Steffen Reiche

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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wenn wir Europa voranbringen, dann bringt uns Europa voran. Das ist die Erfahrung aus 60 Jahren Frieden und über 50 Jahren europäischer Integration. Ohne diese 50 Jahre europäischer Integration hätten wir nicht 60 Jahre lang Frieden in Europa. Uns allen fehlt die Erfahrung von Krieg. Wohlstand und Wachstum sind uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden, Europa ebenfalls. Manche denken, wir hätten genug Europa. Manche
haben mittlerweile auch genug von Europa und glauben, man könnte jetzt auch ein bisschen kürzer treten.
Europa ist noch nicht in Gefahr; das stimmt. Aber die Gefahren für Europa wachsen. Wenn zwei Gründungsländer „Non“ und „Nee“ sagen, die Briten die Abstimmung über diese Frage aussetzen und die Abstimmung über den EU-Haushalt in der nächsten Woche in Luxemburg vielleicht nicht zustande kommt, dann reden wir keine Krise herbei, sondern dann sind wir in einer Krise.
Natürlich nimmt der harte und täglich härter werdende Wettbewerb um Arbeitsplätze, aber auch um Wohlstand mit den anderen großen Wirtschaftsräumen dieser Erde, mit den USA und dem fernöstlichen Raum rund um Japan, zu.
Die Erreichung der im Rahmen des Lissabon-Prozesses vorgegebenen Reformziele bzw. des Wohlstandsziels bis 2010 haben wir aufgegeben - das ist viel zu wenig bekannt und uns viel zu wenig bewusst -, weil wir bei der Halbzeitbilanz 2005 genau gesehen haben, dass die Voraussetzungen für die Zielerreichung in den ersten fünf Jahren nicht geschaffen worden sind.
Als Beispiel für den Blick von außen nenne ich den großen amerikanischen Denker Jeremy Rifkin. Er sagt: Diese leise Supermacht hat ein riesiges Potenzial, um den Menschheitstraum, Wohlstand und Lebensqualität mit Frieden in der Welt zu versöhnen und zu leben, zu verwirklichen. Aber dieser europäische Traum muss, damit er organisiert und gelebt werden kann, von uns gemeinsam geträumt werden.
Wir brauchen mehr Leidenschaft für Europa. Darin liegt eine der zentralen Antworten auf die Frage, warum die Referenden gescheitert sind bzw. die noch folgenden scheitern könnten. In vielen Diskussionen wird argumentiert: Die Erfolge von Politik kommen aus den Nationalstaaten, die Probleme werden in Brüssel organisiert. - Solange diese Aufteilung im Denken der Menschen vorherrscht, werden sich die Menschen für das Menschheitsprojekt der Europäischen Union, für das, was in Brüssel für uns und mit uns organisiert wird, nicht begeistern können.
In der Europäischen Kommission arbeiten viele exzellente Leute an diesem Menschheitsprojekt. Was bisher durch Kriege erreicht worden ist - die Ausweitung von Macht- und Rechtsräumen -, wird erstmals in der Menschheitsgeschichte durch Gespräche und durch die Übernahme von Standards gegen den Transfer finanzieller Mittel erreicht. Die Nationalstaaten allein sind nicht fähig, die Probleme und die Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu bewältigen. In den Köpfen der Menschen ist viel zu wenig die Einsicht angekommen - weil wir es ihnen zu selten sagen -, dass die Probleme von heute bestenfalls von Europa gelöst werden. Ich erinnere an die sich aus der Globalisierung ergebenden Probleme, an die Umweltprobleme und an das, was in Bezug auf einen grassierenden Kapitalismus, der sich kaum eingrenzen, kaum bestimmen lässt, mit "Heuschrecken" beschrieben worden ist. All das löst bestenfalls Europa. Hätten wir weniger Probleme, könnten wir uns auch weniger Europa leisten. Aber weil wir moderne Probleme haben, brauchen wir moderne Antworten. Diese können wir nur gemeinsam in Europa entwickeln.
Dass Europa so schwierig ist, hängt auch damit zusammen, dass so viele mitreden wollen und mitreden müssen; das ist al
ternativlos. Wird von der EU-Ebene ein Lösungsvorschlag zum Binnenmarkt, zu den Umweltstandards oder zu anderen Problemen unterbreitet, dann ist er in der Regel klar formuliert, verständlich und stringent gedacht. Dann beugen sich 25 Staaten, der Europäische Rat und das Parlament darüber; es gibt Präzisierungen, Ausnahmen und Sonderrechte. Aus ursprünglich klaren Formulierungen wachsen riesige Apparate von Verfassungen bzw. Verträgen.
Die europäische Verfassung hat 66 000 Wörter. Ging es nicht kürzer? Die Frage ist berechtigt. Natürlich wäre es kürzer gegangen! Aber es müssen auch die Gründe bedacht und genannt werden, warum der Verfassungsvertrag ein so komplexes Buch geworden ist. Der Verfassungsvertrag ersetzt mehrere Meter vieler verschiedener Verträge durch ein einziges Buch. Wir machen - auch hier im Parlament - immer wieder die Erfahrung: Was nicht geregelt ist, führt danach häufig zu Problemen. Deshalb hat man im verfassunggebenden Prozess versucht, die Probleme vorherzusehen und Lösungen anzubieten.
Der Verfassungsvertrag ist ein Kompromiss; einer hat dem anderen vieles abgerungen. Die deutsche Gruppe - ich nenne stellvertretend für viele andere Roman Herzog und Elmar Brok - hat versucht, in die Verhandlungen auch vieles von dem einzubringen, was sich die PDS gewünscht hat. Es handelt sich aber um einen Kompromiss mit 24 anderen Staaten, deren Parlamenten und anderen. Es fehlt ein wenig das Verständnis dafür, dass Sie nicht sagen: Ein Kompromiss ist besser als die Ablehnung des gesamten Vertragswerks.
Die EU bleibt bestehen; insofern gibt es nicht die Krise, die sich mancher wünscht. Aber sie kommt zurzeit nicht voran; sie kann nicht das leisten, was die Bürger zu Recht von ihr erwarten. Wenn wir nicht zu mehr Integration bereit sind, können wir auch nicht mehr Probleme gemeinsam anpacken und lösen.
Der Nizza-Vertrag ist für 15, nicht für 25 Staaten konzipiert worden. Nizza - das ist wie Morsen, wenn man Festnetz haben kann. Wir brauchen die moderne Lösung, die mit dem Verfassungsvertrag jetzt schon möglich ist, um Fortschritte bei der Bewältigung der von Ihnen zu Recht genannten Probleme zu ermöglichen. Diese Probleme werden nur angepackt und gelöst werden können, wenn wir den wichtigen Zwischenschritt des Verfassungsvertrags gehen.
Wir geben nur 1 % in Europa für das Wichtigste aus - um den Frieden erhalten zu können. Wir sind nach wie vor bereit, für das Militär und anderes viel mehr auszugeben.
Für das Wichtigste, was wir brauchen, um Wirtschaft, Binnenmarkt, Wohlstand und Entwicklung zu organisieren, haben wir immer noch keine eigene Steuerhoheit. Das ist ein Problem, um nicht zu sagen: ein Skandal!
