Ich rufe als erste Rednerin Frau Abgeordnete Stangner ans Rednerpult. Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Abgeordneten, aus einem Gespräch mit der "Thüringer Allgemeinen" erfuhr ich von den Vorfällen in Weimar. Meine erste Reaktion war, das ist nicht wahr, das kann einfach nicht wahr sein. Es ist für mich nach wie vor nicht fassbar, dass über Jahre hinweg Schülerinnen und Schülern Rechte verwehrt wurden, auf die sie nach §§ 49 und 50 des Thüringer Schulgesetzes und § 55 der Thüringer Schulordnung einen Anspruch gehabt hätten. Dabei ist es egal, wie viele junge Menschen betroffen sind, egal, ob es 6, ob es 60 oder 77 sind.
Was ist passiert? Nachdem über Jahre hinweg unterschiedlich gehandelt wurde, gab es 1997 eine Vereinheitlichung, eine Vereinheitlichung zuungunsten der Schülerinnen und Schüler im heutigen Schulamtsbereich Weimar. Das Ausleseprinzip schlug zu. Nicht miteinander vereinbar ist, dass das Ministerium die dialogische Schulaufsicht praktiziert, es aber gleichzeitig von den Vorfällen, von dem Geschehen in Weimar keine Kenntnis hatte, zumindest bis vor kurzem, so die Aussagen. In der Erklärung des Kultusministeriums wird die Rechtsbeugung vornehm mit falscher Auslegung der Thüringer Schulordnung umschrieben. Man weist jede Schuld von sich und gibt sich eher in der Pose der drei berühmten Affen "nichts hören, nichts sehen, nichts sagen". Den schwarzen Peter bekommen, wie schon oft in anderen Situationen, zuerst die Eltern zugeschoben, die sich nicht ausreichend gewehrt hätten. Zudem wird kleingeredet, es sind nur sechs betroffen, es ist nur einer oder eine, die sich gemeldet hat. Ein Wort der Ent
schuldigung des jetzigen Ministers und des jetzigen Fraktionsvorsitzenden, in dessen Amtszeit als Kultusminister die unerhörten Vorfälle zurückreichen und den der jetzige Minister "beerbt" hat, liest oder hört man in der Öffentlichkeit nicht. Eine Entschuldigung, Bedauern über verpatzte Lebenschancen, über Defizite in der Ausbildung, über Verdienstdefizite war das Mindeste, was wir von Herrn Althaus und Herrn Dr. Krapp erwartet hätten.
Der entstandene Schaden, der Vertrauensverlust ist groß, vielleicht meldet sich ja auch deshalb nur einer oder eine. Dieser Vertrauensverlust geht einher mit Misstrauen und einem Motivationsverlust, vor allem bei Schülern und Eltern. Das ist kein gutes Klima für Schule, für Bildung und Erziehung.
Noch ein Wort zu den Pädagogen. Warum reagieren sie nicht kritischer, warum hinterfragen sie nicht Anordnungen, mit denen sie konfrontiert werden, viel stärker? Mich wundert das aus mehreren Gründen nicht. Ein Beispiel dazu, ein ganz aktuelles: Im Schulamt Artern geraten Pädagogen unter großen Druck, weil sie das Bedürfnis haben, sich kritisch mit dem Thüringer Schulsystem auseinander setzen zu wollen, um sich in die gegenwärtig laufende Debatte einzubringen. Es gibt andere Beispiele. Solche Beeinflussungen, Maßnahmen und Regelungen Ihrer Politik, meine Damen und Herren von der CDU, führen zu obrigkeitsstaatlichem Verhalten. Das ist schädlich für die Demokratie.
Gegenüber den betroffenen Schülern und Eltern müssen schnelle und unbürokratische Entscheidungen fallen in Bezug auf das Nachholen von Abschlüssen, falls das gewünscht wird, und auch im Hinblick auf Schadensersatzforderungen. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist mit Sicherheit noch nicht gesprochen. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, das ist ein untaugliches Mittel für Demokratie und für Politik.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, im Schulamtsbereich Weimar ist einer Reihe von Schülern Unrecht widerfahren. Das bedauere
Das ist unentschuldbar. Auf jeden Fall sind die fehlerhaften Vorgänge und die Verantwortlichkeiten vollständig zu klären. Wiederholungen müssen verhindert und Schäden für den Ruf des Thüringer Schulsystems begrenzt werden.
Nachdem in den Medien in den letzten Tagen viel, aber nicht alles berichtet worden ist, bin ich dankbar, an dieser Stelle Gelegenheit zu erhalten, die aktuelle Gesamtsicht auf die Vorfälle im Schulamtsbereich Weimar darzustellen.
Im Aufsichtsbereich des Staatlichen Schulamts Weimar ist mindestens ab 1997 Schülern der Klassenstufe 10 der Regelschule, die nicht zur Abschlussprüfung zugelassen wurden, die Wiederholung des Schuljahrs verwehrt worden. Vielmehr mussten diese Schüler die Schule mit einem Abgangszeugnis verlassen.
