Protokoll der Sitzung vom 08.11.2001

Denn wenn es daran Zweifel gibt, Herr Ministerpräsident, wie Demokratie funktioniert und wenn es eine Skepsis gegenüber den Mechanismen parlamentarischrepräsentativer Demokratie gibt, dann ist es die falsche Antwort, sich gegen die Flexibilisierung und die Erweiterung der parlamentarischen Demokratie zu wehren. Die komplette Infragestellung der parlamentarischen Demokratie hat nie jemand ins Auge gefasst.

(Beifall bei der PDS)

Und so halten wir es dann schon eher mit der Landtagspräsidentin, Frau Lieberknecht, die festgestellt hat:

(Zwischenruf Dr. Vogel, Ministerpräsident: Die ist verunsichert.)

"Mehr als 360.000 Bürgerinnen und Bürger möchten, dass die Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide gesenkt werden. Auch das ist ein Zeichen bürgerschaftlichen Engagements und zeigt den Willen, die Geschicke des Gemeinwesens als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mit zu bestimmen. Dahinter steht der Wunsch nach Mitwirkung und einer Möglichkeit, auch zwischen den Wahlen unmittelbarer und leichter als nach der aktuellen Verfassungslage Einfluss auf politische Sachfragen nehmen zu können." Auch die derzeitigen Vorschläge für mehr Öffentlichkeit der parlamentarischen Beratung, die Sie in die Tagesordnung der beiden jetzigen Plenarsitzungen eingebracht haben, meine Damen und Herren, sind halbherzig. Und ein gläserner Landtagsneubau ist noch lange nicht identisch mit einem transparenten Parlament.

(Beifall bei der PDS)

Bei der Betrachtung der Defizite darf es aber genauso wenig zu einem Verantwortungskarussel kommen. Es gilt nicht nur Schule, Bildung, Familie und Medien in die Verantwortung zu nehmen, hier ist zuallererst auch das eigene politische öffentliche Handeln zu hinterfragen.

(Beifall bei der PDS)

Wir erinnern Sie an Ihren Umgang mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz. Solche Behandlung von Schwulen und Lesben suggeriert zweierlei Maß der Behandlung von Menschen. Eine solche Art des Umgangs mit Menschen, die nicht der anerkannten Norm entsprechen, ist natürlich auch nicht sonderlich geeignet, etwas gegen die von Ihnen selbst beklagte weite Verbreitung einer Unterscheidung

von wertvollem und unwertem Leben zu leisten. Wie ernst haben Sie denn die Aufforderung des Monitors 2000 genommen, in dem bereits dieselbe Zustimmung zu dieser fatalen Unterscheidung deutlich wurde? Wo waren denn zum Beispiel die nötigen Signale der Landesregierung in der Angelegenheit Jusuf Ibrahim, wo die Unterstützung zur Aufarbeitung der Geschichte der Landespsychiatrien?

Zu einer anderen Fragestellung: Wenn man Probleme in der Haltung der Thüringerinnen und Thüringer zu Ausländern erkennt, dann hat man nach unserer Auffassung jede Verpflichtung, die Möglichkeiten zu nutzen, nicht nur die Informiertheit der Bevölkerung zu verbessern, sondern eben auch die Bedingungen der Ausländerinnen und Ausländer selbst so zu verändern, dass soziale Beziehungen entstehen können.

(Beifall bei der PDS)

Wo sind denn die durchgreifenden Anstrengungen der Landesregierung für die dezentrale Unterbringung von Ausländerinnen und Ausländern?

