Protokoll der Sitzung vom 15.12.2017

Es sind auch Familien, die auf der Flucht getrennt werden, es ist manchmal der letzte Ausweg, den Jugendliche sehen, um ihre Familie zu retten.

(Beifall SPD)

Dann hier mal eben so flockig am Pult zu reden, das ist an Menschenverachtung wirklich kaum noch zu überbieten.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es kommen also zwangsläufig geflüchtete Kinder und Jugendliche auf der Suche nach Schutz in Deutschland an, die beispielsweise von ihren Eltern, Geschwistern oder anderen engen Verwandten getrennt wurden. Diese Kinder und Jugendlichen, die sich ohne Personensorgeberechtigte oder Erziehungsberechtigte in Deutschland aufhalten, sind nach § 42a SGB VIII ohne Wenn und Aber durch die öffentliche Jugendhilfe in Obhut zu nehmen. Die Einheit der Familie ist aus rechtlicher

Sicht von großer Bedeutung. Das ist Ihnen ja sonst angeblich so wichtig. Da muss man nur in das Grundgesetz, die UN-Menschenrechtskonvention und -Kinderrechtskonvention schauen. Wir meinen jedenfalls, auch für Stabilität, für Wohlergehen und die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist die Familie eine eminent wichtige Ressource, wenn ich das so sagen darf. Damit diese unbegleiteten Minderjährigen zukünftig wieder ein halbwegs normales Leben führen können, ist es also von besonders großer Bedeutung, dass sie baldmöglichst wieder mit ihren Familien zusammen sein können. Dabei geht es darum, dass die Familienangehörigen nach Deutschland nachgeholt werden können. Wer nämlich die Überschrift Ihres Antrags liest „Familienzusammenführung fördern - Altersfeststellung in Thüringen verbessern“, kommt ja vielleicht wirklich erst mal irrigerweise auf die Annahme, Sie würden tatsächlich Familienzusammenführung fördern wollen. In der Tat geht es Ihnen darum, Kinder und Jugendliche leichter abschieben zu können – um nichts anderes!

(Beifall DIE LINKE)

Frau Berninger hat es schon gesagt, dass sich die Situation für die Betroffenen aufgrund der Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte, auch durch das Asylpaket II übrigens, zunehmend schwierig gestaltet. Auf Bundesebene ist das Thema „Familiennachzug“ bekanntlich immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Als Grüne haben wir dieses Thema ja ganz zentral in den gescheiterten Sondierungen diskutiert. Hier wird auch gern mit massiv übertriebenen Zahlen im Millionenbereich gearbeitet. Sie müssen nur auf die Facebook-Seite von Herrn Rudy schauen, der da auch von Millionen fabuliert, die kommen würden.

Der tatsächliche Familiennachzug – Ihnen sind ja angeblich Zahlen so wichtig – ist aber weitaus geringer. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass auf einen Geflüchteten im Durchschnitt eben weniger als 0,3 nachziehende Personen kommen.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Das ist doch lächerlich!)

Wir fordern seit Langem, den Familiennachzug endlich wieder zu ermöglichen – übrigens auch für subsidiär Geschützte, denn Integration ohne Familie kann und wird nicht gelingen.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Insbesondere aber gilt es, für unbegleitete minderjährige Geflüchtete diese Hürden zu beseitigen. Jetzt will ich trotzdem auch noch mal auf die Altersfeststellung eingehen. Ich hatte ja schon aus der Stellungnahme der drei Fachverbände zitiert. Die Frage der Altersfeststellung ist in der Tat seit vielen Jahren heiß umstritten. Allerdings gehört die Ermittlung, ob jemand minderjährig ist, in der Praxis zu den größten Herausforderungen für die beteiligten

