Protokoll der Sitzung vom 13.10.2000

Der Vertrag von Amsterdam weist der EU nur eine ergänzende Rolle im Bereich der Gesundheitspolitik zu. Wenn die EU aber gesundheitspolitische Ziele verfolgen will, dann kann sie dies nur auf einer klaren rechtlichen

Grundlage tun. Der schleichenden Ausweitung der auf die EU übertragenen Zuständigkeiten auf angrenzende Politikbereiche wird ein Riegel vorgeschoben. Dies haben wir stets gefordert und auch vom Europäischen Gerichtshof ist die Richtigkeit unserer Auffassung bestätigt worden. Die Ausweitung von Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat ist zudem ein zentrales Thema in den nationalen und regionalen Parlamenten, denn Abstimmungen mit Mehrheit im Ministerrat stärken die Rolle der Regierungen, d.h. der Exekutive, zu Lasten der Legislative. Der Bundesrat und insbesondere auch die Landtage können kaum noch Einfluss auf die Gesetzgebung in Brüssel nehmen. Sie sind aber oftmals im gleichen Maß von den Entscheidungen auf europäischer Ebene betroffen. Die Länder müssen die europäischen Richtlinien und Verordnungen ebenso umsetzen und einhalten. Wenn also auf europäischer Ebene künftig mit qualifizierter Mehrheit zum Beispiel über die direkten und indirekten Steuern entschieden werden soll, so kann sich dies direkt auf den Landeshaushalt auswirken. Die politischen Gestaltungsräume der Länder werden damit in jedem Fall beeinflusst werden. Die Wahrnehmung politischer Gestaltungsräume und die Übernahme der politischen Verantwortung sind aber ein Eckpfeiler der Eigenstaatlichkeit der Länder.

Die Eigenstaatlichkeit ist unaufgebbar im Grundgesetz verankert. Es besteht die Gefahr, dass durch die Ausweitung von Mehrheitsabstimmungen der politische Handlungsund Gestaltungsspielraum der Länder weiter eingegrenzt werden kann, ohne dass die Länder auf die jeweilige Entscheidung selbst Einfluss nehmen können. Andererseits zeigt aber auch das Beispiel der Steuern, dass eine weitere europäische Harmonisierung erforderlich sein wird, etwa um den negativen Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zumindest zu beschränken oder um Schlupflöcher und Betrugsdelikte beim Vorsteuerabzug im Bereich der Umsatzsteuern bekämpfen zu können. Wie schwierig auch pragmatische Lösungen sind in diesem Bereich, zeigt das jüngste Beispiel der Harmonisierung von Kapitalertragssteuern. Ein anderes Beispiel, das die besondere Schwierigkeit bei der Abwägung verdeutlicht, zeigt sich bei der Anwendung des Artikels 151 Abs. 5 EG-Vertrag, auf dessen Grundlage Fördermaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft für den Bereich der Kulturpolitik einstimmig beschlossen werden können. Unter diese Fördermaßnahmen fallen auch Programme, die zur Unterstützung der europäischen Kulturstädte genutzt werden, im letzten Jahr zur Unterstützung Weimars. Und ich erinnere daran, die Verabschiedung des Förderprogramms und damit die Auszahlung der EU-Gelder waren aber über mehrere Monate durch einen einzelnen EU-Mitgliedstaat blockiert worden, um in einer anderen, völlig sachfremden Frage eine Lösung zu erzwingen. In einer erweiterten Union werden die Möglichkeiten einer Blockade durch einzelne Staaten potenziert werden und damit vermutlich noch stärker in Bereichen, die den größten Nettozahler und die ostdeutschen Länder als Ziel-1-Regionen berühren könnten. Wir haben uns dennoch dafür entschieden, dass wir im Bereich der Kulturpolitik, also einem

Bereich ureigenster Länderzuständigkeit, am Prinzip der einstimmigen Beschlussfassung festhalten wollen. Die Kulturpolitik ist ein sensibler Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder. Hier dürfen nur Entscheidungen mit unserer Zustimmung getroffen werden. Das Gleiche gilt für die Bereiche Visa, Asyl, Emigration, für den Bereich der Raumordnung, für die Grundsätze der Berufsordnung. Das heißt konkret, dass der große Befähigungsnachweis, also der Meisterbrief des deutschen Handwerks, durch das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip geschützt wird. Ich denke, das ist im Jahr des Handwerks besonders wichtig.