(Beifall bei der PDS)

Wo sind denn die Möglichkeiten für die Menschen, die weit entfernt in den Wäldern in isolierten Heimen leben müssen, wie in Georgenthal oder Mühlhausen, Deutsch zu lernen? Die gegenwärtigen Begründungen, Herr Ministerpräsident, für das neue Einwanderungsrecht kategorisieren Ausländer in Menschen, die uns nützen oder Menschen, die uns nichts nützen. Damit wird der Öffentlichkeit das Bild von Ausländern vermittelt, die erwünscht sind, weil sie der deutschen Wirtschaft nutzen.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU)

Der bayerische Innenminister Beckstein, Herr Althaus, das macht diese Welt nicht besser,

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Aber Sie machen sie erst recht nicht besser.)

steht ja nicht allein mit seiner Einordnung von Ausländern als Menschen, die Deutschland angeblich ausnutzen. Es gibt also keinen Grund für Verwunderung über die Aussage der Befragten, Ausländer würden den Sozialstaat ausnutzen, wenn auch die Bundes-CDU für eine stärkere Begrenzung der Einwanderung plädiert und darstellt, dass "Zuwanderung in den letzten Jahren vor allem in die sozialen Sicherungssysteme stattgefunden habe" und hier angeblich ein Umsteuern nötig sei.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Das sind Tatsachen.)

Solange die Anwesenheit von Ausländerinnen und Ausländern nicht als selbstverständlich gilt, muss man sich über eine Überfremdungseinschätzung bei 49 Prozent der

Befragten nicht wundern. Die Haltung des Thüringer Innenministers, der beispielsweise Flüchtlingen die Inanspruchnahme ihres Grundrechts auf Versammlungsfreiheit verwehren will, steht diesem Streben nach Selbstverständlichkeit diametral entgegen.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Flücht- linge sind doch nicht Zuwanderer. Sie brin- gen alles durcheinander.)

(Beifall bei der PDS)

Herr Althaus, die Bürgerinnen und Bürger nehmen die Unterscheidung bei der Wahrnahme politischer Äußerungen auch nicht wahr.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Sie woll- ten doch wenigstens präzise sein, wenn Sie hier reden.)

Wir haben doch eher einen Bedarf daran, den Thüringer Bürgerinnen und Bürgern über multikulturelle Feste und Wochen hinaus alltägliches Zusammenleben mit Ausländern zu ermöglichen. Deutsch-ausländische Gesellschaften - wie viele auch immer - allein können praktisches Zusammenleben nicht ersetzen.

(Beifall bei der PDS)

Und wenn Ihnen die Relativierung des Nationalsozialismus Sorgen macht, und dazu gibt es allen Grund, dann ziehen Sie sich doch die Initiative um eine Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Produktionsstätte deutscher Verbrennungsöfen auf Ihren Tisch, ohne dem Initiativkreis die Angelegenheit aus der Hand zu nehmen.

Wir teilen Ihre Auffassung, Herr Ministerpräsident, dass mit der Arbeit der Landeszentrale für politische Bildung an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Bereichen eine gute Bildungs- und Weiterbildungsarbeit gegen Rechtsextremismus geleistet wird. Politische Kultur aber kann nicht nur in geschlossenen Räumen stattfinden. Der Monitor 2001 konstatiert, was jeder weiß, es gibt einen Zusammenhang zwischen sozialer und beruflicher Situation und rechtsextremen Einstellungen. Aber was wird getan, um diese Situation insbesondere bei Jugendlichen zu verbessern? Denn die große Zukunftszufriedenheit der Thüringer Jugendlichen konzentriert sich hier wahrscheinlich mehr auf Erfurt oder Jena als auf benachteiligte Regionen wie Gera oder Nordhausen und Suhl. In der überalterten Thüringer Gesellschaft sind es gerade die jungen Frauen, die hier keine Zukunft sehen und deren viel beschworene Mobilität dazu führt, dass sie Thüringen verlassen. Hier sind die Einschätzungen der jungen Leute in Thüringen eklatant, was die Situation junger Familien angeht. Sie, Herr Ministerpräsident, konstatieren dagegen, dass die Auffassung der Jugendlichen nicht der wirklichen Lage entspräche, wenn sie im Bereich der Kinderbetreuung Probleme sehen und darin,

dass ihnen mit Kindern berufliche Nachteile entstünden. Es ist aber nicht nur so, dass die Einschätzung der Jugendlichen zutrifft angesichts der Erhöhung der Kosten für Kinderbetreuung mit dem Haushaltsbegleitgesetz zu den Kindertagesstätten. Es ist auch so, dass Sie dann auf eine wesentlich bessere Wirklichkeit verweisen, statt Maßnahmen auszubauen, wenn Sie der Auffassung sind, subjektive Einschätzungen entsprächen nicht der realen Problemlage.

