Protokoll der Sitzung vom 10.07.2013

Vielen Dank. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht Frau Abgeordnete Astrid Rothe-Beinlich.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn ich mir die Debatte auch heute wieder hier so anschaue, dann muss ich feststellen, dass es, glaube ich, als Allererstes darum geht, die Barrieren in den Köpfen abzubauen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn wenn wir hier vom Pult hören, dass offenkundig Begabungs- und Leistungsorientierung mit Inklusion nicht zusammengeht, dann wurde etwas ganz Grundsätzliches nicht verstanden, worum es eigentlich mit der UN-Konvention geht, nämlich dass jede und jeder das Recht hat, von Anfang an dabei zu sein, und zwar genau so, wie er oder sie ist, mit all den Schwächen, mit all den Stärken, mit möglichen Nachteilen,

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

mit möglichen Talenten, und dass es darum geht, tatsächlich jeden Menschen, jedes Kind von Anfang an bestmöglichst zu fördern.

(Beifall SPD)

Wie einem da als Allererstes das Aussortieren in den Kopf kommen kann, das erschließt sich mir nicht, außer es ist systemisch begründet, und das finden wir leider an ganz vielen Stellen vor. Wir haben über viele Jahre lang Kinder zunächst defizitorientiert sortiert und nicht danach geschaut, wie wir sie alle gleichermaßen mitnehmen. Und das heißt nicht, sie gleichzumachen, sondern jede und jeden individuell in den Blick zu nehmen. Am Dienstag nun ist ganz plötzlich das Thema der Regierungsmedienkonferenz geändert worden. Wir alle haben also festgestellt, dass der Inklusionsplan vorgestellt worden ist. Wir sind froh, dass es diesen Plan nun gibt, das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen, setzt er doch konsequent den parlamentarischen Auftrag unseres gemeinsamen Beschlusses von allen Fraktionen um, und dafür wollen wir durchaus auch Dank sagen. Allerdings, das will ich ganz deutlich anmerken, wird nicht nur aus dem 306-seitigen Bericht, sondern auch angesichts der aktuellen Debatte deutlich, dass es noch viel zu tun gibt. Und da gibt es, ich nenne es mal so, Kinderkrankheiten, die wir schon, als wir den gemeinsamen Beschluss auf den Weg gebracht haben, hätten anders angehen sollen und müssen. Ich meine hier den Trugschluss, man könne Inklusion mal eben so verordnen oder mal eben so von einem auf den anderen Tag Wirklichkeit werden lassen. Wenn Inklusion nämlich falsch angegangen wird, dann produzieren wir Erlebnisse des Scheiterns, dann produzieren wir vielleicht auch solche Geschichten, wie wir sie heute in der Zeitung nachlesen mussten. Das sind bittere Erfahrungen des Scheiterns, die in der Tat dem Ziel der Inklusion im Weg stehen, und deswegen ärgern sie mich auch so sehr, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben schon damals bei der Beratung des gemeinsamen Antrags deutlich gemacht, dass Inklusion Geld kostet und dass Inklusion niemals von der Haushaltslage abhängen darf. Natürlich darf sich niemand vormachen, dass mit einer halben zusätzlichen Stelle an jeder Schule plötzlich alle Schulen

(Abg. Hitzing)