(Beifall bei der CDU)

Das Für und Wider zur Überführung in Mehrheitsabstimmungen sollte unseres Erachtens bei jedem der in Frage stehenden Vertragsartikel separat geprüft werden. Dabei spielen für Thüringen folgende Kriterien eine besondere Rolle:

1. Die mögliche Reichweite der Vertragsbestimmungen, das heißt, was wird mit dem jeweiligen Artikel de facto geregelt und wer ist dafür zuständig?

2. Fragen mit wesentlicher Bedeutung für die Länderzuständigkeiten können nicht ohne Zustimmung Deutschlands möglich sein. Gemäß Artikel 23 unseres Grundgesetzes ist in diesen Fällen die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen. Dies sind zum Beispiel die Raumordnung, die Kulturpflege, Verwaltungsstruktur, Fragen der Wirtschafts- und der Finanzordnung.

3. Insbesondere finanzwirksame Entscheidungen bedürfen der Zustimmung des größten Nettozahlers in der EU.

Bei einer artikelscharfen Prüfung der Vertragsartikel mit einstimmiger Beschlussfassung konnten die Länder nicht zu allen Vertragsartikeln, die ihre Zuständigkeiten berühren, eine gemeinsame Position finden. Insgesamt steht für 16 Vertragsartikel eine endgültige Positionsbestimmung im Länderkreis aus. Die Konferenz der Regierungschefs der Länder wird sich in Kürze, nämlich anlässlich ihrer Jahreskonferenz vom 25. bis 27. Oktober in Schwerin, erneut mit dieser Frage befassen.

Generell gilt Folgendes: Der erfolgreiche Abschluss der Regierungskonferenz und die Reform der Europäischen Union ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Osterweiterung. Ohne Zweifel muss die Größe der EU-Kommission geklärt werden, damit sie effektiv arbeiten kann, und ohne Zweifel können Mehrheitsentscheidungen die Effizienz der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene erhöhen. In einer EU mit 27 und mehr Mitgliedstaaten ist die Reform der Organe und Entscheidungsverfahren, die im Jahre 1957 ursprünglich für eine Gemeinschaft von sechs Mitgliedstaaten geschaffen worden war, eine Conditio sine qua non für die Erweiterung. Das bedeutet im Klartext: Wir wollen die Osterweiterung, aber wir wollen eine EU, die auch ausreichend darauf vorbereitet ist.

(Beifall bei der CDU)

Es darf aber kein Junktim zwischen einer abschließenden Lösung bei der Kompetenzabgrenzung und der Erweiterung geben. Allerdings ist die Reform der EU nicht mit der technischen Verbesserung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit abgeschlossen. Außenminister Fischer hat in seiner Rede in der Berliner Humboldt-Universität am 12. Mai gesagt - ich zitiere, Frau Präsidentin: "So zentral die Regierungskonferenz für die Zukunft der EU als nächster Schritt auch immer ist, so müssen wir angesichts der Lage Europas gleichwohl schon heute damit beginnen, uns über den Prozess der Erweiterung hinaus Gedanken zu machen, wie eine künftige 'große' EU einmal funktionieren kann, wie sie deshalb aussehen und funktionieren müsste." Genau damit haben die Regierungschefs der Länder begonnen, als sie bereits im März dieses Jahres gefordert haben, die Abgrenzung der Kompetenzen auf die Tagesordnung der laufenden Regierungskonferenz zu setzen. Wir sehen heute, dass dies europaweit noch nicht durchzusetzen war. Aber die feste und eindeutige Haltung aller Ministerpräsidenten hat dafür gesorgt, dass die Frage in allen Hauptstädten der EU mittlerweile wahrgenommen und auch ernst genommen wird. Wir haben erreicht, dass die Bundesregierung sich gegenüber den Ländern verpflichtet hat, sich für eine Folgekonferenz einzusetzen, bei der abschließend die Frage der Kompetenzabgrenzung behandelt werden soll. In der laufenden Regierungskonferenz soll ein rechtsverbindlicher Beschluss über ein Mandat für eine nachfolgende Regierungskonferenz gefasst werden. Aufgabe der Folgekonferenz soll sein, die gemeinschaftliche Kompetenzordnung darauf zu überprüfen, welche Aufgaben eine erweiterte Union leisten kann. Dabei ist im Rahmen einer Konzentration der Union auf klar umrissene Aufgaben in den Verträgen, eine präzise Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu verankern, und zwar auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zuständigkeiten der EU müssen erkennbar, vorhersehbar und begrenzt sein. Es muss klar werden, wer macht was, welche Ebene zeichnet für welche Entscheidung verantwortlich und ist diese Ebene ausreichend demokratisch legitimiert. Die Zuständigkeiten der EU müssen auf die Aufgaben begrenzt werden, die nur gemeinschaftlich bewältigt werden können. Dazu gehören die Sicherung des Binnenmarktes, die Stabilität des Euro, die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Asyl- und Flüchtlingspolitik, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, der Umweltschutz und ein geschlossenes Auftreten in Fragen der globalen Wirtschaft. Das Subsidiaritätsprinzip muss durch die ausdrücklich im Vertrag vorgesehene abschließende Festlegung ausschließlicher Zuständigkeiten der Gemeinschaft gestärkt werden. Das bedeutet, die Nationalstaaten werden auch künftig über die Verteilung der Aufgaben zwischen europäischer und nationaler Ebene entscheiden. Überall dort, wo es keine ausdrückliche Übertragung von Zuständigkeiten auf die europäische Ebene gibt, bleiben die Nationalstaaten bzw.