(Beifall Abg. Nitzpon, PDS)

Wenn es aber um Kriminalitätsbefürchtungen und das subjektive Sicherheitsempfinden geht, ist genau das Gegenteil der Fall. Dabei würde genau eine realistische Einschätzung der Gefahrenlage hier notwendige Aufklärung des Bürgers bis hin zu einem gewissen Grad an Beruhigung bedeuten. Das Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger ist berechtigt und ernst zu nehmen. Man muss den Bürgerinnen und Bürgern allerdings auch sagen, dass Sicherheit nicht ein Geschenk des Staates, sondern nur das Resultat gestalteter Demokratie sein kann, selbst gestalteter Demokratie. Das Thüringer Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit im Freistaat ist symptomatisch für einen nach unserer Auffassung im Kern falschen politischen Trend. Es offenbart ein Sicherheitsdenken, zu dessen Eigenheiten die Bereitschaft zur Beschränkung der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger und das Skizzieren eines Bedrohungspotenzials gehört, das neben verständlichen Befürchtungen auch eine Reihe irrationaler Ängste produziert. Es ist verbunden mit einem hohen und falschen Preis. Statt Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen in eine Sicherheitskonzeption werden sie in erster Linie in ihrer Grundrechtswahrnahme beeinträchtigt.

Herr Ministerpräsident, sind Sie sich im Klaren, dass ein solcher Umgang mit dem Thema Gefahr läuft, Angst und Unsicherheit zu produzieren? Wir brauchen eine öffentliche Debatte über Ursachen von Kriminalität und letztlich auch über Ursachen des Terrorismus. Einsicht in die Ursachen ist der Schlüssel für wirksame Gegenwehr. Wir brauchen eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, die bemüht ist, an die Stelle repressiver Logik zivile zu setzen,

(Beifall bei der PDS)

Friedenslogik an die Stelle überholter und gefährlicher Kriegsmethodologie. Insofern können wir den Einsatz deutscher Soldaten in diesem Krieg wie in jedem anderen nicht gutheißen, unabhängig davon, ob sie angefordert worden sind oder nicht.

(Beifall bei der PDS)

Oskar Lafontaine hat durchaus Recht, wenn er die Position vertritt, Zitat aus dem "Stern": "Wer den Eindruck erweckt, er könne nicht erwarten, dass deutsche Soldaten in Afghanistan kämpfen, ist nicht reif, sondern unreif." Zivile und friedliche Logik braucht es außenpolitisch wie

innenpolitisch. Sie, Herr Ministerpräsident, aber laufen Gefahr, einem sicherheitspolitischen Denken das Wort zu reden, das die Bürgerinnen und Bürger aus der Sicherheitsgestaltung ausschließt und bereit ist, für angeblich mehr Sicherheit ein Stück tatsächliche Freiheit aufzugeben. Sie zitieren zu diesem Zweck sogar Benjamin Franklin. Dessen Feststellung aber müsste eigentlich lehren, dass Sie den falschen Weg einschlagen.

(Beifall bei der PDS)

