Protokoll der Sitzung vom 20.03.2013

Werte Kolleginnen und Kollegen, vor zehn Jahren wurde der große Wurf gefeiert - die Agendapolitik, die Probleme lösen sollte, die die Menschen hatten über Langzeitarbeitslosigkeit, Menschen, die abgehängt waren im Sozialhilfesystem, das sollte alles mit dem großen Wurf der Agendapolitik gelöst werden. Zehn Jahre später höre ich jetzt die Interpretation, dass der dafür zuständige Kanzler sagt, er hätte den gesetzlichen Mindestlohn damals gewollt, aber andere hätten es verhindert. Tatsache ist, dass wir zehn Jahre Agendapolitik erleben und niemand sich richtig traut zu sagen, wie die Wirkung für die Betroffenen ist. Niemand heißt, diejenigen, die inhaltlich die Agendapolitik getragen haben, sind heute nicht in der Lage, sich korrigierend mal auf den Standpunkt zu beziehen, was das eigentlich für abgehängte Menschen heißt, was heißt das eigentlich für Menschen, die abgedrängt sind in Niedriglohn, in Billigarbeit, in prekäre Beschäftigung.

(Beifall DIE LINKE)

Vor 10 Jahren ist das immer wieder thematisiert worden, dass die Agendapolitik nicht nur eine Auswirkung auf den arbeitslosen Hilfeempfänger hat, sondern auch für denjenigen, der beschäftigt ist, weil der Druck auf die Arbeitnehmer, auf die Tarifverträge, auf Tarifentwicklung, auf Tarifkämpfe immer weiter steigen wird. Jetzt erleben wir zehn Jahre später, was daraus geworden ist. Wir erleben, dass in Thüringen 35 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse mittlerweile atypisch sind. Das heißt, sie entsprechen nicht mehr dem, was man klassisch einem geregelten Arbeitsverhältnis früher zugewiesen hat, nämlich unbefristet, Vollzeit und tatsächlich in einem Regelarbeitswerk. 35 Prozent sind aus all diesen Bereichen heraus. Da sind ein Teil Niedriglöhne, es sind auch gut Verdienende dabei, es stimmt auch nicht, dass jeder Zeitarbeitnehmer einfach nur Niedriglöhner wäre, aber auch der gut Verdienende, der nach dem dritten Anschlussjob Angst haben muss, ob er denn eine Zukunft noch hat oder nicht oder wieder weggehen muss, auch der hat eine tiefe Verunsicherung und in der Familienplanung der Betroffenen merkt man das.

(Beifall DIE LINKE)

45 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer verdienen unter 1.500 € brutto monatlich. Das ist ein Wert, der uns eigentlich erschaudern lassen sollte,

(Minister Reinholz)

(Beifall DIE LINKE)

weil die Frage der vorgezeichneten Altersarmut damit schon klar zu sehen ist. Das heißt, über die Auswirkung der Agendapolitik in der Einteilung nach denen, die teilhaben, und denen, die immer hinterherziehen oder ganz ausgemustert sind, haben wir die Gleichmacherei, von der die FDP immer spricht, dass wir, DIE LINKE, alles gleich machen wollen. Nein, meine Damen und Herren, diese Politik macht Menschen alle gleich, zumindest diejenigen, die im Niedriglohnsektor tätig sind, sind alle gleich am Ende in der Altersarmut und sind auf staatliche Unterstützung unter demütigenden Umständen angewiesen.

(Beifall DIE LINKE)

Deswegen, meine Damen und Herren, wenn man Agendapolitik von Herrn Schröder und Rot-Grün mit Assistenz der CDU und der FDP beurteilen will, muss man sie beurteilen aus der Sicht der Menschen hier im Land. Da muss man sich anschauen, was es heißt, wenn ein Drittel derjenigen, die arbeitslos geworden sind im Verlauf der letzten Jahre, ein Drittel direkt in Hartz IV hineinrutschen und damit vom Arbeitslosengeldanspruch I überhaupt nichts mehr haben. Die andere Frage, die mich umtreibt, es ist damals immer gesagt worden, fordern und fördern. Ich habe so darüber nachgedacht, dass es ein großer Wurf wirklich wäre, Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe in ein funktionierendes System zusammenzufassen. Ich hätte das als einen großen Wurf angesehen. Was wurde gemacht? Es wurde sofort der Arbeitslosenhilferechtsanspruch, und davon war der überwiegende Anteil aus Ostdeutschland, auf Sozialhilfe heruntergestuft und die Systematik mit dem Fördern ist gescheitert, weil man sich über die verfassungsrechtlichen Probleme des Zusammenfassens der Förderinstrumente nicht im Klaren war und bis heute aus ideologischen Gründen immer mit der Spaltung weitergemacht hat. Die CDU hat damals durchgesetzt, das war aus Hessen die CDU, dass die Optionskommunen dann als Element mit eingebaut worden sind. Dann hat man angefangen, künstliche Kooperationsebenen zu schaffen. Tatsächlich ist es aber so, wenn eine Familie in dem System angelangt ist, und anschließend ein Kind eine Unterstützung braucht, geht die Ämtersucherei schon wieder los. Es gibt keinen Förderansatz, der aus einem Guss kommt. Und, meine Damen und Herren, was wir absolut vermissen, ein einklagbares Recht auf Arbeit, das einfachgesetzlich ausgestattet ist und arbeitslosen Menschen eine Perspektive in die Zukunft gibt, mit ihrer eigenen Hände Arbeit sich ernähren zu können, statt an einem so verkorksten System abgearbeitet zu werden und ausgegrenzt zu werden, meine Damen und Herren.

Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Agendapolitik heißt: Wir saßen einst in einem Boot, der Käpt’n lebt, die Mannschaft tot.

(Beifall DIE LINKE)

Vielen Dank. Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Baumann.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Ramelow, was Sie hier jetzt kundgetan haben, ist nur ein Teil der Wahrheit. Es ist nur ein Teil der Wahrheit und das zeugt nicht unbedingt von Ihrem Verständnis und auch von dem Antrag 10 Jahre Agenda 2010 und ihre Auswirkungen auf Thüringen -, weil Sie nämlich mehr als die Hälfte vergessen haben, was Agenda 2010 überhaupt gewesen ist.

(Unruhe DIE LINKE)

Das haben Sie nicht mit einem einzigen Wort hier begründet. Wie kam es dazu? Deutschland war in einer Situation um die Jahrtausendwende, hohe Arbeitslosigkeit, geringes Wachstum, Binnennachfrage sinkt, Deutschland war das Sorgenkind Europas. Von 1970 bis 2005 vervierfachten sich die Sozialausgaben und die Sozialsysteme standen vor dem Kollaps. Was tun? Eine Reform musste her, die das soziale System sichert, die Wachstum generiert und die Deutschland wieder zukunftsfähig gestaltet. Die SPD war es, die diesen mutigen Schritt gegangen ist, und das nicht zum ersten Mal in der Geschichte. Das war für uns, das gebe ich zu, das wissen wir auch, eine sehr schmerzliche Erfahrung, die aber dazu beigetragen hat, dass Thüringen in Deutschland nach zehn Jahren insgesamt besser dasteht, und ich will Ihnen das auch an einigen Beispielen erläutern.

(Zwischenruf Abg. Berninger, DIE LINKE: Da bin ich ja gespannt.)

Wir haben heute eine Arbeitslosigkeit in Thüringen von 9,5 Prozent. Wir hatten vor zehn Jahren 210.000 und hatten 16,7 Prozent. In Deutschland 6,9 Prozent heute und vor zehn Jahren über 10 Prozent. Nun will ich noch einen Vergleich ziehen, weil Sie immer sagen, wie schlecht es uns geht, und zwar einen Vergleich zu Spanien und Frankreich. Wir haben z.B. im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit im Jahr 2000 11,2 Prozent Jugendarbeitslosigkeit gehabt,

(Unruhe DIE LINKE)

(Abg. Ramelow)

heute haben wir 8,1. Spanien hatte 37,8 zum damaligen Zeitpunkt und hat heute 50,7 Prozent, Frankreich hat heute 23,1, sie haben sich nämlich an solch eine Reform nicht herangewagt. Ich könnte Ihnen, meine Zeit reicht nicht, noch mehrere Beispiele dafür geben. Positiv war, darüber reden Sie nicht, wir haben 25 Prozent mehr BAföG-Bezieher, wir haben 4 Mrd. für Ganztagsschulen ausgegeben, besondere Ausbildungsangebote für Jugendliche wurden aufgelegt, Sozialhilfeempfänger erhalten Zugang zu den Fördermaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Das sind die positiven Beispiele. Natürlich gab es auch negative Begleiterscheinungen.

(Beifall SPD)

Der Niedriglohnsektor hat sich verfestigt, da haben Sie recht, die geringfügige Beschäftigung hat zugenommen.

(Zwischenruf Abg. Korschewsky, DIE LINKE: Verfestigt? Vervielfacht.)

Die Lockerung im Kündigungsschutz, Arbeitslosenhilfe wird abgeschafft, verstärkte Leiharbeit wurde angeboten und die Auswirkungen auf die Zukunft und auf die Rente.

Nach zehn Jahren, wo Deutschland wirtschaftlich dasteht wie kein anderes Land in Europa, auch das haben Sie nicht dazugesagt - das verschweigen Sie, weil es ja nicht so ist.