auf Inklusion vorbereitet sind und für die Kinder die entsprechenden Bedingungen existieren, so dass man ihnen auch tatsächlich gerecht wird. Da bin ich sehr gespannt, liebe Frau Kanis, dass Sie gesagt haben, dass Sie die sächlichen und auch die personellen Voraussetzungen schaffen werden, um Inklusion in den Schulen mit Leben zu füllen. Denn das wird uns tatsächlich auch viel Geld kosten und das werden wir in die Hand nehmen müssen, wenn wir es ernst mit Inklusion meinen. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, wenn eine Fraktion hier im Thüringer Landtag kürzlich eine Tagung unter dem Motto „Inklusion als Selbstzweck“ auf die Beine stellt, denn das verunglimpft, meine ich, den guten und wichtigen Gedanken von Inklusion, von Miteinander, so wie wir ihn gemeinsam vertreten sollten.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unsere bündnisgrüne Schulministerin in NordrheinWestfalen hat in einer ähnlichen Debatte unlängst im Landtag in Düsseldorf gesagt, ich zitiere: „Der Weg zu einem inklusiven Schulsystem ist kein gemütlicher Spaziergang, sondern eine anspruchsvolle Bergwanderung, aber die Mühe des Aufstiegs wird sich lohnen.“ Das heißt aber auch, dass wir tatsächlich alle mitnehmen müssen auf diesem Weg. Ich habe mitunter den Eindruck, dass sich hier auch und gerade innerhalb der Koalition eher Knüppel zwischen die Beine geworfen werden, als gemeinsam an dieser Stelle nach vorn zu gehen.

Was mich ärgert, ist die zögerliche Haltung auch in dem neuen Plan,

(Unruhe CDU, SPD)

mit Blick beispielsweise auf die Lehrerinnenbildung. Da wurde ein guter Vorschlag von Prof. Benkmann aus Erfurt aufgegriffen. Aber was nicht enthalten ist, ist, dass konsequent der Umgang mit Heterogenität, sprich Inklusion, von Anfang an selbstverständlich zur Lehrerinnenausbildung gehören muss. Ich glaube, da gibt es in der Tat noch sehr viel zu tun, auch und gerade, was die Fachlichkeit anbelangt. Fakt ist, Teilhabe darf nicht von der Kassenlage des Landes abhängig gemacht werden. Ich bin gespannt, wie die Koalition nun zu ihren eigenen Plänen steht und ob dieses lange 306-seitige Konzept tatsächlich eine gemeinsame Arbeitsgrundlage wird oder nicht. Ich hoffe das sehr. Vielen herzlichen Dank.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank. Ich sehe keine Wortmeldungen mehr seitens der Abgeordneten. Das Wort hat Herr Minister Matschie für die Landesregierung.

Frau Präsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen, werte Gäste, vor ziemlich genau einem Jahr hat der Landtag einstimmig einen Beschluss gefasst und ich darf noch einmal den ersten Punkt zitieren aus diesem Beschluss: „Die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention erfordert im Freistaat Thüringen ein inklusives Bildungssystem, das den Prinzipien der Chancengerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit gerecht wird sowie ein gemeinsames Leben und Lernen von Menschen mit und ohne Behinderungen bei optimaler individueller Förderung ermöglicht.“ Mein Eindruck war damals, dass wir uns im Ziel, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen und diese Aufgabe gemeinsam anzupacken, einig sind. Bei einigen Beiträgen heute aus diesem Haus habe ich den Eindruck, dass dieses gemeinsame Ziel von einigen längst aufgegeben worden ist oder gar nicht wirklich ernsthaft verfolgt wird.

(Beifall SPD)

Herr Kollege Emde, wenn Sie sich heute in der TLZ zitieren lassen mit dem Satz „Man kommt mittlerweile in Thüringen leichter auf das Gymnasium als auf eine Förderschule“, dann ist das eine Art der Auseinandersetzung, die einem nicht gut tut, unseren Kindern hier in Thüringen.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Das stimmt.)

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann uns alle gemeinsam nur davor warnen, ideologische Debatten auf dem Rücken von Kindern hier in Thüringen auszutragen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Zwischenruf Abg. Meyer, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Pfui, pfui.)

(Zwischenruf Abg. Barth, FDP: Sie machen das doch.)