Egal, ob die Pläne zur Video- und Telekommunikationsüberwachung, egal ob Lauschangriffe oder verdeckte Ermittler bei der Polizei oder so genannte sonstige verdeckt agierende Polizeibeamte oder eine präventive Rasterfahndung - mit einer aktuellen Bedrohungssituation hat das kaum zu tun. Es sind viel eher alte Wünsche konservativen Sicherheitsdenkens, das in mehr Staat an Stelle von mehr Bürgerrechten die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens sieht. So können wir dann auch nur vor der Erweiterung der Kompetenzen des Verfassungsschutzes warnen. Das verbale Bekenntnis, Herr Ministerpräsident, zur Einhaltung des Trennungsgebots mildert nicht die Gefahr, dass ein Geheimdienst mit einem fast voraussetzungslosen Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln sich nicht mehr nur im originären Bereich des Schutzes der verfassungsmäßigen Ordnung, sondern nun auch im Bereich der Polizei, der Kriminalitätsbekämpfung betätigen darf. Bedenkt man zugleich, dass geplant ist, Geheimdienst und Polizei zumindest informationell auf der Grundlage flexibler, lagebezogener Richtlinien zu verbinden, dann beruhigt die Information kaum, dass Exekutivbefugnisse beim Verfassungsschutz nicht vorgesehen sein sollen, denn damit ist das Trennungsgebot doch faktisch aufgehoben. Das kritisieren selbst zahlreiche konservative Verfassungsrechtler. Vor einer solchen Machtkonzentration in der Verbindung zwischen Polizei und Geheimdienst sollte die deutsche Geschichte uns warnen. Ob Sie nun Wilhelm von Humboldt zitieren oder Ihr Motto "Freiheit in Sicherheit" nennen, beides heißt doch in der Konsequenz: Sicherheit zuerst, Freiheit erst danach; Staat zuerst, Bürger erst danach. Eine solche Idee, die ein konstruiertes Grundrecht auf Sicherheit über die tatsächlichen Grundrechte stellt, erlaubt dem Staat, in die Rechte des Bürgers am Ende gegebenenfalls schrankenlos einzugreifen und eben an diesem Ende vielleicht nicht mehr zu deren, sondern zu seiner eigenen Sicherheit. Eine solche Idee entmündigt und entrechtet Bürgerinnen und Bürger. Meine Damen und Herren, das war nicht die Idee des Herbstes 1989 und das kann auch nicht die Botschaft des 9. November sein. Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Es hat jetzt das Wort Frau Abgeordnete Pelke, SPDFraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, das war sie jetzt, die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten unter der Überschrift "Thüringens Jugend hat Zukunft".

Lassen Sie mich einige Dinge vorwegschicken und dieses Mal, da der Ministerpräsident auch sehr oft Zitate benutzt, mit einem ebensolchen beginnen: "Ein Politiker wird nicht dadurch zum Experten, dass er etwas über etwas sagt." - Zitat Manfred Rommel, CDU.

(Beifall bei der SPD)

Sie, Herr Ministerpräsident, haben Manfred Rommel's Aussage hinlänglich bestätigt: Platt, verallgemeinernd, verharmlosend und in keiner Weise an den tatsächlichen Problemlagen Jugendlicher orientiert. Motto: "Alles wird besser, nichts wird gut!" Notwendige Schlussfolgerungen und damit politische Konsequenzen finden in Ihren Aussagen erst recht keine Erwähnung. Die Grundlagen Ihrer Feststellungen und möglicherweise auch Interpretationen, Herr Ministerpräsident, beziehen sich auf den diesjährigen Thüringen-Monitor, der repräsentativ Jugendliche und Erwachsene in Thüringen befragt hat. Eine Studie, Herr Ministerpräsident, die außer Ihnen und sicher Ihren Mitarbeitern bis vor wenigen Minuten keiner kannte und jetzt auch nur vom Sehen, denn sie soll ja erst nach der jetzt stattfindenden Debatte der gespannt wartenden Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Lassen Sie es mich, meine Damen und Herren, an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen: Ich halte einen solchen Umgang mit diesem wichtigen Thema und mit der Opposition, der Sie die Möglichkeit nehmen, sich mit dem Grundlagenmaterial zu befassen, für einen politischen Skandal.

(Beifall bei der PDS, SPD)

Nur nebenbei sei erwähnt, dass auch Ihre Ausführungen der Opposition erst am gestrigen späten Abend zur Verfügung standen. Nahezu lächerlich allerdings erscheint in diesem Zusammenhang, dass Sie, Herr Althaus, freundlicherweise am Dienstag - sicherlich sozusagen als stellvertretender Regierungssprecher - vor der Öffentlichkeit ankündigten, den Fraktionen ginge die Studie noch am gleichen Tag zu.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Das habe ich nicht angekündigt.)