Verehrte Abgeordnete, wir vermissen sogar vollständig den Osten. Mit Verlaub: Das unterstreicht nicht nur dick und fett die im Koalitionsvertrag bereits ersichtliche Ostphobie, nein, es ist zudem eine Ohrfeige für das gesamte Generationenprojekt Wiedervereinigung.
Wenn sich unsere Kanzlerin der schweren Herzen Angela Merkel dann noch hinstellt und der Presse auf Nachfrage sichtlich ungeschickt einzureden versucht, dass kein CDU-Ostminister auf der Kabinettsliste stehen müsse, da sie doch in ihrer Person den Osten vertrete und repräsentiere, dann ist das ein echter Treppenwitz und eine bodenlose Unverschämtheit.
Diese Frau Merkel steht mittlerweile sowieso nur noch für eines, nämlich für sich selbst und für sonst gar nichts.
Ein weiteres Mal spricht die Bundesregierung im Allgemeinen von einem zukünftig besseren Miteinander und spielt einander aber gleichzeitig gegeneinander aus.
„Wir wollen den Bundestag wieder zum zentralen Ort der gesellschaftlichen und politischen Debatte machen.“
Ich sehe keine Fragen. Wir können in der Debatte fortfahren. Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Abg. Frau Lüddemann das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sie werden möglicherweise verstehen, dass ich der positiven Bilanz, die unser Ministerpräsident und die geschätzte Kollegin Pähle hier vorgetragen haben, einige wenige kritische Anmerkungen hinzufügen möchte.
(Zustimmung von Sebastian Striegel, GRÜ- NE - Dr. Katja Pähle, SPD, lacht - Rüdiger Erben, SPD: Einige wenige!)
Dann macht sich das Bild auch wieder rund; denn an dieser Stelle kann ich nur in der neudeutschen Hashtag-Sprache sagen: nicht mein Vertrag. Ich habe also einige Anmerkungen.
Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Wenn man sich diesen Vertrag tatsächlich anguckt, stellt man fest, wir sind weit weg von Verhöhnung, Zumutung oder struktureller Benachteiligung. Das ist alles Nonsens.
Nichtsdestotrotz: Aus grüner Sicht kann ich nur ganz klar feststellen, dass die große Zukunftsfrage nicht angefasst wird. Das ist dramatisch; denn der Slot zur Begegnung der Klimakrise schließt sich in drei bis fünf Jahren. Die Klimakrise wartet nicht, bis wir eine handlungsfähige, an dieser Stelle wirklich auch zukunftsfähige Bundesregierung haben. Das ist aus grüner Sicht mehr als bedauerlich.
Bei dieser oder auch bei der Frage, wie schaffen wir gleichwertige Lebensverhältnisse, oder bei der Frage, wie gelingt der Strukturwandel nach dem Kohleausstieg - Schwarz-Rot fehlen die Ideen; stattdessen bildet man Kommissionen.
Die GroKo hat in der letzten Legislaturperiode ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Sonst könnte man den Bürgerinnen und Bürgern heute schon ganz konkrete Maßnahmen präsentieren und diese dann in den noch verbleibenden dreieinhalb Jahren umsetzen.
Wenn der Koalitionsvertrag so viel Gutes für Ostdeutschland enthält, warum sucht man so lange und bisher offiziell vergeblich bei CDU und SPD nach einem Gesicht, das sich in der Regierung um diese Belange kümmert? Es braucht an entscheidenden Stellen Personen, die die Lebensverhältnisse, Gegebenheiten und Besonderheiten der ostdeutschen Länder kennen. Das ist eine
Machtfrage; denn es geht um die Beeinflussung von Entscheidungen und um das Verteilen von Ressourcen.
Unabhängig von der Person, die Angelegenheiten der ostdeutschen Länder stellen eine Querschnittsaufgabe dar und gehören als Chefsache ins Kanzleramt.
Ich will meine Kritik an zentralen Politikfeldern exemplarisch darstellen. Erstens, klar, hier im Hohen Hause. Wir brauchen Strukturförderung zur Überwindung der Strukturschwäche der neuen Länder.
„Um die flächendeckende Strukturschwäche insbesondere in den neuen Bundesländern zu überwinden, ist die Förderung in den strukturschwächsten Regionen durch eine Abstufung der Fördersätze zu intensivieren und bei der Mittelverteilung angemessen zu berücksichtigen.“
Allerdings - das gehört zur Wahrheit dazu - sah bereits der alte Koalitionsvertrag vor, eine Neukonzipierung einer gesamtdeutschen regionalen Strukturpolitik voranzutreiben, bei der die Gelder nach bundeseinheitlichen Kriterien auf die strukturschwachen Regionen verteilt werden - sollten, muss man leider sagen. Insofern hätte die Bundesregierung längst liefern müssen, zum Beispiel durch die Einführung einer zusätzlichen föderalen Gemeinschaftsaufgabe zur regionalen Daseinsvorsorge.