Meine Damen und Herren, man braucht gar nicht juristisch zu argumentieren, um das selbstverständliche Recht auf eine zweite Chance zu begründen. Das ist ein elementarer pädagogischer Grundsatz. Gleichwohl widerspricht diese Verfahrensweise auch den eindeutigen Regelungen des Thüringer Schulgesetzes und der Thüringer Schuldordnung. Es ist völlig klar, § 55 der Thüringer Schulordnung gibt allen Zehntklässlern eine zweite Chance. Diese grundsätzliche Regelung ist seit der ersten vorläufigen Schulordnung für die Regelschule vom 2. Juni 1991 unverändert. Mit der Thüringer Schulordnung vom 20. Januar 1994 wurde der einschlägige Paragraph um einen Absatz erweitert, der den Fall präzisiert, dass ein Schüler die Realschulabschlussprüfung nicht bestanden hat.
Zur Chronologie der verhängnisvollen Ereignisse lässt sich nach heutigem Erkenntnisstand Folgendes festhalten: Da der erweiterte § 55 im Bereich des staatlichen Schulamts Weimar uneinheitlich angewandt wurde, kam es am 23. Juni 1997 zu einer schriftlichen Anweisung des dortigen Referenten für Regelschulen, die Schüler ohne Prüfungszulassung von der Wiederholung des zehnten Schuljahres ausschloss, was rechtswidrig war. Ohne Prüfungszulassung waren im Bereich Weimar im Zeitraum von 1994 bis 1996 24 Schüler und im Zeitraum von 1997 bis 2001 77 Schüler. Von diesen Schülern ist nach derzeitiger Erkenntnis sechs Schülern die beantragte Wiederholung des zehnten Schuljahrs rechtswidrig verwehrt worden.
In einer Thüringer Tageszeitung wurde am 25. Mai 2002 zutreffend über die zweite Chance für jeden Realschüler der 10. Klasse berichtet. Daraufhin meldete sich eine Schule des Weimarer Schulamtsbereichs und fragte bei der amtierenden Regelschulreferentin nach dem gültigen Sachverhalt. Die Regelschulreferentin fragte ohne Einzelfallbezug am 29. Mai 2002 telefonisch beim Kultusministerium nach, wie die Frage der Wiederholung für Zehntklässler ohne Prüfungszulassung zu beantworten sei. Das Kultusministerium bestätigte, dass der Zeitungsbericht vom 25. Mai 2002 fachlich korrekt ist. Am 4. Juni 2002 erhielt der Pressesprecher des Thüringer Kultusministeriums den Hinweis von der Tageszeitung, dass im Staatlichen Schulamt Weimar im Einzelfall anders verfahren würde, als in der Schulordnung steht. Ich habe den Sachverhalt umgehend prüfen lassen und die Einstellung der rechtswidrigen Praxis veranlasst. Alle anderen Schulämter wurden informiert und nach ihrer einschlägigen Praxis befragt. Kein anderes Schulamt legte die Schulordnung im Sinne des Weimarer Schulamts aus. Am 6. Juni 2002 habe ich dann in einer Pressekonferenz die Öffentlichkeit informiert. Die Prüfung des gesamten Vorgangs einschließlich dienstrechtlicher Konsequenzen wurde eingeleitet, ebenso die Ermittlung der weiteren Laufbahnen der Geschädigten.
Bis heute haben sich beim Staatlichen Schulamt Weimar zwei tatsächlich Betroffene gemeldet. Nach den zurzeit verfügbaren Unterlagen haben über die Hälfte der seit 1997 betroffenen Schüler an einer Berufsschule einen dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Abschluss erreicht bzw. erreichen ihn in diesem Jahr.
So weit, meine Damen und Herren, mein Bericht zum heute gesicherten Stand der Aufklärung zu einem Vorfall, dessen weitere Untersuchung im Schulamt und im Ministerium noch andauert. Bislang wurden keine Unterlagen gefunden, die auf eine frühe Kenntnis des Ministeriums von der fehlerhaften Praxis im Bereich Weimar schließen ließen. Allen einschlägigen Hinweisen wird aber selbstverständlich nachgegangen, wie es bereits im Falle einer Elternsprecherin geschehen ist. Hier hat sich inzwischen allerdings herausgestellt, dass ein anderer Sachverhalt behandelt wurde. Auch das Ergebnis der Umfrage an den anderen Schulämtern wird noch einmal überprüft. Hinweise auf eine fehlerhafte Praxis dort ergeben sich daraus bisher nicht. Ich danke Ihnen.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch ich will, wie Herr Buse, die Frage stellen: Was will die PDS-Opposition mit dem Antrag zu dieser Aktuellen Stunde eigentlich erreichen? Ich will Ihnen sagen,
wie ich das sehe. Ich sehe das so, dass hinter dem Antrag zur Behandlung in der Aktuellen Stunde nicht das Interesse an sachlicher Aufklärung, sondern das eiskalte politische Kalkül steht, die Landesregierung durch Demontage eines Ministers ins Wanken zu bringen. Wie sonst ist es zu erklären, dass von Ihnen ein Rücktritt von Minister Krapp gefordert wird, noch bevor man sich mit der sachlichen Situation befasst hat.
