Protokoll der Sitzung vom 19.12.2018

Ich glaube, im Augenblick weiß in Großbritannien niemand, wie diese Abstimmung ausgehen würde und ob die Regierung dann nicht noch mehr ins Trudeln käme. Deswegen versucht man, an allen Ecken und Enden zu gucken, was man noch retten kann.

Ich glaube schon - ich will nicht nur für Herrn Philipp sprechen -, dass die sozialen Fragen genauso ernst genommen werden müssen wie die wirtschaftlichen Freiheiten. Deswegen habe ich diese Beispiele vorangestellt.

Ich sage, wenn Bürgerinnen und Bürger in allen EU-Staaten anständige Jobs mit anständigen Löhnen haben, dann haben wir dieses Gerangel

nicht mehr. Wenn sie sozial abgesichert sind, wenn sie wissen, dass jeder und jede von ihnen eine Chance in seinem bzw. ihrem eigenen Land hat, dann werden die Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen in die Gestaltungskraft der EU behalten oder es wieder zurückgewinnen. Im Augenblick erleben sie es nicht.

Im November 2017 - das ist noch gar nicht so lange her - haben sich alle 28 EU-Staaten auf ein sogenanntes 20-Punkte-Programm verständigt. Kernbausteine dieser sozialen Säule sind der freie Zugang zum Arbeitsmarkt, Chancengleichheit, soziale Sicherheit und faire Arbeitsbedingungen; vor allem Letzteres ist besonders wichtig.

Spürbare Verbesserungen im alltäglichen Leben fangen an, wenn jeder und jede von seiner Arbeit nicht nur gerade so überleben kann, sondern zufrieden leben kann. Deshalb wurden die sozialen Rechte und Grundsätze proklamiert, die die Politik in Brüssel und in den Mitgliedstaaten als soziale Säule bestimmen sollen.

Natürlich handelt es sich, wie Kommissionspräsident Juncker sagt, um eine Auflistung von Vorhaben, von Überzeugungen und Prinzipien. Das Gefährliche daran ist, dass wir möglicherweise alles wieder zerreden. Das verabschiedete Papier enthält bisher nur sehr unverbindliche Forderungen. Juncker sagt zwar, es müssten konkrete Vorschläge folgen, aber es braucht auch eine Mehrheit im Europäischen Parlament, um diese Verbindlichkeit zu erreichen.

Deshalb finde ich, Herr Gallert, so einfach, wie Sie sich das vorstellen, nämlich die sozialen Standards einfach festzuschreiben und dann ist die EU wieder zusammen, ist es nicht. Es gibt große Unterschiede zwischen den Ländern und Regionen, vor allem durch die nicht vergleichbaren Sozialsysteme.

Zum Beispiel lässt sich die Festschreibung von Mindeststandards bei Sozialleistungen nicht so einfach machen. Denn wo sollten die Margen für die Sicherung liegen? - Dort, wo ärmere Länder sie definieren? Oder sollen sie sich an den Ländern mit weitreichenden Schutzmaßnahmen

orientieren? Über all diese Dinge müssen wir beraten.

Sie haben recht, im Bundesrat ist das Thema auch wieder zerredet worden. Bei vielen Punkten ging es nur darum, den Europäischen Sozialfonds und den Fonds für regionale Entwicklung hochzuhalten, und jeder macht seine Programme. In Bezug auf das Förderprogramm zur sozialen Sicherung und Teilhabe ist mir deutlich geworden, dass wir gerade in Sachsen-Anhalt, in dem viel Vertrauen verloren gegangen ist, mit den Programmen eigentlich genau das machen, was die soziale Säule einmal in ganz Europa darstellen soll.

Ich bin gern bereit, mit Ihnen darüber zu streiten, auch über gleichwertige Lebensverhältnisse. Es ist viel angeschoben worden, auch im Bundestag. Diese Debatte wird sicherlich auch den europäischen Wahlkampf im nächsten Jahr beherrschen. Ich will mich gern einmischen, und ich denke, auch das Parlament würde sich gern einmischen. Ich freue mich auf die Diskussionen in den jeweiligen Ausschüssen; denn ich finde, wir müssen diesen 20 Punkten zu mehr Verbindlichkeit verhelfen. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Frau Ministerin, Herr Gallert hat sich zu Wort gemeldet. - Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Frau Ministerin, ich wollte auf einen kleinen Sidestep eingehen. Sie sprachen davon, dass man eine Mehrheit finden müsse, um diese Dinge im Europäischen Parlament durchzusetzen. Alle Erfahrungen, die wir haben, Frau Grimm-Benne, sind so, dass das Europäische Parlament von allen drei Institutionen auf der Ebene der Europäischen Union dasjenige ist, das diesen Prozess noch am meisten voranbringt.

Wir wissen ganz genau, wo die Bremsklötze liegen, nämlich beim Ministerrat, weil jeder Vertreter der einzelnen Nationen denkt, irgendwelche Vorteile innerhalb dieses Dumpingwettbewerbs für sich heraussuchen zu müssen. Wir wissen genau, wo die Probleme liegen. Also nicht das Europäische Parlament ist das Problem, sondern die Bundesregierung ist das Problem, und hierbei sogar der Bundesrat, wie man bei dem Beschluss vom Juli letzten Jahres schön dokumentiert bekommen hat. - Danke.