Das ist schädlich für die Entwicklung von Kindern hier im Land.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann Sie nur aufrufen, kehren Sie zur Gemeinsamkeit unseres Beschlusses zurück, den wir vor einem Jahr gefasst haben und der klar und eindeutig ist. Der lässt sich auch nicht in dieser oder in irgendeiner anderen Richtung trickreich auslegen, sondern er lautet genau so, wie ich ihn hier vorgetragen habe.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diese Einigkeit hier im Parlament ist notwendig, wenn wir eine gute Schulentwicklung haben wollen.

(Abg. Rothe-Beinlich)

Wir müssen uns einig sein in dem Ziel, die UN-Behindertenrechtskonvention auch hier in Deutschland mit Leben zu erfüllen und dafür zu sorgen, dass jedes Kind die bestmöglichen Entfaltungschancen bekommt, dass wir weiterkommen auf dem Weg eines Bildungssystems, das nicht automatisch erst einmal ausschließt, sondern das alle Anstrengungen unternimmt, um sinnvoll einzuschließen.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einmal einen kleinen Blick zurückwerfen. Denn das, worüber wir heute diskutieren, nämlich ein inklusives Bildungssystem in Thüringen, das ist keine Erfindung der letzten drei Jahre, sondern es ist eine Debatte, die seit den 90erJahren geführt wird und die 2003 in einem neuen Förderschulgesetz mündete. Herr Kollege Emde, ich darf Sie vielleicht noch einmal daran erinnern, 2003 hat die CDU mit absoluter Mehrheit in Thüringen regiert und sie hat damals ins Förderschulgesetz geschrieben: Es gibt einen Vorrang des Gemeinsamen Unterrichts vor der Förderschule. Das heißt, bei Förderbedarf ist immer erst zu prüfen, ist der Gemeinsame Unterricht möglich oder muss das Kind die Förderschule besuchen.

(Beifall SPD)

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Das ist doch logisch. Das hast du doch erlassen.)

Sie haben auch die Rechtsgrundlage dafür gelegt, dass es kein Letztentscheidungsrecht der Eltern gibt, sondern dass die letzte Entscheidung beim Schulamt liegt. Dieses Recht ist von uns überhaupt nicht verändert worden.

(Zwischenruf Abg. Mohring, CDU: Doch.)

Wenn Sie sich heute hier hinstellen und scheinheilig einfordern, wir würden die Rechte der Eltern missachten, dann packen Sie sich mal an der eigenen Nase und denken Sie darüber nach, was Sie vor Jahren beschlossen haben.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

(Zwischenruf Abg. Barth, FDP: Sie stellen sich aber gerne so hin, dass es so ist.)

Ich komme auf die Frage von Sinn und Unsinn dieser Regelung gleich noch einmal zurück.

Zunächst aber mal die Frage: Was hat sich 2003 entwickelt und verändert hier im Land bei der Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems? Ich darf noch mal die Ausgangslage beschreiben, die wir in den letzten Jahren vorgefunden haben. Ich habe mal die Zahlen aus dem Schuljahr 2007/2008 verglichen, wie sieht das eigentlich bundesweit aus, wie viele Kinder haben in einem Bundesland sonderpädagogischen Förderbedarf. Wir haben gesehen, dass die Quote in Thüringen zu diesem Zeitpunkt bei 9,2 Prozent aller Kinder lag, das heißt,

fast jedes zehnte Kind in Thüringen hatte sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert. Wir haben uns gefragt: Kann das wirklich Realität sein? Haben wir wirklich so viele Kinder, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben und von denen ein ganz großer Teil dann auch an Förderschulen unterrichtet wird? Wir haben gesehen, wir liegen weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt mit diesen Zahlen. Der bundesdeutsche Durchschnitt bewegt sich seit Jahren um die 6 Prozent Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Deshalb war folgerichtig die Frage zu stellen: Wie kommt es, dass wir so viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben? Liegt es daran, dass unsere Bevölkerung im Durchschnitt so viel schwierigere Bedingungen hat und so viel mehr Kinder hervorbringt, die solchen Förderbedarf haben, oder liegt es vielleicht an der Begutachtung, was die Kinder an Förderbedarf attestiert bekommen? Deshalb haben wir zuerst in die Qualität der Begutachtung investiert und haben dafür gesorgt, dass überall Teams zur Qualitätssicherung der Begutachtung zur Verfügung stehen aus erfahrenen Sonderpädagogen, die sich die Kinder genau anschauen, die jeden einzelnen Fall betrachten und dann eine Entscheidung treffen, gibt es sonderpädagogischen Förderbedarf, gibt es Förderbedarf leichterer Art, an welcher Schule kann dieser Förderbedarf am besten erfüllt werden.