Wir müssen europäisch denken, damit wir europäisch leben können. Wenn Sie „Sehr richtig!“ sagen, dann gehen Sie mit uns den Weg und werben auch Sie für die europäische Verfassung! Sie ist die Voraussetzung dafür, dass im Europäischen Rat, im Europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission endlich ein Konsens über eine Einnahmequelle in Form eigener Steuern erzielt werden kann.
Wir hängen mehr als jeder andere davon ab, dass es mehr Europa gibt. Im Jahre 2002 verzeichneten wir als Exportweltmeister von 2001 ein Exportwachstum von 10,5 %, 2003 waren es noch einmal 9,5 %. Das entspricht 20 % Exportwachstum allein in zwei Jahren. Warum? Weil wir im Ergebnis der neuen Binnenmarktregelungen über 70 % unseres Wachstums aus dem Handel mit den übrigen EU-Staaten generieren. Wir sind die Hauptprofiteure. Insofern ist es gut, wenn wir bereit sind, für den europäischen Prozess mehr zur Verfügung zu stellen.
Das letzte europäische Jahr - es dauerte von Mai 2004 bis zum Mai dieses Jahres - war ein Jahr der „enttäuschten Befürchtungen“. Viele hatten vermutet, in der EU der 25 werde es große Probleme geben. Diese Sorgen sind, so sagen uns die Polen und viele andere, „enttäuscht“ worden.
Lassen Sie uns deshalb auf diesem Weg weiter vorangehen. Wenn wir Europa voranbringen, dann bringt uns Europa voran. Weniger Europa können wir uns nicht leisten; wir sind zu abhängig voneinander. Europa ist unsere einzige Brücke in die Zukunft. Wenn wir diese Brücke kaputtgehen lassen, dann haben wir sehr viel weniger Zukunft, als wir haben könnten. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die DVU hat Probleme genannt, die wir alle auch sehen, und sagt deshalb: Volle Kraft zurück! Die Probleme, die Sie und wir auch sehen, kann man nur mithilfe angemessener Instrumente lösen.
Sie sagen zu Recht, in Europa gebe es Steuerdumping. Sie wissen vermutlich, dass die einzige tragfähige Antwort auf dieses Problem ist, in Europa Mindeststeuern einzuführen. Richtig! Das ist übrigens auch ein Vorschlag des Bundeskanzlers. Wenn man aber diesen Weg gehen will, muss man bereit sein, Souveränitätsrechte, nämlich Steuerhoheit, an die Europäische Union abzugeben. Genau das sind Sie nicht. Es ist doch schizophren, ein Problem zu nennen, die Lösung zu fordern und genau das, was einzig und allein diese Lösung ermöglicht, im gleichen Atemzug zu verbieten.
Ein anderes Beispiel: Sie nannten das Problem der Fleischer. Es ist ein dramatisches - richtig. Aber es ist doch kein europäisches Problem, sondern ein Problem von Kriminalität. Das, was dort gemacht worden ist, hängt nicht mit europäischen Richtlinien zusammen, sondern mit der kriminellen Energie Einzelner. Dies muss durch die Polizei, durch klare europäi
sche Regelungen bekämpft werden und nicht dadurch, dass man Europa bekämpft.
Um die wahren Probleme, die es in der EU gibt, anzugehen, brauchen wir diesen Verfassungsvertrag. Dafür brauchen wir andere Entscheidungsprozesse. Deshalb muss die Denkpause eine Pause für das Denken und nicht etwa eine Pause im Denken sein.
Wir müssen natürlich weiterhin handlungsfähig bleiben. Der Gipfel bezüglich der Finanzen muss Erfolg haben. In Luxemburg und Dänemark muss eine Entscheidung getroffen werden. Es muss mit Rumänien und Bulgarien weiter verhandelt werden.
Wenn die DVU dann sagt, die Beitritte, die organisiert werden sollen, wären überstürzt, muss man bedenken, dass das Lebenszeit von vielen Millionen Menschen bedeutet, die - über mehrere Generationen - fast 60 Jahre gewartet haben. Es ist doch nicht überstürzt, wenn man gegen seinen Willen 40 Jahre Kommunismus erlebt und sich 14 Jahre lang in einem schwierigen und angemessenen Prozess vorbereitet hat, um in die Europäische Union zu kommen. Europa haben wir von unseren Eltern und Großeltern ererbt. Es ist die Garantie für die Zukunft. Deshalb müssen wir Europa für unsere Kinder pflegen, entwickeln und vor allem bewahren.
Zum Beispiel werden wir den demografischen Kollaps, den wir insbesondere hier in Deutschland, aber auch in Italien und anderen Gründerstaaten der Europäischen Union spüren, nur bewältigen, wenn wir Freizügigkeit für Personen in Europa haben, wenn sich diese Menschen jetzt in ihrer Ausbildungszeit auf das Zusammenwachsen in Europa mit gleichen Rechtsstandards, aber natürlich unterschiedlichen nationalen Traditionen vorbereiten können und wenn wir bereit sind, die Grenzen zu öffnen und mit den großen Nationen bzw. Ballungsräumen dieser Erde - China, Japan und den USA - im Wettbewerb um Menschen zu stehen.
Europa ist das Beste, was wir unseren Kindern hinterlassen können. Sie sind darauf angewiesen, dass wir dieses Geschenk für sie und auch als Geschenk an die Welt weiterentwickeln, denn wir zeigen ihnen mit diesem verwirklichten europäischen Traum, mit dem Zusammenrücken von Nationen, dem Abgeben von Souveränitätsrechten von Nationen auf eine supranationale Ebene, dass das, was Probleme in dieser Welt lösen kann, nämlich good global governments, in der Europäischen Union organisiert wird. Deshalb soll die Kritik ruhig geäußert werden. Das verträgt Europa. Aber wir müssen für Europa auch die Instrumente bereithalten, damit die Probleme, an deren Bestehen zu Recht Kritik geäußert wird, in Zukunft gelöst werden können. Insofern: Lassen Sie uns gemeinsam für Europa kämpfen und diesen europäischen Traum träumen und verwirklichen! - Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Gerade hat es einen spannenden Wettbewerb um die Ansiedlung eines großen Dienstleistungsunternehmens gegeben; es ging um 600 neue Arbeitsplätze bei mehr als 100 europäischen Tochterfirmen von BASF. Gewonnen hat die größte Stadt in Brandenburg: Berlin gegen Bratislava. Es geht also. Das Angebot an gut qualifizierten Arbeitskräften hat dafür den Ausschlag gegeben.
Der Lissabon-Prozess ist gerade in seine Halbzeit eingetreten. Wim Kok hat den Staats- und Regierungschefs in seinem Bericht erklärt, das Ziel, bis 2010 stärkste und dynamischste Wirtschaftsregion der Erde zu werden, sei mit den bisherigen Mitteln nicht zu erreichen. Wir brauchen größere Reformanstrengungen. Die Dienstleistungsrichtlinie ist in diesem Zusammenhang ein ganz zentraler Baustein.