die Länder zuständig. Von herausragender Bedeutung wird sein, dass der Europäische Rat von Nizza vom 7. bis 9. November 2000 eine klare Entscheidung zur Fortsetzung des Reformprozesses fasst, mit inhaltlichen und mit zeitlichen Vorgaben. Darüber werden wir weiter mit der Bundesregierung im Gespräch bleiben. Es muss aber auch klar sein, dass die Notwendigkeit zu einer umfassenden Reform nicht als Blockade gegen die Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Nachbarstaaten ins Feld geführt werden darf. Vielmehr muss die Herausforderung der Osterweiterung als Hebel zur grundlegenden Reform der EU genutzt werden.

Ein weiteres Länderanliegen, das gegenwärtig kontrovers diskutiert wird, ist die Frage der Sicherung und des Schutzes der Daseinsvorsorge. Zur Erläuterung: Leistungen der Daseinsvorsorge umfassen nach deutschem Staatsrechtsverständnis Tätigkeiten in wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereichen. Diese staatlichen Leistungen, zu denen aus Sicht der Länder unter anderem die Sparkassen, der öffentliche Personennahverkehr, die öffentlich-rechtlichen Medien und Unternehmen der Wohlfahrtspflege gehören, dienen dazu, dass gemeinwohlorientierte Dienstleistungen auch in der Fläche erbracht werden können. Die bewährten Strukturen und Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge und ihre hohe Qualität geraten aber in Gefahr, wenn sie dem allein wirtschaftlich orientierten Beihilferecht unterworfen werden. Es besteht in unseren Augen die Gefahr, dass eine flächendeckende Versorgung mit Dienstleistungen im allgemeinen öffentlichen Interesse nicht mehr gewährleistet werden kann, wenn allein die defizitären Bereiche von der öffentlichen Hand zu tragen wären. Nicht zuletzt unter dem Druck der Europäischen Kommission wurden in den letzten Jahren insbesondere leitungsgebundene Leistungen der Daseinsvorsorge - Sie haben es alle mitbekommen, Strom, Gas, Telekom - liberalisiert und damit zahlreiche ehemalige Monopolbetriebe der öffentlichen Hand dem Wettbewerb mit privaten Konkurrenzunternehmen ausgesetzt. Dies hat zweifellos auf vielen Gebieten zu technischem Fortschritt und niedrigeren Preisen für den Verbraucher geführt. Mittlerweile wird aber zunehmend Kritik an dieser einseitig auf Marktliberalisierung zielenden Politik der Europäischen Kommission deutlich. Die Kritiker wiesen zu Recht auf Nachteile einer weiter voranschreitenden Liberalisierung in anderen Bereichen der Daseinsvorsorge hin. Demgegenüber machen die Befürworter einer weiteren Liberalisierung geltend, dass der europäische Binnenmarkt die fortschreitende Globalisierung von Märkten und Dienstleistungen sowie technischer Fortschritt Strukturanpassungen notwendig machen. Weitere Einsparungen und Effizienzsteigerungen seien möglich und im Interesse der Verbraucher geboten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ein gemeinsames Anliegen von Ländern und Kommunen, staatliche Leistungen im Bereich der Daseinsvorsorge vor einem einseitig auf Marktliberalisierung abzielenden europäischen Beihilferecht zu schützen. Nicht zuletzt auf