Jetzt, wo sich herausstellt, dass die Zahl der Betroffenen nicht so hoch ist, ist das Thema für die Propagandaabteilung von Herrn Ramelow schon wieder in der Mottenkiste verschwunden.
(Zwischenruf Abg. Ramelow, PDS: Sie sind einfach unverschämt, wir reden von Menschen. Hier handelt es sich um Schüler, deren Leben kaputt gemacht wird.)
Ich darf dazu nur sagen, für uns ist diese Angelegenheit nicht so leicht abgetan. Es stehen noch mehrere offene Fragen im Raum.
Wie kann es sein, dass über mehrere Jahre eine rechtswidrige Praxis nicht bemerkt wird? Im Normalfall tauschen sich Schulleiter, tauschen sich Lehrer, aber auch Referenten im Schulamt natürlich über die Grenzen ihrer Schulen und ihres Schulamtsbereichs hinaus aus. Oder auch die Frage: Warum trifft ein Regelschulreferent eine solch schwer wiegende Entscheidung ohne Beteiligung seines Vorgesetzten bzw. eine Rückfrage beim Ministerium? Warum wurde die Angelegenheit trotz mehrerer Widersprüche denn nicht eher bekannt? Wir werden uns als Fraktion mit den Ergebnissen der Untersuchung des Kultusministeriums in diesem Fall beschäftigen und die Anwendung der Dienstordnung sollte aus meiner Sicht noch einmal genau angesehen werden, denn es muss uns gelingen, dass solche Vorfälle in Zukunft möglichst ausgeschlossen werden können.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ein Spiel um den schwarzen Peter ist im Gange und möglicherweise wird dieser schwarze Peter nicht bei demjenigen landen, der die Karten gemischt hat, nämlich beim Thüringer Kultusministerium, sondern beim Weimarer Referenten. Ein zynisches Zahlenspiel um die Anzahl der betroffenen Opfer ist es obendrein, Herr Emde hat es wieder beispielhaft vorgeführt.
Sind es nun sechs oder 60 Leidtragende, deren Lebensweg rechtswidrig geschädigt wurde; das Kultusministerium möchte diese Zahl so klein wie möglich halten und verfährt nach dem Motto, nur wer sich beschwert, hat ein Recht auf Recht. Das Ganze ist ein Skandal, der sich einreiht in eine Abfolge
skandalöser Fehlleistungen, die nicht erst mit Minister Krapp beginnen, doch in seiner Amtszeit, denke ich, einen traurigen Höhepunkt erreicht haben. Mit dem Ausschlussverfahren von Wiederholungsprüfungen ist das Weimarer Schulamt rechtswidrig über das Ziel hinausgeschossen, das die von Grund auf fragwürdige und falsche Strategie der CDU-Bildungspolitik in Thüringen insgesamt zeitigt, nämlich frühzeitig aussondern, Schüler mit partiellen Lernschwierigkeiten aussortieren, herausprüfen, nach unten durchreichen und schließlich aussondern. Die SPD fordert ein anderes Primat, helfen und fördern, Chancen eröffnen und Schülern mit Schwierigkeiten zur Seite stehen, auch noch betreuen und beraten, wenn jemand versagt. Wenn das, was in Weimar geschah, so lange nicht bemerkt wurde, so ist das ein erneuter Beweis auch dafür, dass die so genannte dialogische Schulaufsicht bloßes Gerede bleibt, so lange Eltern, Schüler und Lehrer auf Amtswegen eingeschüchtert werden, anstatt zur Mitwirkung und Initiative ermutigt und herausgefordert zu werden. Im Thüringenjournal des MDR hat Minister Krapp eingeräumt, dass Fehlleistungen, wie in Weimar geschehen, immer wieder auftreten können. Wenn ich mir das Thüringer Kultusministerium anschaue, so muss ich eingestehen, leider hat er Recht. Der Weimarer Fall liege so unglücklich, bekundete Herr Krapp, dass mir dazu nichts einfällt. Herr Minister, was muss eigentlich in Thüringen noch geschehen, damit Ihnen endlich einmal etwas Vernünftiges einfällt?
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in der Debatte zur Nichtgewährung einer Wiederholungsmöglichkeit der 10. Klasse im Realschulzweig der Regelschulen fehlt mir in der Form, wie Sie sie führen, Frau Dr. Stangner und Herr Döring, sowohl das Maß als auch das Ziel.