die richtigen Lehren aus diesem Vorfall zu ziehen. Denn eines ist klar: Im Zusammenhang mit diesem Gefangenen und seinem Strafprozess darf es keine weiteren negativen Schlagzeilen mehr geben. Sachsen-Anhalt muss gewährleisten, dass der vor dem OLG Naumburg zu führende Prozess dem internationalen Interesse und der Bedeutung des Falls angemessen durchgeführt werden kann.

Neben einer gründlichen Überarbeitung der Kommunikationswege zwischen den Justizvollzugsanstalten und dem Ministerium wird als Konsequenz aus diesem Fall wohl auch die Personalsituation in den Haftanstalten zu diskutieren sein. Denn einer der Gründe für diesen Ausbruchsversuch scheint schlicht eine personelle Unterbesetzung zu sein.

Dass wir im Strafvollzug mehr und vor allem auch besser ausgebildetes Personal benötigen, ist keine ganz neue Erkenntnis. Zudem glaube ich, dass die Möglichkeiten von pädagogischen und sozialarbeiterischen Kooperationen mit Expertinnen und Experten außerhalb der Haftanstalten stärker genutzt werden sollten, um neue und innovative Konzepte zu entwickeln.

Meine Damen und Herren! Wenn wir heute anlässlich eines Ausbruchsversuches über den

Strafvollzug in Sachsen-Anhalt sprechen, dann reden wir mit gutem Grund über Fragen der Sicherheit und der Überwachung eines schweren Gewalttäters. Aber eigentlich wollen wir heute nicht nur über den Attentäter von Halle sprechen, sondern über den Strafvollzug im Allgemeinen.

Der in U-Haft sitzende Attentäter von Halle steht nicht stellvertretend für alle Strafgefangenen. Es wäre daher eine falsche Konsequenz, nun auf breiter Front gegenüber allen Strafgefangenen mit noch mehr Kontrolle, mehr Sicherheitstechnik oder noch mehr Einschluss zu reagieren. Denn damit wäre dem vordersten Ziel des Strafvollzugs, der Resozialisierung, nicht gedient.

Diejenigen, die sich in der Haft eine zweite Chance erarbeiten wollen, dürfen nicht in Kollektivhaftung genommen werden. Freizeit-, Arbeits-, Bildungs- und therapeutische Angebote sind keine falsch verstandene Mildtätigkeit, wie es zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter einer vermeintlich harten Linie gegen das Verbrechen gern behaupten. Ich glaube, man tut Herrn Lehmann kein Unrecht, wenn man ihn heute hier so verstanden hat.

Darum geht es beim Strafvollzug nicht. Es geht um Resozialisierung. Es muss darum gehen, Menschen in die Gesellschaft zu reintegrieren.

Am besten bekämpft man das Verbrechen durch Prävention, also im Wesentlichen durch soziale Arbeit. Bei denjenigen, die bereits straffällig geworden sind, gilt es, das Ziel der Resozialisierung wirklich ernst zu nehmen und einen Rückfall in die Kriminalität zu verhindern.

Hierbei gehen Anspruch und Wirklichkeit in der Bundesrepublik allgemein, besonders aber auch in Sachsen-Anhalt leider weit auseinander. Aus meiner Sicht ist es daher ein lohnenswertes politisches Projekt für die nähere Zukunft, den Strafvollzug in Sachsen-Anhalt insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. Ich bin froh, dass wir dazu jetzt auch Schritte miteinander gehen.

Die Kollegin Eva von Angern hat dafür hier im Hause bereits Kriterien in den Blick genommen. Ich bin ausdrücklich dankbar dafür. Denn ich glaube, wir brauchen tatsächlich einen harten Blick auf die Zahlen.

Wir müssen schauen, an welchen Stellen wir noch nicht so gut sind, wie wir es sein müssten. Was sind Punkte, an denen wir in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren wirklich arbeiten können? Worin müssen wir uns strukturell und baulich verbessern? - Wir haben Dinge im Blick.