Druck der Ministerpräsidenten, die in einer Reihe von Gesprächen mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, auf die Besonderheiten der deutschen Daseinsvorsorge hingewiesen haben, hat die Kommission am 20. September 2000 eine Mitteilung zu den, wie es heißt, "Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa" verabschiedet. Darin beschreibt die Kommission Leistungen der Daseinsvorsorge als Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Behörden mit spezifischen Gemeinwohlverpflichtungen verknüpft werden. Sie unterscheidet zwischen marktbezogenen und nicht marktbezogenen Tätigkeiten. Als nicht marktbezogene Aktivitäten, die dann auch nicht dem EU-Wettbewerbsrecht unterliegen, werden beispielweise einige Bereiche aufgeführt: innere und äußere Sicherheit, Justizverwaltung, Außenbeziehungen, Bildung, Sozialsysteme und anderes hoheitliches Handeln. Auch andere nicht gewinnorientierte, insbesondere soziale und gesellschaftliche Einrichtungen, nimmt die Mitteilung grundsätzlich aus der Anwendbarkeit der Wettbewerbsregeln und der Binnenmarktvorschriften aus. Diese Klarstellung kommt den Länderanliegen grundsätzlich entgegen, insbesondere ebenso wie die Klarstellung, dass Dienstleistungen und Tätigkeiten mit räumlich begrenztem Charakter, die den gemeinsamen europäischen Markt nur in einem unbedeutenden Maße betreffen, nicht unter die Regeln des Gemeinschaftsrechts fallen. Dennoch wird ein wesentliches Anliegen der Länder und der kommunalen Spitzenverbände damit noch nicht erfüllt. Es muss Rechtssicherheit hergestellt werden! Die Mitgliedstaaten müssen frei sein in der Ausgestaltung der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen. Eine rechtliche Klarstellung in den Verträgen, welche öffentlichen Leistungen der Daseinsvorsorge mit dem europäischen Wettbewerbsrecht zu vereinbaren sind, ist unbedingt erforderlich. Wir sehen die Gefahr, dass, wenn es nicht gelingt, zu einem vernünftigen Ausgleich zwischen den Gesichtspunkten des Wettbewerbs einerseits und des Gemeinwohls andererseits zu kommen, die strikte Wettbewerbspolitik der Kommission zunehmend die Gesichtspunkte des Gemeinwohls in den Hintergrund drängen und die Kommission verstärkt inhaltliche Vorgaben im Bereich der Daseinsvorsorge setzen wird. Auch deshalb wird sich die Jahreskonferenz der Ministerpräsidenten in diesem Monat nochmals mit diesem Punkt befassen.

Trotz aller von mir dargelegten Reformbedürfnisse für die Weiterentwicklung der Europäischen Union und trotz aller Bedenken: die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses, d.h. Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union, liegt im deutschen und insbesondere auch im thüringischen Interesse. Die Integration in die Europäische Union ist für Deutschland und den Freistaat Thüringen als Grundlage für politische und wirtschaftliche Stabilität ohne jede Alternative. Thüringen ist mit der Wiedervereinigung in die Mitte Deutschlands zurückgekehrt und damit in das Zentrum des zusammenwachsenden Europas gerückt. Der europäische Binnenmarkt und eine stabile gemeinsame Währung sind wichtige Voraussetzungen für sichere Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachs

tum. Thüringen wird sich deshalb auch weiterhin aktiv und konstruktiv an der Fortentwicklung des europäischen Einigungswerkes beteiligen. Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Ich danke für den Bericht. Es ist bereits Antrag auf Aussprache angekündigt, es war die Fraktion der SPD. Ich bitte jetzt den Abgeordneten Schuchardt zur Aussprache.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordneten, es war ein ausführlicher Bericht, der hier gegeben wurde. Er war sehr detailliert, so dass angesichts dieses Berichts zu vermuten ist, dass hier wahrscheinlich eine Einmütigkeit bestehen wird, dass dieses Berichtsersuchen der Landesregierung wohl akzeptiert werden wird, zumindest von der SPD-Fraktion. Ich hoffe, dass die Redner der einzelnen Fraktionen jetzt der Versuchung widerstehen, das alles noch mal in voller Breite zu wiederholen. Wir sollten einer solchen Versuchung widerstehen, denn es käme sicher nichts an Informationsgehalt hinzu. Angesichts Ihres ausführlichen Berichts, Herr Minister Gnauck, habe ich allerdings nicht verstanden, warum Sie es nötig hatten, hier in wahlkampfartige "Top"-Schlachtrufe auszubrechen, entschuldigen Sie bitte, aber das war peinlich und das hatten Sie auch gar nicht nötig.