Frau Ministerin, Sie haben noch einmal das Wort, wenn Sie möchten.

Das war mehr eine Intervention.

Dann danke ich Frau Ministerin für die Ausführungen. - Wir kommen zu den Debattenbeiträgen der Fraktionen. Für die CDU-Fraktion spricht der Abg. Herr Kurze. Herr Kurze, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Union ist

ein Erfolgsprojekt. Mehr als 70 Jahre Frieden in Europa, das hätten sich unsere Großeltern vor dem Hintergrund der schrecklichen beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert sicherlich gewünscht.

Unsere infrastrukturelle, ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung wäre ohne die Hilfe aus Europa unvorstellbar. Seit Anfang der 90erJahre sind mehr als 9 Milliarden € aus den europäischen Struktur- und Investitionsfonds nach Sachsen-Anhalt geflossen und hier investiert worden.

Ein starkes und gemeinschaftliches Europa ist die beste Antwort auf alle Herausforderungen der Globalisierung, auch wenn die EU eine lange Liste an Baustellen hat - diese gilt es anzupacken. Manches aus Brüssel scheint oft überzogen. Gegen diese Vorurteile können wir hier im Parlament relativ wenig machen. Das können nur das Europäische Parlament und die Kommission selbst tun.

Der Brexit, die Proteste der Gelbwesten in Frankreich und die Zustände in Italien haben uns mehr denn je vor Augen geführt, welche Liste noch abzuarbeiten ist. Für die CDU-Fraktion ist klar, dass das Vertrauen in die EU durch transparente Entscheidungen und eine noch viel stärkere Einbeziehung der Menschen in die Entscheidungsprozesse gestärkt werden muss.

Es ist fraglich, dass man dem angeblich wachsenden Nationalismus ernsthaft begegnen kann, indem man alles gleichstellt, ohne zu fragen, wer alles bezahlen soll. Oder ist es überhaupt wachsender Nationalismus, wenn man als Nationalstaat versucht, den eigenen Landsleuten, die den Wohlstand des eigenen Landes hart erarbeiten, diesen wieder zugutekommen zu lassen?

(Zuruf von der AfD: Eben nicht!)

Dass wir in Europa solidarisch und kollegial miteinander umgehen, ist eine Grundlage für die Beschlüsse, über die wir heute debattieren, und es sind die Grundfesten für das Erfolgsmodell Europa mit mehr als 70 Jahren Frieden. Das habe ich schon gesagt.

Bei alledem dürfen wir die Nationalstaaten aber nicht bevormunden, sonst spalten wir Europa. Die Öffnung der Sozialleistungen über Europas Grenzen hinaus so, wie es DIE LINKE will, Herr Gallert, spaltet Europa.

(Zuruf von der AfD: Richtig!)

Das können wir rings um uns herum sehen, wenn man die Augen und Ohren aufmacht, und sie nicht aufgrund von parteiideologischen Dogmen verschließt, meine sehr verehrten Damen und Herren von der LINKEN.

Die sogenannte Säule sozialer Rechte ist ein 20-Punkte-Programm für den freien Zugang zum Arbeitsmarkt, für Chancengleichheit, soziale Sicherheit und faire Arbeitsbedingungen für alle ca. 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union. Dabei handelt es sich um unverbindliche Forderungen.

Der Antrag der Fraktion DIE LINKE verlangt aber eine verbindliche Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk und eine damit verbundene verbindliche Festschreibung von Mindeststandards beim Zugang und bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen im Alter, bei Krankheit, bei Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit.

Schon jetzt verbietet uns die EU aber, die Standards auf das Niveau einzelner Länder abzusenken bzw. eine Anpassung vorzunehmen. Ich denke dabei nur an das Kindergeld, welches wir ins Ausland zahlen. Wie sollen wir aber dann einheitliche Standards bekommen? Alles auf dem Niveau Deutschlands führt doch weiter zu einer Sogwirkung, die wir auf Dauer nicht aushalten und auch nicht finanzieren können. Abgesehen davon, dass uns dafür hier im Landtag von Sachsen-Anhalt die Zuständigkeit fehlt, kann die EU nicht für die total unterschiedlich entwickelten Staaten einheitliche Standards schaffen. Das ist unsere Meinung und das ist unsere Sicht. Daher lehnen wir Ihren Antrag ab.

Wenn die Säule sozialer Rechte dazu beitragen kann, die Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern zu reduzieren, dann haben wir etwas gekonnt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Denn gerade die jungen Leute haben durch ihre Unbeschwertheit kaum Vorurteile gegenüber ihren Nachbarn. Mit ihnen zusammen können wir den Zusammenhalt Europas weiter ausbauen.