Ich glaube, niemand von uns ist dagegen, dass es einen Neubau einer Justizvollzugsanstalt gibt. Aber unter welchen Bedingungen dieser Neubau erfolgt, welche Einrichtungen es dort zu geben

hat und wie wir sozialtherapeutische Angebote realisieren wollen, sind alles Fragen, die wir neben der Sicherheit gleichberechtigt in den Blick nehmen müssen.

Wir müssen uns nämlich fragen: Was tun wir über den reinen Freiheitsentzug hinaus? Tun wir genug, um kriminelle Karrieren zu beenden? Strafen wir nur oder eröffnen wir auch Perspektiven? Zeigen wir Wege hinaus aus der rechtsextremen Szene oder anderen Verstrickungen auf? Vermitteln wir jungen Menschen gewaltfreie Konfliktlösungsmechanismen? Bereiten wir diejenigen, die ihre Strafe in Kürze abgesessen haben werden, gut genug auf das Leben danach vor?

Im Strafvollzug liegt immer auch eine pädagogische oder sozialarbeiterische Chance. Wir als Gesellschaft lassen diese Chance aber viel zu häufig ungenutzt verstreichen. Es liegt in unser aller Interesse, hierin besser zu werden.

Das bedeutet, dort zeitnah deutliche Konsequenzen zu ziehen, wo Strafe angebracht ist. Sie muss aber immer auch mit einem Hilfsangebot verbunden werden. Alles andere verschlimmert die bestehenden Probleme nur weiter. Wegsperren allein ist keine Lösung.

Ich denke, dass es an der Zeit ist, grundsätzlicher über die Art und Weise des Strafvollzuges nachzudenken. Es ist tragisch, dass es dazu dieses Ereignisses bedurfte. Ich glaube aber, dass es gleichzeitig auch eine Chance ist, die wir als Landtag nutzen sollten.

Ich entnehme den ersten Äußerungen, die ich vom neuen Staatssekretär Herrn Molkenbur vernehmen konnte, dass er bereit ist, diesen Weg mit uns als Parlament zu gehen. Ich will für meine Fraktion ausdrücklich sagen: Wir wollen diese Zusammenarbeit gemeinsam organisieren. Wir wollen den Strafvollzug in Sachsen-Anhalt besser machen. - Vielen herzlichen Dank.

(Zustimmung)

Vielen Dank, Herr Abg. Striegel. Ich sehe keine Wortmeldungen. - Somit kommen wir zum nächsten Debattenredner. Für die CDU-Fraktion spricht der Abg. Herr Kolze. Sie dürfen jetzt an das Rednerpult kommen. Sie haben das Wort Herr Abgeordneter, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Anschlag in Halle im letzten Jahr hat weltweit für Entsetzen gesorgt und beschäftigt den Landtag von Sachsen-Anhalt nachhaltig. Der Untersuchungsgefangene Stephan B. wird sich für seine schrecklichen Taten

vom Oktober des letzten Jahres verantworten müssen.

Das Vorkommnis, dass Stephan B. für fünf Minuten seinen Fluchtabsichten nachkommen konnte, ist nicht nur ein misslicher Umstand. Vielmehr muss man eingestehen, dass dieses Vorkommnis dem Ansehen unseres Justizvollzugs schwer geschadet hat.

Der Vollzug der Untersuchungshaft ist seiner Aufgabe bei Stephan B. kurzzeitig nicht nachgekommen. Das hätte nicht passieren dürfen. Das muss ich an dieser Stelle ganz klar sagen.

Alle Beteiligten, der Anstaltsleiter, die Bediensteten und nicht zuletzt die Verantwortungsträger im Justizministerium, bedauern diesen Vorfall zutiefst. Frau Ministerin hat in der Pressekonferenz am 9. Juni die Öffentlichkeit umfassend informiert, auch wenn das von den Mitgliedern des Hohen Hauses, die bei der Pressekonferenz anwesend waren, als ein Affront gegenüber dem Parlament gewertet worden ist.

Frau Ministerin hat für den gesamten Justizapparat in Sachsen-Anhalt um Entschuldigung für den Fluchtversuch gebeten und eingestanden, dass das Vorkommnis Angst und Schrecken bei den Hallensern und den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden wachgerufen hat.