Es gibt seit einiger Zeit Steuergruppen zur Weiterentwicklung der Förderzentren und des Gemeinsamen Unterrichts, ich betone noch mal, Weiterentwicklung der Förderzentren und des Gemeinsamen Unterrichts. Diese Steuergruppen sind in allen Landkreisen und kreisfreien Städten angesiedelt. Dort gibt es eine intensive Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Schulämtern, den Förderzentren, den Jugend- und Sozialämtern, den Schulverwaltungsämtern und dem Kinder- und Jugendgesundheitsdienst. Das sind die Beteiligten an den Steuergruppen vor Ort, die genau schauen, welche Bedingungen haben wir, was können die nächsten Schritte unserer Entwicklung sein.

Wir haben in den letzten Jahren auch dafür gesorgt, dass mehr Personal für den Gemeinsamen Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen zur Verfügung steht. Das ist nicht nur die berühmte halbe Stelle, die hier auch wieder zitiert worden ist, sondern diese halbe Stelle ist die Grundausstattung. Diese Grundausstattung bekommt jede Schule, auch wenn sie keine Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf hat. Und die bekommt jede Schule deshalb erst mal, weil natürlich auch präventive Arbeit sinnvoll und notwendig ist, auch wenn noch keine Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf da sind, aber anderweitiger pädagogischer Förderbedarf besteht, der vielleicht auch solche Unterstützung brauchen kann.

(Minister Matschie)

Darüber hinaus gibt es je nach Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf weitere Personalressourcen für die Schulen. Wir haben eine ganze Reihe von Schulen, an denen es mittlerweile zwei oder drei Stellen für Förderschullehrer gibt, weil dieser Förderbedarf vor Ort da ist.

Wir haben einen Beirat für inklusive Bildung ins Leben gerufen, in dem die unterschiedlichen Beteiligten, Interessengruppen, Verantwortlichen zusammenkommen, die dort in Arbeitsgruppen miteinander beraten, wie können wir inklusive Bildung in Thüringen sinnvoll gestalten. Das war eine Idee, die auf Anregung von Herrn Brockhausen zurückging, diesen Beirat einzurichten, die ich gern aufgegriffen habe, weil wir gemeinsam der Auffassung sind, wir müssen, damit ein solcher Prozess gelingen kann, damit sich das Bildungssystem positiv entwickeln kann, versuchen, eine möglichst große gesellschaftliche Einigung über diese Fragen hinzubekommen. Wir haben gestern als weiteren wichtigen Schritt einen Entwicklungsplan vorgelegt, der gestern im Kabinett beschlossen worden ist. An diesem Entwicklungsplan haben über 800 Schulen mitgearbeitet, die ihre eigenen Perspektivpapiere geschrieben und in die Diskussion eingebracht haben. Es haben alle Landkreise, alle kreisfreien Städte mitgearbeitet, es haben die Schulämter mitgearbeitet und wir haben externe Experten aus Wissenschaft und Praxis, die uns bei dieser Arbeit unterstützt haben. Ich will mich an dieser Stelle noch einmal bei allen, bei den Schulen und bei allen Verantwortlichen bedanken, die mitgeholfen haben, einen so detaillierten Entwicklungsplan auf die Beine zu stellen.