Nach der Liberalisierung der Produkt- und Kapitalströme brauchen wir auch eine Liberalisierung, den europaweiten freien Handel mit Dienstleistungen. Ohne dies werden wir den Lissabon-Prozess nicht zum Erfolg bringen können. Wir diskutieren das strittigste, außerordentlich wichtige Thema, nämlich die Dienstleistungsrichtlinie für Europa, allerdings leider nur auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners. Schon im vergangenen Jahr habe ich im Ausschuss den Vorschlag unterbreitet, dass wir gemeinsam einen Antrag für eine solche Debatte erstellen. Der Antrag ist vorgelegt worden, aber wir haben leider nicht die Einwilligung des Koalitionspartners bekommen. Insofern ist es - wieder einmal - leider nicht zu einem in dieser Frage wichtigen und notwendigen gemeinsamen Meinungsbildungsprozess und zu einer gemeinsamen Position gekommen. Mit ihr hätte der Bundesratspräsident natürlich viel besser argumentieren, die Auseinandersetzung mit den Ländern führen bzw. die Position gegenüber dem Bund besser vertreten können.
Die Grundmelodie der DVU ist in diesem Zusammenhang „Deutschland, Deutschland über alles“. Die PDS ist leider nicht bei den beiden kritischen Sätzen, die ich gern von Herrn Gehrcke in den von mir vorgeschlagenen Antrag übernommen hätte, geblieben, sondern hat an mehreren Stellen eine Reihe sehr fundamentaler Positionen. Was noch schlimmer ist: Sie vergessen Ihre guten Vorschläge und Vorsätze aus den entwicklungs- und europapolitischen Debatten. Wenn es um den Frieden geht, stehen Sie ganz klar für den proletarischen Internationalismus, geht es aber um Arbeitsplätze, dann werden Sie viel konsequenter national. Das ist nicht stringent, nicht konse
quent gedacht und ich meine, so kann man nicht wirklich sinnvoll Politik betreiben. Frieden und freier Handel sind die beiden Seiten einer Medaille.
Ich denke, wir werden in dieser Frage miteinander im Gespräch bleiben müssen, denn es geht darum, dass nach den 30 % der Wirtschaft, die liberalisiert worden sind, nun auch der eigentlich größte Batzen des Bruttosozialprodukts bzw. der Wirtschaft liberalisiert werden muss. Das sind 70 % der Wirtschaftskraft in der Europäischen Union, eben die Dienstleistungen. Wer Angst vor dem freien Handel hat, ist letztlich nicht nur feige, sondern dumm. Wir haben mit dem Konzept der Liberalisierung und des freien Handels einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein Wachstum des Wohlstands in Europa erreicht. Wenn wir jetzt noch sozusagen den größeren Teil, nämlich die verbliebenen 70 %, in der gleichen konsequenten Weise liberalisieren, dann, denke ich, werden wir ein spürbares Wachstum nicht nur im Handel, sondern im Wohlstandsbereich für alle Menschen in Europa erreichen, und zwar zuallererst natürlich für den größten Bereich innerhalb der Europäischen Union: für Deutschland. Das eingangs genannte Beispiel hat es deutlich gemacht: Wir importieren nicht nur die meisten Dienstleistungen, sondern exportieren auch die meisten Dienstleistungen.
Herr Sabathil hat uns, als wir mit dem Ausschuss in Berlin waren, gesagt, wir exportieren auch die teuersten Dienstleistungen, nämlich jene im Industriebereich. Deutschland ist in den Jahren 2003 und 2004 nicht nur, wie in den Jahren zuvor, Exportweltmeister gewesen, sondern wir haben auf der Basis des Jahres 2001 im Jahre 2003 sogar noch einmal 9 % und im Jahre 2004 10 % Wachstum im Export draufgelegt. Das macht deutlich, dass Deutschland in der Europäischen Union von der Liberalisierung der Handelsströme und damit perspektivisch auch von den Dienstleistungen am meisten profitiert.
Genauso deutlich muss aber auch Folgendes gesagt werden: Die vorliegende Dienstleistungsrichtlinie hat eine ganze Reihe von Mängeln. Wir müssen - insoweit stimme ich mit all den kritischen Tönen in den drei Anträgen ausdrücklich überein „the race to the bottom“, also den Wettbewerb um den niedrigsten Standard, verhindern. Das muss im Grunde auch die Europäische Union tun; denn das Ziel ist Harmonisierung und nicht, dass wir uns irgendwann, in fünf oder in zehn Jahren, auf das niedrigste Niveau eines Mitgliedsstaats einpendeln, weil dieser seine Dienstleistungen beliebig und unbegrenzt exportieren kann.
Es gibt weitere Probleme, die im Zusammenhang mit der Liberalisierung auftreten können und denen wir wehren müssen, zum Beispiel im Gentechnikbereich. Die politisch brisante Entwicklung muss verhindert werden, dass Staaten nach dem Herkunftslandprinzip plötzlich hier Produkte anbauen, deren Anbau wegen der hiesigen Gentechnikentscheidung eigentlich nicht erlaubt ist, oder dass die in Deutschland aus guten Gründen verbotene Stammzellforschung dann doch hier praktiziert werden kann, weil das nach dem Herkunftslandprinzip möglich wäre, oder dass in Deutschland verbotene Medieninhalte über die Dienstleistungsrichtlinie in unsere Netze hier eingespeist werden und damit etwas geschieht, was wir aus guten Gründen nicht wollen.
Evelyn Gebhardt, die Berichterstatterin im Europäischen Parlament, hat deshalb dazu gesagt: Im Hinblick auf einen gesunden
Wettbewerb sind gemeinsame Regeln, also eine Mischung von Harmonisierung und gegenseitiger Anerkennung, unentbehrlich. Nur in diesem Sinne kann man sich vorstellen, zu bestimmten Bedingungen und auf bestimmten Gebieten das Ursprungslandprinzip einzuführen.
Insofern muss man sich sehr genau anschauen, welche Übergangsentscheidungen, welche Ausnahmetatbestände es im Bau- bzw. Gesundheitsbereich gibt. Wir sollten aber auch sehr genau hören, dass eine große Zahl von Anbietern aus guten Gründen, nämlich um Dienstleistungen für die Bürger auch kostengünstiger zu machen, schon jetzt fordert, dass die Dienstleistungsrichtlinie auch in ihrem Bereich Gültigkeit hat. Insofern ist diese Regelung in einem Prozess, den Bundeskanzler Schröder intensiv begleitet. Er war dieserhalb gerade bei Herrn Barroso und hat ihm die Interessen der Deutschen in diesem Prozess klar dargelegt.
Im Grunde genommen gibt es nur drei Möglichkeiten, zwischen denen wir uns entscheiden müssen.
Die erste Möglichkeit ist der Status quo. Dieser führte dazu, dass wir den Lissabon-Prozess nicht mit Erfolg würden gewinnen können, dass das selbst gesteckte Ziel nicht erreicht werden könnte.
Die zweite Möglichkeit - das ist der Vorschlag der PDS-Fraktion - besteht darin, dass vonseiten der Europäischen Union an vielen Stellen eine Harmonisierung vorgegeben wird, also Mindeststandards und Ähnliches definiert werden. Allerdings hören wir in der Diskussion mit den Bürgern immer wieder Kritik an der Bürokratie im Bereich der Europäischen Union. Wenn man Ihren Vorschlag konsequent zu Ende denkt, erkennt man, dass er eine riesige Flut von Harmonisierungsvorschriften seitens der Europäischen Union zur Folge hätte, wodurch die Bürokratie in Europa erheblich und spürbar ausgeweitet würde.
Die dritte denkbare Möglichkeit ist die, dass das Herkunftsland- bzw. das Ursprungslandprinzip gilt, dass wir zugleich aber mithilfe von Übergangsfristen Ausnahmen und Mindeststandards für klar definierte Bereiche setzen, in denen vonseiten der Europäischen Union eine Harmonisierung ins Werk gesetzt wird. Das wäre also die Möglichkeit, in die Richtlinie sozusagen einen Mix an Regelungen aufzunehmen.