Meine Damen und Herren! Wir haben unverzüglich - übrigens auf Antrag meiner Fraktion hin - am Donnerstag und am Freitag der vorletzten Woche eine Sondersitzung des Rechtsausschusses durchgeführt. Die Ausschussbefassung werden wir an diesem Freitag fortsetzen.

Wir haben es eben anders gemacht als die Antragstellerin, die Fraktion DIE LINKE, die sehr schnell ihre Rücktrittsforderungen stellte und nunmehr eine von der AfD-Fraktion beantragte Sondersitzung zum Thema Abgeordnetendiäten nutzt, um eine Aktuelle Debatte zu dem Beratungsgegenstand zu führen, den wir schon in zwei öffentlichen Sitzungen des Rechtsausschusses eingehend behandelt haben.

Meiner Fraktion ist sehr daran gelegen, den Fluchtversuch sorgfältig parlamentarisch aufzuarbeiten, zu untersuchen und anschließend zu bewerten. Dafür hätte es der von Ihnen beantragten Debatte jedoch nicht bedurft.

(Zustimmung)

Im Rechtsausschuss wurde allen Beteiligten die Gelegenheit gegeben, sich umfassend zu erklären. Wir haben im Zusammenhang mit der Behandlung des Selbstbefassungsantrages Aktenmaterial angefordert, uns die Aufzeichnungen der Videotechnik angeschaut sowie einen minutiösen Bericht der Anstaltsleitung und den aktuellen

Sachstand zu den Ermittlungen zur Kenntnis genommen.

Fest steht, dass Stephan B. zu keinem Zeitpunkt die Flucht gelungen wäre. Es ist ein Vorfall, aber ein untauglicher Fluchtversuch.

Wir haben uns im Rechtsausschuss weiterhin intensiv damit befasst, welchen Maßgaben der Gefangene bei Bewegungen innerhalb der Anstalt, zum Beispiel zum Freistundenhof, unterlag. Wir haben uns intensiv mit den Sicherheitsverfügungen der Anstalt und den Erlassen des Ministeriums auseinandergesetzt.

Bei der Untersuchung der Ursachen für den Fluchtversuch haben wir eines festgestellt: Es ist ganz egal, ob der Untersuchungshäftling von einem oder von zwei Justizvollzugsbediensteten zu begleiten gewesen wäre. Wenn nur einer der Justizvollzugsbediensteten auf dem Freistundenhof oder zumindest in unmittelbarer Nähe geblieben wäre, dann wäre es Stephan B. nicht gelungen, den Sicherungszaun des Freistundenhofes zu überklettern. Er hätte es wahrscheinlich nicht einmal versucht.

Keine Frage: Die Justizvollzugsbediensteten in Sachsen-Anhalt leisten unter oft schwierigen Bedingungen gute Arbeit. Es darf aber nicht passieren, dass ein Schwerpunktgefangener, d e r Schwerpunktgefangene in Sachsen-Anhalt, auf dem Freistundenhof allein gelassen wird und man anderen Tätigkeiten, zum Beispiel der Beaufsichtigung von Malerarbeiten durch andere Gefangene, nachgeht.

Es darf nicht passieren, dass ein solches Vorkommnis bei einem Schwerpunktgefangenen, das geeignet ist, in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen, nicht als ein schwerwiegendes Ereignis eingestuft und nicht so behandelt wird.

Es darf nicht sein, dass nicht unverzüglich ein schriftlicher Bericht an den Anstaltsleiter und das Ministerium seinen Weg nimmt. All diese Punkte sind jedoch nicht parlamentarisch, sondern dienstrechtlich aufzuarbeiten. Dies gilt im Übrigen für die gesamte Verantwortungskette in der Anstalt.

Wir tun gut daran, uns diesbezüglich nicht einzumischen und Zurückhaltung zu üben, auch im Interesse der Bediensteten. Dies gebieten die Rechtsstaatlichkeit und der Anstand.