Der Wunsch der ostdeutschen Ministerpräsidenten, weitere Behördenstandorte in den neuen Bundesländern anzusiedeln, den ich ausdrücklich teile, wurde nicht berücksichtigt. So hätte
Schwarz-Rot beispielsweise den Sitz der neuen Bundesfernstraßengesellschaft im Koalitionsvertrag festschreiben können.
Zweitens darf Ostdeutschland nicht infrastrukturell abgehängt werden. Laut Koalitionsvertrag ist es Ziel, vertakteten Fernverkehr auf der Schiene deutlich zu stärken - das beinhaltet auch eine Ausweitung des Angebots auf größere Städte und Regionen -, sodass mehr Menschen von Direktverbindungen im Fernverkehr profitieren.
Die Zielstellung ist zu begrüßen - keine Frage - in einer Landeshauptstadt, die so angebunden ist wie die unsere. Aber dennoch: Der Vertrag bleibt
sehr vage in der Frage: Was sind größere Städte und Regionen? Was ist damit gemeint und welche Zeiträume sollen abgedeckt werden?
Zudem sollen erst bis zum dritten Quartal 2018 die Schienenprojekte des potenziellen Bedarfs des Bundesverkehrswegeplans, welcher bereits 2016 beschlossen wurde, unter Berücksichtigung der Berechnung des Verkehrsressorts bewertet werden. Es ist also sehr fraglich, ob das Zieljahr 2025 überhaupt noch erreicht werden kann.
Drittens. Die Strukturen der ostdeutschen Landwirtschaft sind zu berücksichtigen, sagen wir. Nach dem Koalitionsvertrag sind die Regelungen zur Vergabe der noch verbliebenen Flächen der BVVG zu überarbeiten. Junglandwirte und Existenzgründerinnen und -gründer sind dabei besonders zu berücksichtigen.
Der Aufkauf großer landwirtschaftlicher Flächen und ganzer Betriebe durch außerlandwirtschaftliche Kapitalinvestoren gefährdet in Ostdeutschland eine vielfältig strukturierte Landwirtschaft. Die Privatisierungspolitik der BVVG hat einen entscheidenden Anteil an einer ungerechten Bodenverteilung und einer Zementierung industrieller landwirtschaftlicher Großstrukturen geleistet.
Schwarz-Rot präsentiert jetzt eine Scheinlösung. Die Ostministerpräsidenten konnten ihre Forderung nach einer Übertragung der BVVG-Restflächen an die Länder nicht durchsetzen.
Ein anderes Beispiel. Die Energiewende darf nicht zulasten Ostdeutschlands gehen. Auch hier wieder eine Kommission mit dem schönen Titel „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“. Darin soll es um einen Plan zur schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung einschließlich eines Abschlussdatums, zu den notwendigen rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und strukturellen Begleitmaßnahmen und zur finanziellen Absicherung für den notwendigen Strukturwandel in den betroffenen Regionen und um einen Fonds für Strukturwandel aus den Mitteln des Bundes gehen.
Dazu kann ich nur sagen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen: GRÜN wirkt. Ein solcher Strukturwandelfonds wurde bereits bei den JamaikaSondierungen ausverhandelt und in dieser Weise beschrieben. Die Nennung einer konkreten Hausnummer von 1,5 Milliarden € für die regionale Strukturpolitik/Strukturwandel/Kohlepolitik ist zu begrüßen. Es wäre aber ein Irrglaube anzunehmen, dass die Konzepte für den Strukturwandel allein in den höheren Politiketagen in Berlin erstellt werden können.
Was im Vertrag fehlt und gerade auch für Sachsen-Anhalt wichtig gewesen wäre, sind Aussagen zur Bergbausanierung. Der Bund sollte sich an den Ewigkeitskosten der Bergbaufolgeschäden zum Beispiel über eine Stiftung beteiligen. Das darf selbstverständlich nicht aus Steuergeldern allein passieren, sondern die Kosten sind im Wesentlichen von den Unternehmen zu tragen, die mit fossilen Energieträgern Gewinne gemacht haben.
Auch auf diesem Feld ist es wieder versäumt worden, junge und gut ausgebildete Menschen über die Ansiedlung von Institutionen nach Ostdeutschland zu holen und so die demografische Entwicklung und den Braindrain zu beeinflussen.