(Unruhe DIE LINKE)

Fast unbeschadet ist Deutschland durch die Krise gekommen und es gilt natürlich jetzt, auch aufgrund der Tatsache, was sich verschlechtert hat, darüber nachzudenken, was wollen wir in der Zukunft machen. Auch das wird wieder kein einfacher Schritt und das wird für den einen oder anderen schmerzlich sein. Was brauchen wir? Wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn zur Existenzsicherung der Menschen und auch für das Alter. Wir brauchen eine bessere Tarifpolitik, wir brauchen Ideen für ein neues soziales Gleichgewicht, wir brauchen ein Verständnis der Wirtschaft, das darauf beruht, Arbeitnehmer wieder mehr am positiven Erfolg teilhaben zu lassen, Stichwort gute Arbeit und Tarifbindung. Wir brauchen die Investitionen weiterhin in die Bildung und wir brauchen eine gerechtere Verteilung des Geldes und eine gerechtere Steuerpolitik.

(Beifall SPD)

Wir brauchen eine soziale Sicherung und Vorsorge für die Menschen. Was wir auch brauchen, wir brauchen ein stärkeres Europa. Genau dafür steht die SPD und auch die SPD-Fraktion hier im Landtag. Das ist die Grundlage für unser Handeln auch hier im Thüringer Landtag. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall SPD)

(Unruhe DIE LINKE)

Vielen Dank. Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Abgeordnete Barth.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundeskanzler Gerhard Schröder hat im Jahr 2003 die Agenda unter anderem mit den Worten begründet, der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Er hat das auf der Grundlage des Befunds getan, den Kollege Baumann hier ja eben vorgetragen hat, und ich muss im Nachhinein auch sagen, es fällt einem ja nicht immer leicht, die politische Konkurrenz zu loben, aber an der Stelle war das staatspolitische Verantwortung, mit der die SPD auch den Verlust der Macht bezahlt hat. Das gehört dazu. Sein Finanzminister damals, ein gewisser Herr Steinbrück, dem einen oder anderen wird der Name vielleicht bekannt vorkommen, hat damals gesagt, das Problem in Deutschland sind die Bruttoarbeitskosten. Das Hauptproblem in Deutschland ist die Steuer- und Abgabenquote und damit die Art der Finanzierung unserer sozialen Transfers über eine Abgabe auf den Produktionsfaktor Arbeit.

(Beifall FDP)

Er hat übrigens die Steuerquote im Jahr 2003 gemeint, die ja dann auch entsprechend von Rot-Grün geändert wurde beim Spitzensteuersatz, dem Eingangssteuersatz, der gesenkt worden ist, und so weiter. Inzwischen sind sich fast alle Arbeitsmarktexperten einig und sagen, die Agenda 2010 war ein Erfolg.

(Zwischenruf Abg. Renner, DIE LINKE: Für die Menschen?)

(Zwischenruf Abg. Bärwolff, DIE LINKE: Die Frage ist, für wen.)

Gerade für die Menschen, natürlich für die Menschen. Fakt ist eben, dass flexible Beschäftigungsformen durch den Abbau von Hürden, von Arbeitsmarktzugangshürden, zu einem besseren und schnelleren Zugang besonders von Langzeitarbeitslosen und gering Qualifizierten auf den Arbeitsmarkt geführt haben. Und, Kollege Ramelow, das war wahrscheinlich noch der richtigste Teil an Ihrer Empörungsrede, die Sie hier gehalten haben, dass atypisches Beschäftigungsverhältnis eben nicht mit Armut gleichzusetzen ist.

(Zwischenruf Abg. Dr. Scheringer-Wright, DIE LINKE: Aber mit Existenzangst.)

(Abg. Baumann)

Es ist Fakt, dass insbesondere heute viele hoch Qualifizierte, die zunächst in befristeten Arbeitsverhältnissen, die ja als atypisch definiert sind, angestellt werden, in vergleichsweise kurzer Zeit dann in unbefristete, also sogenannte typische Arbeitsverhältnisse übernommen werden.

(Zwischenruf Abg. Leukefeld, DIE LINKE: Das stimmt eben nicht.)

Deshalb ist es Fakt und festzuhalten, dass die Reformen Deutschland den Weg zu wachstumsorientierter Wirtschaftspolitik und soliden Staatsfinanzen eröffnet haben, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deutschland wird heute um seinen funktionierenden Arbeitsmarkt beneidet und die Agenda 2010, das ist eine Wahrheit, ist zumindest ein Teil des Fundaments dieser Situation, in der wir heute sind. Ein anderer Teil ist übrigens unsere Wirtschaft, das sind die Unternehmen, das sind die Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall FDP)

Die Fakten auch in Thüringen sprechen eine klare Sprache. Thüringen hatte 2003 230.000 Arbeitslose, also fast eine Viertelmillion, heute sind es etwas mehr als 100.000. Also weniger als die Hälfte.

(Zwischenruf Abg. Ramelow, DIE LINKE: Und wie viele sind in den 10 Jahren abge- wandert?)

Wir haben 20.000 Arbeitsverhältnisse mehr in Thüringen, als wir 2003 hatten.

(Beifall FDP)

Wir haben 20.000 Beschäftigte mehr in Thüringen als 2003.