Fachkräfte und zu den gleichzeitig folgenreichsten Entscheidungen für die Betroffenen. Ich möchte daran erinnern, dass sich der Bildungsausschuss einmal auf eine Reise begeben hat, nämlich nach Hamburg. Dort haben wir eine Unterkunft besucht, in der unbegleitete Minderjährige untergebracht waren. Da ging es auch um die Frage, wie oft sie es eigentlich mit sogenannten Missbrauchsfällen zu tun hätten. Da haben uns die Betreuerinnen und Betreuer erzählt, dass viele der Jugendlichen in der Tat bei ihrer Ankunft erst einmal älter auf sie gewirkt haben. Es hat sich aber nach nur wenigen Wochen herausgestellt, dass dies Zeichen der Flucht waren. Diese jungen Menschen waren von der Flucht, von den Strapazen, von all dem, was sie durchleiden mussten, so gezeichnet, dass sie älter wirkten.

(Beifall DIE LINKE)

Der Prozentsatz derer, die tatsächlich nicht in diesem Alterssegment lagen – aus Hamburg, und das ist einer der Stadtstaaten, die, bevor die neue Gesetzesregelung kam, einen Großteil der Jugendlichen aufgenommen haben –, war minimal, verschwindend, meine sehr geehrten Damen und Herren. Sie reiten hier auf einer Populismuswelle, die wahrlich gefährlich ist.

(Beifall DIE LINKE, SPD)

Die Herausforderung ist also deswegen so groß, weil es ein Kennzeichen von Flucht ist, dass hier in der Regel keine langwierige Vorbereitung vorgeschaltet ist, sodass Kinder und Jugendliche oft ohne gültige Papiere nach Europa gelangen.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Ja, aber alle mit Handy!)

Auch im Nachhinein ist es in der Regel schwierig, die erforderlichen Dokumente aus den Heimatländern zu besorgen.

Ja, jetzt kommt wieder Ihr Einwurf, aber Sie haben alle ein Smartphone. Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist auch zynisch hoch 17!

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Nein, das ist die Realität!)

Das ist die einzige Möglichkeit, um überhaupt Kontakt zu halten. Es ist oft die einzige Möglichkeit, um eine Fluchtroute zu finden,

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

es ist das Einzige, was beim Überleben auf der Flucht hilft, und dann ist es natürlich auch richtig, darauf entsprechend zu achten.

Im Ergebnis haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge deshalb selten die Möglichkeit, ihr Alter zu dokumentieren. Kann eine Person ihr Alter nicht dokumentieren, lässt sich das genaue Alter auch

nicht feststellen. Das mit dem Geburtsdatum 01.01. beispielsweise ist eine Praxis, die in Ländern angewandt wird, wo das Geburtsdatum schlicht nicht erfasst wird. Das ist sozusagen ein Verwaltungsakt, dass den Jugendlichen dann ein solches Datum zugeordnet wird. Das haben sie sich nicht ausgesucht, das ist auch kein Spaß, sondern das wird Ihnen schlichtweg verwaltungstechnisch verordnet.

Lassen Sie es mich ganz klar aussprechen – das hat Frau Berninger auch schon gesagt –, das gefällt wahrscheinlich wenigen, aber es ist so: Es kann keine hundertprozentig zuverlässige Methode – übrigens auch keine medizinische – geben, um das Alter einer Person festzustellen. Es handelt sich also immer um eine Schätzung. Besonders fatal aber daran ist, dass dieser Wert darüber entscheidet, ob die Betroffenen Zugang zu kindeswohlgerechter Unterbringung, zu Unterstützung, zu eigenem Wohnraum, zu Bildung, zu rechtlicher Vertretung, zu Gesundheitsversorgung und möglicherweise sogar zu einem Aufenthaltstitel haben.