Über diese Frage müssen wir in den nächsten Sitzungen unseres Ausschusses intensiv weiter diskutieren. Für diese Diskussion werden wir spätestens im Mai, wenn wir nach Brüssel fahren, auch genügend gute Gesprächspartner haben. Günter Verheugen hat zugesagt, dass wir gemeinsam mit ihm und unseren Berliner Kollegen aller Voraussicht nach noch im ersten Halbjahr dieses Jahres, sonst aber gewiss jedenfalls in diesem Jahr, über diese Frage noch einmal intensiv diskutieren können.
Wir sollten in dieser Frage nicht dem alten ukrainischen Sprichwort Recht geben: Wird zum Marsch geblasen, ist der Verstand meist in der Trompete. - Lassen Sie uns also einen wachen Verstand behalten. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen von der PDS, vieles von dem, was Sie vorschlagen und fordern, verstehe ich. Manches finde ich auch gut. Diesen Antrag jedoch verstehe ich nicht und finde ihn auch nicht gut. Er widerspricht im Kern auch Ihrer eigenen pazifistischen Position.
Wir als Deutsche haben seit 1989 aufgrund der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes eine einzigartige Friedensdividende. Die Ausgaben für Verteidigung befinden sich auf einem historischen Tiefststand. Wir haben das Luxemburger Niveau erreicht und geben für unsere Verteidigung 1,5 % des Bruttosozialprodukts aus.
Im Vergleich zu den USA gibt die Europäische Union - Herr Sabathil hat uns das unlängst noch einmal bestätigt - nur 50 % dessen aus, was die USA für ihre Verteidigung zur Verfügung stellen, erreicht damit aber nur 10 % der Wirkung dessen, was die Vereinigten Staaten mit ihren Ausgaben erreichen. Das heißt, Herr Gehrcke, wir brauchen eine europäische Verteidigungsagentur. Wir brauchen mehr Sicherheit, mehr Krisenintervention zu gleichen oder gar niedrigeren Kosten. Wir werden - das ist ein erster Schritt - im Jahr 2007 Herrn Solana begrüßen dürfen. Das heißt, endlich gibt es eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
In diesem Haus, in der Bundesrepublik und in vielen Staaten Europas ist man sich in der Kritik an der defizitären Demokratie der USA einig - aus guten Gründen. Wir wollen mehr soziale Demokratie im globalen Maßstab nach dem europäischen Erfolgsmodell. Wir wissen, dass wir eine singuläre Situation in der europäischen bzw. in der globalen Geschichte haben: Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es eine Ausdehnung von Einflussgebieten bzw. Kultur-, Wirtschafts- oder Hegemonialräumen ohne Krieg! Selbst die USA haben für den Bestand der USA Krieg führen müssen, nämlich die Sezessionskriege.
Wir haben erstmals solch ein Modell entwickelt. Mit diesem wollen wir in der Welt punkten und deshalb brauchen wir als Europäer eine stärkere Position innerhalb der NATO, und zwar nach dem Modell, Rechtsstandards zu übernehmen und Sozialtransfers zu leisten.
Herr Gehrcke, Sie haben Recht, dass keine Verfassung der europäischen entspricht, denn in anderen Verfassungen steht viel mehr. Das haben Sie jedoch unterschlagen. Sie haben eben das Grundgesetz so gelobt. Ich kann Ihnen die entsprechenden Artikel nennen: Artikel 87 a und b, 65 a, 45 a und b. Darin sind alle Dinge zur Bundeswehr, zum Verteidigungszustand usw. geregelt. Ich wünschte mir, Sie forderten - und wenn Sie dies täten, dann müsste die CDU, würde ich sagen, mitziehen und der PDS zustimmen -, dass endlich Schritte zu einer europäischen Armee gegangen würden. Die leidige Wehrpflichtdebatte müssten wir dann nicht mehr führen; denn dann brauchten wir in Deutschland keine Wehrpflicht mehr. Das wäre ein sinnvoller Ausweg.
Ich denke, Schröder hat konsequent und mutig die neue Rolle und die neue Abstimmung der EU-Staaten im Rahmen der NATO über die EU hinaus gefordert. Bush hat ihm überraschenderweise, als er als erster amerikanischer Präsident die EU besuchte, sogar zugestimmt. Sie wissen - wir kritisieren es zuweilen, aber ich meine, es ist alternativlos -: Die USA sind die letzte Supermacht, die einzige Führungsnation, die es in der Welt gibt. Eine Führungsnation zu haben ist besser, als keine zu haben. Insofern könnte Europa seine Wert- und Weltvorstellungen stärker zum Ausdruck bringen. Indem sie diese klarer definiert, könnten wir die USA besser unterstützen und sie in vielen Fragen in kritischer Solidarität von unseren europäischen - besseren - Lösungen überzeugen. Ich nenne einige Stichpunkte: Kioto, Internationaler Strafgerichtshof, die UNO als der eigentliche Ort für good und global governance, die Irak-Frage oder der Umgang mit Syrien oder Nordkorea.
Beim zweiten Punkt, denke ich, haben Sie Recht. Es gilt, dass wir uns - sobald die Verfassung ratifiziert worden ist - gemeinsam dafür einsetzen, Ihren berechtigten zweiten Punkt in die Debatte einzubringen. Dies war bisher - trotz des Engagements von Frau Kaufmann - nicht möglich, ist aber perspektivisch gesehen eine Möglichkeit. Ein letzter Punkt.
Wir könnten ja, wenn die CDU so vernünftig wäre, Herrn Stoiber, Herrn Althaus, Herrn Müller, Herrn Beckstein und anderen zu folgen, ein Verfassungsreferendum durchführen. Solange wir im Parlament das Grundgesetz nicht dahin gehend ändern, dass wir zur Durchführung eines Referendums berechtigt sind, besteht diese Möglichkeit leider nicht.
- Es stand ja das Angebot, dass wir dies tun, aber selbst dafür gibt es keine Zustimmung vonseiten der CDU. Insofern haben wir derzeit leider nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit für die entsprechende Verfassungsänderung.
Ich rate Ihnen: Überdenken Sie Ihren Antrag noch einmal. Er stimmt letztlich mit Ihrem - von mir gut gelesenen - Parteiprogramm nicht mehr überein. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Am 27. Januar dieses Jahres wird sich zum 60. Mal der Tag jähren, an dem sowjetische Truppen das nationalsozialistische Vernichtungslager Auschwitz befreiten. Auch in diesem Jahr werden wir diesen Tag zum Anlass nehmen, aller Opfer nationalsozialistischer Gewalt zu gedenken: der 6 Millionen ermordeten Juden und aller anderen Opfer des Nationalsozialismus.
So wie es sich der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog wünschte, werden wir diesen Gedenktag als „nachdenkliche Stunde inmitten der Alltagsarbeit“ begehen. Doch der 27. Januar wird als Tag des Gedenkens und der Erinnerung nicht allein stehen, gerade für uns in Brandenburg nicht. Er wird der Auftakt für eine ganze Reihe von Tagen der Erinnerung, der Besinnung und der Trauer über unglaubliches Leid sein.