(Beifall bei der SPD)

In den Fragen der Probleme der Europäischen Union habe ich im Verlaufe des letzten Jahres eine große Übereinstimmung der Fraktionen im Ausschuss für Bundesund Europaangelegenheiten empfunden. Meiner Erinnerung nach wurden dort nahezu alle Dinge oder sogar alles sehr einmütig beschlossen und insofern ist hier auch mit keiner sehr konträren Debatte zu rechnen.

Gestatten Sie mir nur, auf einen Gedankengang letzten Endes nochmals hinzuweisen. Wir haben gehört, es geht zentral um die Frage Größe und Zusammensetzung der Kommissionen. Es geht um die Stimmengewichtung im Rat; es geht um den Übergang zu qualifizierten Mehrheiten. Es gibt überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten zu den Fragen der doppelten Mehrheiten. Hier gibt es vielleicht Meinungsverschiedenheiten zwischen großen und kleinen Ländern, aber ganz bestimmt nicht zwischen den verschiedenen Parteien der deutschen Parlamente, nicht nur im Thüringer Landtag. Es geht um die Größe und Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, es geht um die EU-Organe und Institutionen. Es wurde in voller Breite eben dargestellt. Es ist völlig klar, dass eine Europäische Union mit 25 und mehr Mitgliedern sich nicht so organisieren kann wie 1958 mit sechs Mitgliedern. Das alles ist klar. Wir müssen nur aufpassen - und das ist der Gedankengang, den ich hier noch einmal ausführen möchte -, dass

angesichts dieser vielen detaillierten und sicher auch diffizilen Probleme nicht an irgendeiner Stelle Wasser auf die Mühlen der Euro-Skeptiker geleitet wird. Diese zu lösenden Probleme dürfen kein Argumentationsmaterial für EuroSkeptiker werden. Wir sollten uns immer vor Augen halten, worum geht es. Die Beitrittskandidaten müssen ihr politisches und wirtschaftliches System an die europäischen Standards angleichen, um bestehen zu können. Es sind hier Kriterien formuliert worden. All das wurde uns dargestellt, die Kopenhagener Kriterien, die einzuhalten sind. Wir müssen uns veranschaulichen, worum es geht. Es geht darum, eine Stabilitätszone nach Osten und nach Süden zu erweitern, eine große historische Aufgabe. Es geht darum, dass die EU eminent an Wirtschaftskraft gewinnt. Sie wächst um 100 Mio. Menschen zu einem Wirtschaftsraum mit dann insgesamt 470 Mio. Menschen. Es entsteht damit der größte einheitliche Markt der Welt. Vor diesem Hintergrund ist doch eines jetzt schon gewiss: Es geht in Europa nicht mehr um Sicherheit vor den anderen, um Sicherheit vor den anderen Mitgliedern, es geht längst um Sicherheit mit den anderen. Und vor dieser historischen Dimension letzten Endes muss man die zu lösenden Probleme relativieren und einordnen.

Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat von Klaus Hänsch, einem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments. Er sagte: "Wenn die politische Generation der 50er Jahre um Robert Schumann und Jean Monet den Mut und die Weitsicht hatte, eine europäische Gemeinschaft zu schaffen, die Deutschland und Frankreich versöhnt, dann ist es die Pflicht unserer Generation zu Beginn des neuen Jahrtausends, das gesamte Europa in Frieden und Freiheit zum ersten Mal in tausend Jahren zu vereinen."