Eine Prise gesunder Nationalstolz steht jedem Land zu und er ist ein Garant für Selbständigkeit, Selbstbewusstsein und Solidarität. Nur, wer den Menschen Angst macht, nimmt Fehlentwicklungen billigend in Kauf, und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist nicht unser Anliegen. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zu dem Alternativantrag der Koalitionsfraktionen. - Vielen Dank.

(Zustimmung bei der CDU)

Fragen sehe ich nicht. Dann danke ich Herrn Kurze für den Redebeitrag. - Für die AfD-Fraktion spricht der Abg. Herr Siegmund. Herr Siegmund, Sie haben das Wort.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Bürger! Ich fasse, bevor ich in den Inhalt einsteige, einfach einmal kurz und verständlich

zusammen, was die Linken mit ihrem Antrag umsetzen wollen.

Sie möchten die Säule sozialer Rechte in Form eines 20-Punkte-Plans in den Euroländern betonieren. Sozialstandards vielfältigster Art und Weise sollen also in allen Mitgliedstaaten gleich sein. Es geht um die Versorgung bei Arbeitslosigkeit, um die Gesundheitsversorgung, die Altersversorgung, die Geschlechtergerechtigkeit, die Löhne und Gehälter usw. usf.

Liebe Bürger, wie würden Sie es denn finden, wenn Sie bei einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit ab sofort das soziale Polster Lettlands, Sloweniens oder Bulgariens erwarten würde, also teilweise weniger als 100 € im Monat? Oder, liebe Bürger, wie würden Sie es denn finden - das ist nicht definiert -, wenn Länder wie Rumänien oder Slowenien die gleichen Standards bieten müssten wie Frankreich, Holland oder Deutschland? - Allein bei dieser einzigen Fragestellung wird die gesamte Blauäugigkeit und Weltfremdheit dieser Säule und dieses linken Antrages deutlich.

Aber jetzt ein bisschen der Reihe nach, um das aufzuarbeiten. Wessen Feder entspringt eigentlich diese glorreiche Idee? - Hauptsächlicher Befürworter ist der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker oder, wie ihn britische Medien in letzter Zeit oftmals nannten, JeanClaude Drunker.

Natürlich möchte der oft heitere und gesellige Präsident mit dem 20-Punkte-Programm Brüssels Macht festigen und weiter fortführen. Auch die Handschriften von Merkel und Macron dominieren das Programm. Auch dort ist die Intention relativ klar: Man möchte den vielen Menschen Europas, welche inzwischen aufgewacht sind und erkannt haben, was eigentlich vor sich geht, neuen Sand in die Augen streuen.

Italien und Österreich sind bereits zur Vernunft gekommen und beginnen endlich, wirklichen Schaden von ihrem Volk abzuwenden. Auch in Spanien und Frankreich wackelt die EU-Hörigkeit deutlich. Nur Deutschland scheint sich wie immer noch im Dauerschlaf zu befinden.

Jetzt, wo es aber um den für den Machterhalt so notwendigen Wähler geht, wird man aufmerksam und flüchtet sich in weltfremde und volkswirtschaftlich völlig unsinnige Programme wie das, über das wir heute diskutieren. Die Probleme des Programms wurden bereits durch die Eingangsfrage der unterschiedlichen Sozialstandards verdeutlicht. Das Hauptproblem ist allerdings, dass in dem gesamten Programm überhaupt nichts klar definiert ist.

Mit Blick auf das Thema Sozialhilfe und Arbeitslosengeld stellt sich die Frage, welcher Standard überhaupt zur Bezugsgröße erhoben wird. Hebt

sich ganz Europa auf das Level von Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg und wird Europa dadurch noch mehr zur Transferunion oder senken wir unsere Standards auf das Level der Süd- oder Ostländer ab? Diese Frage ist nicht beantwortet.

Zum Mindesteinkommen heißt es im Programm - ich zitiere -: „Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen [...]“. Es ist nicht definiert, dass man für dieses Mindesteinkommen irgendeine Gegenleistung erbringen muss. Dass Ihnen, liebe LINKE, die Vorstellung vom Freibier für alle gefällt, wundert niemanden mehr.

Der Umstand, dass die Kommission eine Entlohnung möchte, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht, gleichzeitig aber eine produktivitätsorientierte Bezahlung vorschreibt, ist ein wirtschaftlicher Widerspruch in sich. Das kann so gar nicht funktionieren. Dass Sie, liebe LINKE, diese planwirtschaftlichen Ansätze zum Wohle der Gleichermacher- und Buntheitsideologie durchwinken, ist uns allen klar.

Wer allerdings ein ganz klein wenig ökonomische Grundkenntnisse besitzt, der weiß, dass dieser Punkteplan a) gar nicht konkret definiert ist, b) ein schwammiges Geeiere ist und wirre Forderungen enthält, c) volkswirtschaftlich unmöglich umsetzbar ist, da Nationen mit völlig unterschiedlicher Produktivität in einen Verbund gepackt werden und eine Sozialglocke übergestülpt bekommen sollen, was in der Realität einfach nicht passieren kann, und d) - man muss es deutlich sagen - ein weiteres Instrument zur Auflösung des kulturellen Reichtums Europas ist.