Vor 60 Jahren ging der europäische Teil des Zweiten Weltkriegs nicht irgendwo zu Ende, sondern hier in Berlin-Brandenburg. Auch auf dem Gebiet unseres Landes wurden im Frühjahr 1945 - in Ravensbrück und Sachsenhausen - Konzentrationslager befreit. Zugleich wurden hier in Brandenburg kurz vor Schluss, im April 1945, noch einige der entsetzlichsten Schlachten der Endphase des Krieges geschlagen: vor und auf den Seelower Höhen, wenig später in den Wäldern rund um Halbe. Auch hier sind Städte zerstört worden, zum Beispiel am 14. April Potsdam. Schließlich wurde in unserer Stadt ebenfalls noch 1945 mit dem Potsdamer Abkommen über die Zukunft Europas in den Nachkriegsjahrzehnten und damit über die Zweiteilung unseres Kontinents als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entschieden. In Brandenburg kamen Millionen Vertriebener an, denn die Neuordnung Europas machte sowohl viele Polen als auch Deutsche zu Vertriebenen.
Wir sind heute, denke ich, reifer geworden. Wir müssen alle Teile der Erinnerung aushalten und dürfen nicht einige ausblenden, wie es Rechtsextreme und Neofaschisten bis heute tun.
All diese Geschehnisse und Ereignisse, die sich in diesem Jahr zum 60. Mal jähren werden, waren und bleiben von einschnei
dender Bedeutung für Deutschland und für uns in Brandenburg. Unsere Region war von ihnen besonders betroffen; sie ist es noch immer.
Darüber, wie die damaligen Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren sind, gibt es auch heute noch - und heute wieder unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen. Manche meinen, bei den Schrecken, die gerade in den letzten Kriegsmonaten und -wochen auch Brandenburg heimsuchten, habe es sich um eine besondere Ungerechtigkeit gehandelt. Manche sehen in der Befreiung Europas von den Gräueln des Nationalsozialismus noch immer nicht eine Befreiung, sondern vor allem eine Niederlage für Deutschland, die - so meinen diese Leute auf irgendeine Weise historisch korrigiert werden müsse.
Seit Jahren erleben wir zum Beispiel, wie Rechtsextremisten die Kriegsgräber von Halbe auf schäbige Weise zu einem Wallfahrtsort ihrer verblendeten Ideologie zu machen versuchen. Um es sehr deutlich zu sagen: Für mich ist dies nichts weiter als eine Form von Leichenfledderei, eine Beschmutzung des Andenkens dieser Menschen.
Wer schon einmal auf dem Soldatenfriedhof von Halbe war und sich dort die Grabsteine angesehen hat, der weiß, dass viele der Männer, die dort begraben sind - geboren 1924, 1925, 1926 oder noch später -, heute noch am Leben sein könnten. Sie könnten als zufriedene Rentner und glückliche Großväter unter uns leben. Stattdessen wurden sie als junge Männer in den letzten Kriegstagen in den sicheren Tod geschickt. Dieser Tod hatte nichts Heroisches, nichts Heldenhaftes; er diente keinem hehren Ziel. Dieser Tod bedeutete ganz einfach nur die Vernichtung von vielen Tausend Menschen, die gern weitergelebt hätten - genauso wie die vielen Millionen anderer Opfer des nationalsozialistischen Irrsinns.
Besorgt machen und zu noch größeren Anstrengungen bei Erinnerung und Aufklärung anspornen muss uns vor dem Hintergrund dieser Geschichte, dass sich auch bei uns in Brandenburg nicht wenige Menschen für eine Ideologie begeistern, die im vergangenen Jahrhundert ausschließlich Tod und Verderben gebracht hat. Wir müssen uns sehr ernsthaft fragen, was eigentlich heute noch an einer Gesinnung attraktiv wirken kann, die niemals - buchstäblich niemals - irgendetwas Brauchbares geschaffen, sondern immer nur Unfreiheit, Leid und Zerstörung gebracht hat.
Die im oder nach dem Krieg Geborenen werden in diesen Jahren 60, sie haben Kinder und Enkel. Die Urgroßeltern der heutigen Kinder haben den Krieg begonnen, erlebt, geführt, erlitten, überlebt. Manche von ihnen haben davon erzählt. Vieles ist dazu geschrieben und geforscht worden, viele Filme sind entstanden. Mehrere Generationen haben unter den Folgen gelitten: unter dem Verlust von Menschen und von Städten, unter dem unwiderbringlichen Verlust von Kulturgütern, unter der Flucht von Menschen, von Verwandten oder bedeutenden Geistesgrößen, die wie Albert Einstein, Thomas Mann oder Eugen Rosenstock-Huessy Deutschland für immer verlassen haben, und unter dem geschehenen Unrecht und millionenfacher Vertreibung.
Nach 60 Jahren dankbar an die Befreiung zu erinnern und der Toten der Befreiungsschlachten zu gedenken heißt aber auch,
auf 60 Jahre Frieden in Europa zurückzuschauen. Die Juden, die größten Meister der Erinnerung von Geschichte, haben einen klaren Auftrag an jede Generation formuliert:
„Und wenn dein Sohn, dein Kind dich fragt, was ist das, so sollst du deinem Sohn, deinem Kind erzählen: Geschichte erzählen. Geschichte muss erinnert werden, weil sie sich sonst wiederholt oder historische Fehler wieder gemacht werden.“ (s. Buch Mose VI 20)
Geschichte zu erinnern, sodass sie unsere Geschichte bleibt und in unserer Seele als ein Teil von uns brennt, ist wichtiger geworden, weil es schwieriger wird.
Meine Generation ist nach dem Krieg und im infolge der deutschen Schuld geteilten Deutschland groß geworden. Wir haben Deutschland nicht nur in seiner Zerstörtheit und internationalen Ächtung erlebt, sondern uns von nahe stehenden Menschen erzählen lassen, was sie erlebten. Wir haben den Krieg und seine Folgen überwinden müssen und erlebt, wie sich Deutschland seinen Platz in der UNO und der Völkergemeinschaft wiedererkämpfte. Wir haben Normalisierung als etwas nicht Selbstverständliches, sondern als Erkämpftes und Zugestandenes erlebt.
Anders unsere Kinder: Sie werden - dank unserer jahrzehntelangen Anstrengungen - in einem geachteten, wohlhabenden Staat mitten in der Europäischen Union groß. Mit ihnen und für sie müssen wir jetzt, 60 Jahre nach der Befreiung durch die Alliierten, Wege und Formen der Erinnerung finden - in Ravensbrück und Sachsenhausen, in Seelow und Halbe, in Berlin, Potsdam und Dresden -, die das Leid der Menschen und die Kraft, die die Zerschlagung des Nationalsozialismus kostete, wieder präsent machen. Jede Zeit findet ihre Form und muss ihre Form der Erinnerung finden. Das Erinnerte bleibt gleich, aber die Sprache des Erinnerns ändert sich und muss sich ändern.
Anne Frank und die vielen publizierten Dokumente aus den zwölf Jahren des - den Alliierten sei Dank - nicht tausendjährigen Reiches sprechen unmittelbar zu uns. Auschwitz, Treblinka, Buchenwald und Sachsenhausen sind immer transparenter zu Orten der Erinnerung und des Gedenkens geworden. Sie klagen an und öffnen zugleich Wege, das Vergangene präsent zu machen.