(Beifall bei der CDU, SPD)

Als nächster Redner hat sich der Abgeordnete Bergemann, CDU-Fraktion, zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst herzlichen Dank, Herr Minister Gnauck, für einen wirklich sehr inhaltsreichen Sofortbericht. Ich halte es schon für wichtig, verehrter Herr Kollege Schuchardt, dass man ein paar Dinge doch mal reflektiert. Es nützt alles nichts, wer gestern Abend sich Zeit genommen hat und hat noch mal in "Phoenix" reingeschaut und hat gesehen, wie im Deutschen Bundestag das Thema "Europa" behandelt worden ist, es ging dort um den Abschluss der Charta - es war so ähnlich wie bei uns im Parlamentssaal, wenn "Europa" ansteht: Es war ziemlich gähnende Leere. Das macht einem schon Angst, das sage ich mal ganz deutlich.

(Beifall bei der CDU, SPD)

Wir reden landauf, landab in den Ländern, in den Kommunen, in den Regionen. Überall haben wir Angst, die Menschen diskutieren über Europa und wir als Parlament in der Verantwortung verlassen die Säle. Ich finde, es füllt sich vielleicht auch langsam. Es ist wichtig für uns, dass wir zu dem Thema grundlegende und breite Diskussionen in der Öffentlichkeit führen. Es ist einfach erforderlich und der Minister hat auf die Breite dieser Palette mal detailliert eingehend hingewiesen und man kann nur empfehlen, diesen Sachbericht auch mal wirklich zu verinnerlichen, nicht nur immer im Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten, sondern auch mal in den anderen Ausschüssen dieses Problem aufzugreifen. Herr Kollege Dr. Schuchardt, ich bin ihm sehr dankbar, dass "Top Thüringen" gefallen ist, denn eines ist doch unstrittig, wir als Christlich Demokratische Union haben in der Vergangenheit und auch in der Zukunft alle wichtigen europapolitischen Themen bestimmt und mitgestaltet. Und dafür, denke ich, ist es mehr als angebracht und es hat auch nichts mit Wahlkampf zu tun.

(Beifall bei der CDU)

(Zwischenruf Abg. Dr. Schuchardt, SPD: Und doch gab es einen Reformstau unter Kohl.)

Herr Kollege Schuchardt, wir wissen doch alle miteinander ganz genau, wenn wir mal Revue passieren lassen, was war denn der Auftrag der europäischen Regierungskonferenz im Februar; der sagte ganz klar: Erweiterungsfähigkeit der Union bis zum Jahr 2002. Das muss man hier noch mal deutlich sagen. Ich brauche nichts darüber hier auszuführen, wir kennen den Sachstand dazu. Aber wenn es so wäre, dann müssten nämlich spätestens auf dem Gipfel in Nizza aufgrund dieses zeitaufwendigen Ratifizierungsverfahrens die Arbeiten an den Reformen der EU abgeschlossen werden. Der Minister hat es noch mal gesagt, es gibt Länder, da muss es darüber ein Referendum geben. Genau das ist doch der Punkt, über den wir hier sprechen müssen. Ich will nicht noch mal das Thema der Amsterdamer Überbleibsel, der Left Overs strapazieren, das hat er in aller Ausführlichkeit getan. Aber entscheidend dabei ist ja auch, dass sich bis heute in diesem Punkt auch noch gar keine Kompromisslösungen abzeichnen. Gerade in Bezug auf die Osterweiterung, denke ich, ist es ganz wesentlich, dass das Problem "qualifizierte Mehrheit" noch mal angesprochen worden ist. Es wird uns nicht gelingen. Wenn die nachrückenden mittel- und osteuropäischen Länder dabei sind, werden wir in dieser Debatte eine viel schwierigere oder kaum zu lösende Diskussionsgrundlage haben. Ich möchte auch an diesem Punkt auf etwas verweisen, was noch nicht gesagt worden ist. Der französische Staatspräsident Chirac hat ja auf seiner viel beachteten Rede im Juni dieses Jahres vor dem Deutschen Bundestag über eine Avantgardgruppe gesprochen, hat auch die Unterstützung von Außenminister Fischer erhalten. Ich glaube, diese Avantgarde bedeutet eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Staaten, die enger miteinander ko

operieren und die auch in Zukunft leichter vorankommen wollen. Die Gruppe soll die Rolle des Wegbereiters innerhalb der Europäischen Union spielen und dann auf Beschlüsse der Regierungskonferenz zurückgreifen können. Ich glaube, gerade wir in den neuen Ländern müssen uns hier schon die Frage stellen: Was passiert denn mit diesen Ländern, die nicht in der Lage und die nicht dabei sind? Da, glaube ich, muss man schon einmal aufpassen, dass wir hier eine Verpflichtung haben. Ich kann mir nur schlecht vorstellen, ich wünsche mir auch nicht, dass dadurch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entsteht.