In Thüringen wird wie in vielen anderen Bundesländern auch bei der Frage, ob jemand minderjährig ist, dies im Wege der qualifizierten Inaugenscheinnahme eingeschätzt. Diese Inaugenscheinnahme soll zu einer Einschätzung der beteiligten Fachkräfte führen, ob wahrscheinlich Minderjährigkeit anzunehmen ist oder offensichtlich Volljährigkeit vorliegt. Die AfD kritisiert in ihrem Antrag, dass kein einheitliches Verfahren für Thüringen vorliege. Dabei hat das Landesjugendamt sehr klare und einheitliche Handlungsanweisungen auf der Internetseite veröffentlicht; die können Sie alle nachlesen.

Im Übrigen kann ich seitens der öffentlichen Jugendhilfeträger im Land ein sehr verantwortliches Handeln feststellen. Vielen Dank an dieser Stelle. Kurzum: Wir sehen hier keinen Handlungsbedarf. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass der Antrag der AfD nicht zustimmungsfähig ist.

Als Grüne sagen wir ganz klar, die Hürden für den Familiennachzug müssen weg, denn Integration gelingt nur gemeinsam. Niemand integriert sich hier, wenn die Familie in Unsicherheit bleibt. Das muss Ihnen klar sein.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern bleibe ich dabei: Wir können Ihren Antrag nur ablehnen. Ich wundere mich wirklich, dass Sie an Ihrem eigenen Zynismus nicht ersticken.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Als Nächstem erteile ich Abgeordneten Herrgott von der CDU-Fraktion das Wort.

(Abg. Rothe-Beinlich)

(Beifall CDU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was wir heute von der AfD hier mal wieder erlebt haben, war schon teilweise schauspielreif.

(Zwischenruf Abg. Möller, AfD: Das ist das, was von euch erwartet wird!)

Gemach, gemach, gemach!

(Zwischenruf Abg. Berninger, DIE LINKE: Das erwartet niemand von der CDU! Tat- sächlich nicht!)

Halbwahrheiten, Suggestionen, Weglassen an bestimmten Stellen und dann bekommt das Ganze natürlich eine bestimmte Richtung, die Ihnen am liebsten auch passt, damit Sie hier schöne Facebook-TV-Filmchen drehen können für Ihre eigenen Channels. Das ist alles in Ordnung, das können wir alles so machen. Aber wir können es nicht so stehen lassen, meine Damen und Herren.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

„Familienzusammenführung fördern – Altersfeststellung in Thüringen verbessern“: Liebe Kollegen von der AfD-Fraktion, ein Blick in die Praxis und ein Blick in die Gesetze helfen. Dann wäre auch nicht so ein kruder Antrag hier herausgekommen. Denn das Meiste, was Sie aufgeschrieben haben, sind schlichtweg einfach Dinge, die in der Praxis ganz normal stattfinden, wo wir uns auch als Landtag nicht jedes Mal versichern müssen, dass das auch gemacht wird, denn es wird gemacht.

Wenn ich mal Ihren ersten Punkt herausnehme, dass „die oberste Priorität beim Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen der Familienzusammenführung im Sinne des Kindeswohls“ …

(Unruhe AfD)

Ja, aber da haben Sie einen Punkt nicht richtig herausgearbeitet.

„Im Sinne des Kindeswohls“: Wenn Sie in die tatsächliche fachliche Praxis der Jugendhilfe in den Landkreisen, in den Kommunen schauen, werden Sie feststellen, dass bei ausländischen Kindern genauso wie bei deutschen Kindern die Zusammenführung mit der Familie, der Verbleib in der Familie oder die Rückkehr in die Familie nicht immer das oberste Prinzip für die Wahrung des Kindeswohls ist, sondern das ist die Einzelentscheidung des Jugendamts, des Trägers vor Ort, ob es das richtige Mittel ist.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen hier in Ihrem Antrag festzuschreiben, das ist das oberste und primärste Ziel und nur in Ausnahmefällen darf davon abgewichen werden, widerspricht schlichtweg der fachlichen Praxis und den Standards in der Jugendhilfe. Also noch mal nachschauen, noch mal nachlesen und vielleicht auch mit der Praxis einfach unterhalten.

(Beifall CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)