Aber wie hat sich die wichtige Welt der Bilder der Erinnerung verändert: von „Die Mörder sind unter uns“ über „Jakob der Lügner“ zu „Schindlers Liste“, „Der Pianist“, Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ und dem rumänischen Film „Der Zug des Lebens“, die die Schwere der Geschichte in einer neuen Leichtigkeit zeigen, bis hin zu den Filmen „Der Untergang“ oder „Napola“. Wir verstehen diese Filme. Sie helfen uns, unsere Geschichte neu und besser zu verstehen. Aber unsere Kinder brauchen wegen der Distanz von 60 Jahren dabei unsere Hilfe.
Aber nicht nur sie, sondern alle, die meinen, 60 Jahre danach müsse man auch mit Rechtsextremen oder Rechtsradikalen seinen Frieden machen und könne sie wieder wählen, denn auch die hätten doch gelernt und leugneten nicht alles, was geschehen sei.
Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen mehr offene gesellschaftliche Auseinandersetzung über den Nationalsozialismus. Dabei darf es nicht darum gehen, junge Leute, die zu wenig über diese Zeit wissen oder den rechten Rattenfängern auf den Leim gegangen sind und nur die üblichen dummen Parolen draufhaben, zu tadeln, zurechtzuweisen. Sprechverbote helfen uns nicht weiter. Entscheidend ist tatsächlich die offene Diskussion, um überhaupt erst einmal Neugierde zu wecken und das Denken in geschlossenen Systemen aufzubrechen.
Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir die Möglichkeiten der Erinnerung und des Gedenkens in diesem Jahr nutzen. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! 60 Jahre - das ist doppelt so lange her, wie der „Dreißigjährige Krieg“, dieser doppelte Weltkrieg von 1914 bis 1945, gedauert hat. 60 Jahre und ein bisschen weise. Ja, die Erinnerung, die Aufarbeitung der Vergangenheit in mehreren großen Wellen hat Deutschland zu dem gemacht, was wir heute sind, und dorthin gebracht, wo wir heute stehen. Wir haben erinnert und aufgebaut. Wir sind ein integriertes und geachtetes Glied der Völkergemeinschaft und Exportweltmeister. Wir leben heute
viel besser als viele Völker, die wir mit in den Untergang gerissen haben, die wir um Jahrzehnte ihrer Entwicklung gebracht haben oder die wegen der Folgen des zweitens Teils des Weltkrieges über Jahrzehnte in ihrer Entwicklung gebremst wurden.
Wir waren Exportweltmeister von Tod und Leid in dem Doppelkrieg, der über 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Heute sind wir als Exportweltmeister Nettozahler der EU und ein Motor der europäischen Integration, der Öffnung der Union für andere, die an unserer gemeinsamen Entwicklung teilhaben wollen. Das ist, denke ich, ein gutes Stück ausgleichender Gerechtigkeit.
Aber wir sind als in der Auseinandersetzung mit Geschichte so erfahrenes und als von der Geschichte mit so vielen Möglichkeiten beschenktes Volk mehr gefordert. Herr Schulze hat eben gezeigt, wie schwer es ist, sich nicht nur an alles erinnern zu wollen, sondern dabei auch Balance zu halten und Ursachen und Folgen nicht zu vermischen.
Wir müssen nicht die Toten von anderen Unrechtsregimen in der Welt, sondern unsere eigene Geschichte aufarbeiten. Das kann uns niemand abnehmen.
Herr Schulze, die Nazis waren nicht eine, sondern die größte Katastrophe, das größte Unrecht in der deutschen Geschichte.
Die Shoa, der Holocaust, ist unvergleichlich und singulär. Ja, es hat davor und danach Völkermorde gegeben, aber nicht nur zahlenmäßig, sondern auch von der tödlichen Energie und der Vorbereitung her ist dieser Völkermord singulär.
Das Wirtschaftswunder in Deutschland, die exponentiellen Zuwächse im volkswirtschaftlichen Reichtum verdanken wir dem Marshallplan, amerikanischen Geldern, aus Solidarität von den Amerikanern uns zur Verfügung gestellt. Sie haben eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung begründet und ich denke, wir sind gefordert, weil diese Volksgeschichte nur weitergehen kann, wenn das, was uns half, jetzt auch eingesetzt wird, um andere an dieser Entwicklung zu beteiligen.
Nach dem Marshallplan der zweiten Hälfte des Weltkriegsjahrhunderts, was, wie Timothy Garden Ash zu Recht sagt, ein kurzes Jahrhundert von 1914 bis 1990 war, brauchen wir einen globalen Marshallplan zur Entwicklung der Erde. Das Jahrhundert, in dem wir 60 Jahre Befreiung als gleich berechtigter und mindestens gleich verantwortlicher Teil der Völkergemeinschaft begehen, ist das Jahrhundert der Globalisierung. Gerade weil wir den Weltkrieg begonnen und geführt haben, sind wir jetzt in besonderer Weise verantwortlich dafür, dass dem Jahrhundert des Weltkrieges ein Jahrhundert der Weltentwicklung folgt. Mit anderen geteilte Entwicklung ist eben nicht nur mehr Entwicklung für uns, sondern vor allem auch nachhaltige Entwicklung.
Wir haben und werden genug Probleme haben, die wir nur schwer oder gar nicht lösen können. Umso dringender ist es, die lösbaren Fragen wirklich anzugehen. Die Bereitschaft in Deutschland und Europa, zu spenden und zu teilen ist größer, als wir alle noch vor wenigen Wochen gedacht haben. Deshalb
werden wir unsere Erinnerung und unser Gedenken an drei Adressaten zu richten haben. Vor Gott wird der Ermordeten, der Gefallenen, der Gestorbenen, der Opfer gedacht. Es ist eine zeitzeugenärmere Zeit, in der wir heute leben und in die wir gehen. Umso dringender werden das Gedenken und die Erinnerung. Darum ist es so wichtig, dass auch die verschiedenen Gedenkveranstaltungen der kommenden Wochen und Monate mehr sind als nur ritualisierte Feierlichkeiten, ob in Sachsenhausen oder Ravensbrück, auf den Seelower Höhen oder in Halbe oder überall sonst auch, wo wir der Ereignisse von 1945 gedenken werden.
Ich weiß, es ist eine schwere Aufgabe, aber es muss, nein, es kann auch nach 60 Jahren gelingen, den heute Lebenden das Geschehene und Vergangene in seiner historischen Vielschichtigkeit begreiflich und erlebbar zu machen.
Ein Beispiel dafür: „Opa war in Ordnung“, so schreiben es die Rechtsextremisten auf ihre Plakate, mit denen sie in Halbe oder anderswo die Kriegsverbrechen der Wehrmacht infrage stellen. Tatsächlich kann es durchaus sein, dass der konkrete, individuelle, einzelne Opa als Soldat der Wehrmacht in Ordnung war, ein Christ vielleicht, ein Pazifist, ein Sozialdemokrat oder ein Kommunist, der gegen seinen Willen zum Kriegsdienst gezwungen wurde, oder ganz einfach ein anständiger Mensch. Dieser Opa war dann als junger Mann tatsächlich in Ordnung, aber andere waren es eben nicht. Erst recht war die verbrecherische Sache nicht in Ordnung, für die alle zusammen in den Krieg geschickt wurden und gegangen sind. Auf die Fähigkeit zu genau diesen Unterscheidungen kommt es an. Genau sie müssen wir fördern und unterstützen, wo immer wir können, bei Erwachsenen und erst recht bei den Kindern.