Es ist in Nizza natürlich damit zu rechnen, dass die Einsetzung einer zweiten Regierungskonferenz beschlossen wird und die dann mit Sicherheit noch die ausstehenden Fragen klären muss. Es werden dort in Nizza trotzdem wichtige Reformen verabschiedet werden, aber der Reformstau bleibt nach wie vor. Die Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union, zwischen den Ländern und den Regionen sowie auch vor allen Dingen die verbesserten Beziehungen zu den Bürgerinnen und Bürgern, die sind, wer sich richtig erinnert, bereits seit dem Vertrag von Maastricht lange diskutiert worden, sehr, sehr lange, 1992, und wir kennen nun auch das Ergebnis, der substanzielle Fortschritt in dieser Frage ist bisher sehr bescheiden gewesen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kann nur heißen, oberste Priorität hat die Sicherstellung der Funktion einer erweiterten Europäischen Union. Das erfordert eine Aufgabenverteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip und eine eindeutige Regelung zur Kompetenzabgrenzung. Hier ist es das Minimalziel für Nizza, dass man sagt, Einstieg in eine klare Kompetenzabgrenzung. Wir brauchen das Subsidiaritätsprinzip. So verstehe ich auch den Antrag unserer Fraktion.

Ich möchte vielleicht nur noch zwei Worte zum Schluss bezüglich der Kompetenzabgrenzung sagen, an Beispielen, die wir alle kennen, die uns hinlänglich bekannt sind. Ich denke einmal an das Werbeverbot für Tabakerzeugnisse, an das Gerichtsurteil zu dem Lizenzfußball, an die Quotenregelung der EG-Fernsehrichtlinie, wo es deutlich hieß, 50 Prozent der Fernsehsendungen müssen europäischen Ursprungs sein, und nicht zuallerletzt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Dienst von Frauen mit der Waffe. Wie man auch dazu stehen möge, aber das sind doch Beispiele. Es kann nicht sein, dass eine zentrale Entscheidung in Brüssel Vorschriften erlässt, die bei uns vor Ort dann die beträchtlichen Auswirkungen zur Folge haben. Es geht um eine ausgewogene Kompetenzabgrenzung zwischen EU, Ländern, Regionen, in den Kommunen, die dem Bürger auch verständlich zu machen sind.

Die Landesregierung ist - vertreten über den Bundesrat, über die MPK, die EMK, den Ausschuss der Regionen in der Debatte dabei. Ich sage hier noch einmal, wir müssen uns als Parlamentarier im Land und auch in den Ausschüssen weiterhin an dieser Reformdiskussion rege be

teiligen. Ich bitte auch um Zustimmung des Hauses für den Sofortbericht. Danke schön.

(Beifall bei der CDU)