Zweitens haben wir uns zu erinnern, die, die wir gelernt haben, was uns fehlt durch den Weltkrieg und seine Opfer.
Drittens erinnern wir unsere Kinder, machen sie sprachmächtig; denn die Erinnerung und das Gedenken sollen und können sie mit uns gemeinsam erlernen, damit die Flamme der Scham, der Trauer und des Gedenkens in diesem neuen Jahrhundert in ihnen weiterbrennt. Wenn wir da versagen, dann wird es dunkler, dann werden wieder Fehler gemacht, wieder Irrwege begangen. Nur wer gedenken kann, lernt auch denken. Wer nicht gedenken kann, verlernt auch das Denken.
Cognosco te ipse, sich selbst zu erkennen heißt eben, sich zu erinnern. Ich wünsche uns allen ein erinnerungen- und gedenkenreiches Jahr. Nur dann kann es ein gutes und erfolgreiches Jahr 2005 werden. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Brandenburg 15 Jahre nach dem Fall der Mauer - quo genis? Quo vadis? - Woher kommen wir? Wo stehen wir? Wohin gehen wir?
15 Jahre sind nur im Dezimalsystem ein besonderer Abschnitt. Von alters her ist die „Zwölf“ - das Dutzend - die wichtige, die heilige Zahl. Dennoch ist es gut, dass wir über das Thema reden, denn auf dem langen Weg der deutschen Einheit ist Halb
zeit. Im Jahr 2019 werden 30 Jahre seit der deutschen Einheit vergangen sein. Dann werden wohl alle Sonderkonditionen und Sonderfinanzierungen gestrichen. Bis dahin soll und muss die deutsche Einheit gelungen bzw. vollendet sein. Mit dem Auslaufen der Sonderzahlungen des Solidarpaktes II in 15 Jahren soll die Angleichung der Lebensverhältnisse vollzogen sein. Dann also wird die 40-jährige Trennung der beiden deutschen Staaten überwunden sein.
In der Halbzeit zieht man Bilanz und nimmt Korrekturen für die zweite Hälfte vor. 15 Jahre genutzte und verpasste Chancen. Weil ich ein unverbesserlicher und leidenschaftlicher Optimist bin, sage ich: Sie halten sich die Waage. Das Glas ist halb voll. Aber, Kolleginnen und Kollegen und vor allem Herr Lunacek und Frau Steinmetzer, diese Diskussion braucht eine klare Analyse und keine Propaganda, weder von links noch von rechts.
Man muss genau analysieren, will man zu richtigen Ergebnissen kommen. Frau Steinmetzer, meine Erinnerungen reichen weiter zurück als Ihre und unterscheiden sich von den Ihren wesentlich. Ich kann, ohne lange nachzudenken, die Namen von 15 Freunden aufzählen, die weder zur Oberschule, zur Erweiterten Oberschule noch zum Studium gehen durften.
Die Mauer ist vor 15 Jahren nicht gefallen, Herr Lunacek, sondern - till down this wall - die Mauer ist von den Bürgern umgestürzt, überrannt und abgerissen worden. Mit dem Umstürzen der Mauer, die gegen den Willen der Bürger von der Regierung im Jahre 1961 errichtet wurde, begann eine neue Epoche, ein neues Jahrhundert. Timothy Garton Ash hat von dem „kurzen 20. Jahrhundert“ gesprochen, das von 1914 bis 1989/90 dauerte.
Der Eiserne Vorhang wurde an seiner Nahtstelle zerrissen, nachdem er in Ungarn eingerissen worden war. Dafür werden wir ewig dankbar sein, denn in Ungarn haben wir erstmals die Überwindbarkeit dieses Eisernen Vorhangs gespürt. Vor 15 Jahren war der Kalte Krieg zu Ende und Tauwetter setzte ein. Das Europa der 25 - in drei Jahren hoffentlich der 27 - konnte wachsen.
Dem Kalten Krieg folgt die heiße Globalisierung. Jahrzehntelanges Unrecht wurde beendet, aufgearbeitet und an manchen Stellen geahndet, Biografien korrigiert und Menschen rehabilitiert. Der „nachholenden Revolution von Ostdeutschland“ - ich wähle bewusst das habermassche Beiwort von über 40 verschiedenen Revolutionsbeiwörtern - folgten die „Samtene Revolution“ von Prag und die „Ein-Schuss-Revolution“ von Bukarest usw.
Damit ist die Grundlage für unsere Arbeit im Brandenburger Landtag gelegt worden. Als Wilhelm Pieck Otto Grotewohl 1946 zum Handschlag zwang, den Millionen Menschen 43 Jahre lang in ovaler Form am Revers trugen, wurde mit dem Bau der Mauer begonnen. Das war das Fundament, auf dem die DDR und die Nationale Front gegründet wurden. Auf beiden Seiten des Hauses gibt es Erinnerungen an diese Zeit.
Vor diesem Hintergrund sind die Ost- und Westmark eingeführt worden. Der nächste Schritt der Grundsteinlegung der 28 Jahre
stehenden Mauer - sozusagen die Stahlbewährung des Fundaments - war die Einführung der künstlichen Bezirksstruktur, die eine Grundlage des demokratischen Zentralismus und der Diktatur der Arbeiterklasse war. Die Länder wurden zerschlagen. Damit war uns die Arbeitsgrundlage entzogen.
Die zynisch „antifaschistischer Schutzwall“ genannte Mauer, die nicht das Eindringen von außen, sondern das Fliehen von innen verhindern sollte, ist von denen, die zum 40. Jahrestag der DDR die 1946 eisern ergriffene Hand entrissen haben, von denen, die „Demokratie jetzt!“ verlangten oder ein „Neues Forum“ für offene Gespräche gründeten, oder von denen, die den „Demokratischen Aufbruch“ wagten, umgestürzt worden.
Ohne, wie Tucholsky vermutete, vorher eine Bahnsteigkarte zu lösen, haben erst Tausende, dann Hunderttausende die Mauer überrannt, nachdem zwei Millionen Menschen, die vorher gegangen waren, in über 40 Jahren am Aufbau West mitgearbeitet haben. Bis die Mauer eingestürzt wurde - die Montagsdemonstrationen waren die Trompeten von Jericho -, wurde gerufen: „Wir sind das Volk!“ Aus diesem Satz wurde dann: „Wir sind ein Volk!“ - 21 % der Deutschen sagen heute: Wir auch. - 12 % der Ostdeutschen, 24 % der Westdeutschen und 21 % der Menschen in ganz Deutschland wünschen sich die Mauer heute zurück, denn sie sahen, was folgte. Damals waren wir das glücklichste Volk der Erde und heute fragen 21 % der Bevölkerung: Wisst ihr, warum die Chinesen so glücklich sind? - Die haben ihre Große Mauer noch.
Die deutsche Einheit ist im schmalen zeitlichen Fenster der Gorbatschow-Zeit organisiert worden. Eine großartig genutzte Chance, auch von Helmut Kohl. Jedoch wurde damals die Chance vertan, das Angebot von Hans-Jochen Vogel, in einer großen gemeinsamen Anstrengung der beiden großen Volksparteien nicht nur das westliche Nachkriegsdeutschland zu erweitern, sondern ein Deutschland für das 21. Jahrhundert zu bauen, das dann zum größten europäischen Staat und zum Wachstumsmotor für Europa hätte werden können, zu nutzen.