Herr Abgeordneter Dr. Hahnemann, PDS-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, nun beginne auch ich einmal eine Rede hier mit dem Satz, ich wollte eigentlich nicht reden, ich hatte es mir ganz fest vorgenommen, weil ich auch keine Not damit gehabt hätte, Herr Dr. Schuchardt, hier Versuchungen zu widerstehen. Ich gebe ganz ehrlich zu, das Paket ist so groß, dass es aussichtslos ist, hier zu versuchen, umfassend die Dinge, die vielfach auch noch ziemlich unklar sind, wirklich sachlich zu besprechen. Trotzdem hat eine Ihrer Bemerkungen mich jetzt hier nach vorn bewegt, weil ich denke, dass sie in dem Prozess immer wieder, ich weiß nicht wie absichtsvoll, aber eben auch absichtsvoll zur Seite gedrängt wird. Es gibt ja - und hier würde ich Herrn Jaschke gern widersprechen oder zumindest, sagen wir einmal, erweitern - alle diese Debatten nicht nur wegen der EU-Erweiterung. Ich bin davon überzeugt, einen großen Teil dieser Diskussionen hätten wir auch, wenn es die EU-Erweiterung nicht gäbe. Hier sehe ich einen Aspekt, der uns bei der Betrachtung immer wieder berühren muss. Ich glaube, Herr Dr. Schuchardt, das war es, was Sie gemeint hatten, als Sie gesagt haben, diese Diskussionen und die Entscheidung zu den einzelnen Gegenständen dürfen nicht die Euroskeptizisten am Ende nähren. Da, glaube ich eben, müssen wir immer ganz offen und ehrlich darüber reden: Welche sind hausgemachte Europaprobleme und welche sind Europaprobleme, die tatsächlich mit der Erweiterungsproblematik zusammenhängen? Wie schwierig es ist, Herr Minister, haben Sie selbst in der Bemerkung fixiert, man müsse die Osterweiterung als Hebel zur Reformierung der EU benutzen. Genau in dieser Formulierung liegt das Problem. Wenn wir damit nicht ganz offen und schonungslos umgehen, dann können wir da auch Prozesse erzeugen, die wir gar nicht erzeugen wollten. Es ist auch immer ein Problem, wenn wir nicht ausreichend - Sie haben es nicht gemacht, Herr Minister, das will ich damit gar nicht sagen -, aber wenn wir in der Diskussion nicht aufpassen, welche Komponenten der Europadebatte sind - wie Sie es sagen - von nationalen Interessen und taktischen Erwägungen dominiert und welche sind eigentlich von der Bereitschaft dominiert, auch darüber nachzudenken, wann wir eigentlich mit dem Zeitpunkt konfrontiert werden, dass der Nationalstaatenbund zur Debatte steht. Ich erinnere mich nämlich daran, dass viele der jetzigen Euroskeptiker aus diesen nicht geklärten Fragen ihre Argumente ziehen. Landauf, landab, Herr Bergemann, Sie haben Recht, wird über Europa geredet. Was Sie nicht gesagt haben, ist, wie wird denn teilweise darüber geredet, in welcher Art, mit welcher Geringschätzung. Ich meine, die Abstim

mung in Dänemark, so sehr ich für Volksentscheid bin, enttäuscht hat sie mich natürlich dennoch. Ich glaube, als Beispiel kann man für solche problematischen Dinge insbesondere die jetzt laufende Diskussion um das Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit nennen, denn diese Diskussion zeigt ganz genau, welche Gratwanderung momentan aus Zeitdruck und aus, sagen wir einmal, Änderungen von Verträgen gegangen wird, weil natürlich innerhalb der jetzigen EU wie auch innerhalb, sagen wir einmal, der neu Hinzukommenden damit immer Probleme aus deren nationalen Interessen und taktischen Erwägungen zu erwarten sind. Insofern hoffe ich, dass wir uns sehr zeitnah und sehr intensiv im Ausschuss dann wieder über das Thema unterhalten, wenn die Weichen für die Folgekonferenz gestellt sind, dass wir dann aber auf jeden Fall nicht den Fehler begehen, diese Aspekte, die ich jetzt versucht habe einmal zu umreißen, nicht mit anzusprechen, damit nicht etwas mit der berechtigten Forderung von Herrn Bergemann geschieht, es nämlich öfter zu thematisieren, nämlich dass dann aus dem Öfter etwas entsteht, wovor Herr Dr. Schuchardt gewarnt hat. Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Für die Landesregierung noch einmal Minister Gnauck. Bitte schön.

Vielen Dank, Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, nur einige kurze Anmerkungen. Zum einen freue ich mich darüber, dass mit breiter Harmonie die Ansichten, die im Bericht der Landesregierung vertreten worden sind, vom hohen Haus geteilt werden. Dafür auch meinen herzlichen Dank.

Ich möchte dann noch zu zwei Punkten kurz sprechen. Das eine, Herr Dr. Hahnemann, waren Ihre Ausführungen. Ich möchte noch einmal klarstellen - und Sie werden es auch im Protokoll nachlesen können - ich habe ausdrücklich gesagt, dass die Osterweiterung nicht als Blockadeinstrument eingesetzt werden darf, sondern ich habe gesagt, unter dem Druck der Osterweiterung muss das europäische Haus sich selbst in Ordnung bringen und muss als Hebel zur grundlegenden Reform eingesetzt werden - mit anderen Worten, unsere Reformunfähigkeit darf nicht dazu führen, dass wir die anderen vor der Tür stehen lassen. Ich möchte das gerne auch am Beispiel von Polen festmachen. Es kann nicht sein, dass die europäische Ebene und die europäischen Organe den Beitritt der Polen so lange zerreden, bis wir eine Europamüdigkeit in Polen bekommen. Da sind wir völlig einig - ich freue mich, dass Sie nicken.