Die deutsche Einheit ist ein in der Geschichte der Menschheit einmaliges Beispiel für den sagenhaften Kapital- und Personaltransfer in so kurzer Zeit mit einem Brutto-Volumen von bis heute über 1,3 Billionen Euro. Das entspricht nicht zufällig der Gesamtverschuldungsquote. Allein 2003 waren es 116 Milliarden Euro brutto und 83 Milliarden Euro netto.
Ostdeutschland wächst; an manchen Stellen gibt es blühende Landschaften - die jetzt auch Bärbel Bohley sieht. Wir haben nicht Gerechtigkeit bekommen, aber immerhin den Rechtsstaat. Dafür müssen andere ganz anders kämpfen: von der Ukraine bis zum Sudan, von Nordkorea bis zum Irak.
Wer sehen will, was wir schon geschafft haben, muss nach Polen oder nach Tschechien fahren. Wir hatten das Privileg der frühen europäischen Geburt schon am 3. Oktober 1990 und wurden mit allen Ambivalenzen Teilgebiet des Weltexportmeisters Deutschland - nicht nur verlängerte Werkbank, aber eben auch. Viel ist kaputtgegangen, weil wir zu viel zu schnell wollten. Aber vieles haben wir erhalten und aufbauen können, weil wir uns für diesen Weg entschieden haben.
Matthias Platzeck hat Recht: Wir müssen mit uns selbst ehrlicher werden. Mit der Verschuldung von Sachsen hätten wir heute bessere Zukunftschancen. Wir wollten zu viel - nicht von
unseren Bürgern, sondern für unsere Bürger. Aber wir wollten auch zu wenig. Gesundheitszentren und längeres gemeinsames Lernen hätten wir beibehalten bzw. durchsetzen müssen, um effizienter und besser zu sein, als wir es heute sind. - Zwei Beispiele, die für viele stehen.
Seit der Wende hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung für uns alle um zehn Jahre erhöht; die Geburtenzahlen aber haben sich halbiert. Arbeitsplätze sind weggefallen, weil wir schnell und konsequent eine neue Währung eingeführt und die Einheit mit Rechtsangleichung durchgeführt haben. Nicht nur unsere 24 historischen Stadtkerne haben sich von Aschenputteln zu attraktiven Plätzen entwickelt, sondern auch viele Dörfer prägen ein neues Bild der Mark.
Das Kulturerbe ist gerettet worden, vom Kulturerbe der Welt bis hin zum lokalen Denkmal.
Investoren, deren Herkunftsländer wir nur von der Landkarte kannten, haben zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen.
15 Jahre nach der deutschen Einheit sind sich beide Seiten einig: Jetzt sind wir mal dran! - Aber der erst spät, vor tausend Jahren intensiv besiedelte und zivilisierte Osten hat vor der Wende über zwei Millionen Menschen, nach der Wende bisher ca. 1,3 Millionen verloren. Darunter waren und sind - aus verständlichen Gründen - oft sehr gute, für uns wichtige Menschen.
Die Transfers aus mehreren Bundesländern haben das Agrarland Bayern von einem Nehmerland zu einem Geberland gemacht. Genau das beanspruchen wir für uns. Aber dann müssen wir genauso weltoffen, weltverbunden und ausländerfreundlich sein wie Bayern - mindestens! Denn dort liegt die Ausländerquote viermal so hoch. Es gibt nun einmal eine direkte Proportionalität zwischen Weltoffenheit, Zuwanderung und Wohlstand.
Wir müssen uns ehrlich vor Augen halten, dass wir uns die deutsche Einheit auch in Zukunft erobern müssen, um sie zu erhalten. Die große Generation der Großeltern und Eltern, die die deutsche Teilung erlebt und sich nach dem 3. Oktober 1990 mehr auf Selbstverwirklichung als auf Selbstreproduktion konzentriert hat, hat die deutsche Einheit, das große, erkämpfte Geschenk, zulasten der kleinen Generation, ihrer Kinder und Enkel, finanziert. Die Schulden der Eltern sind die Steuern der Kinder.
Man muss Bundestagspräsident Thierse zustimmen: Wir haben 15 Jahre schmerzliche Erfahrungen hinter uns: Entwertung von Biografien, Veränderungen und Umbrüche. Aber was den Ostdeutschen in den vergangenen 15 Jahren abverlangt wurde, haben die Westdeutschen bzw. Deutschland insgesamt noch vor sich:
nicht nur den Abschied von der Wohlstandslüge auf Kosten der Kinder, sondern auch Reformen, um die Zukunft zu gewinnen. Die Föderalismus-Combo wird uns zu Weihnachten, gut intoniert, ein schönes Lied spielen. Aber wird das den Abstieg des
einstigen Superstars Deutschland verhindern? Denn was mit elf Ländern halbwegs, aber nicht wirklich ging, geht mit 16 Ländern nicht mehr.
Gabor Steingart hat Recht - Artikel 149 des Grundgesetzes sagt es ebenfalls -: Um für Deutschland Zukunft im 21. Jahrhundert zu gewinnen, brauchen wir eine zweite Staatsgründung. Deutschland - mitten im Europa des 21. Jahrhunderts - muss sich für dieses neue Jahrhundert neu konstituieren.
Fraglos: Uns in Brandenburg, in Ostdeutschland, in Deutschland insgesamt ist vieles gelungen, mehr als wir vor 15, erst recht vor 20 Jahren geglaubt haben.
Fraglos: Es wäre mehr möglich gewesen, wenn jede Partei nicht nur ihren Vorteil, sondern das Wohl der Republik und der Bürger gesucht hätte.
Die deutsche Einheit ist das Einfache, das schwer zu machen ist. Das war so in den letzten 15 Jahren; das wird in den nächsten 15 Jahren so bleiben. - Vielen Dank.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
„Ja, die Bundesrepublik sollte wie Großbritannien und Frankreich über die EU- Verfassung abstimmen.“
Das sagt Roman Herzog in der Zeitung „Die Welt“ am 25.08.2004. Recht hat er!
„Die Entscheidung des französischen Staatspräsidenten wird als Aufforderung an die politisch Verantwortlichen in Deutschland verstanden, die Frage der Durchführung eines Plebiszits noch einmal zu prüfen“,
sagt Peter Müller. Recht hat er!
„Wir sollten die Abstimmung über die EU- Verfassung zum Testlauf für direkte Demokratie machen“,
sagt Michael Glos von der CSU. Recht hat er!
„Ich bin für eine Begrenzung und genau definierte Stärkung der plebiszitären Elemente“,
sagt Wolfgang Böhmer von der CDU in der „heute“- Sendung des ZDF am 31.07. Recht hat er!
Dietrich Austermann von der CDU sagt:
„Es wäre richtig, eine solche Abstimmung durchzuführen.“
Hartmut Koschyk von der CDU sagt:
„Wenn die großen EU- Mitgliedsländer, Frankreich, Spanien, Polen, Großbritannien, Plebiszite über den Verfassungsvertrag durchführen, dann stellt sich wirklich die Frage, ob ein Referendum nicht in allen EU- Staaten durchgeführt werden sollte.“
Ich finde, man sollte ihm nicht widersprechen.
„Ich bin dafür, die Bürger in allen 25 EU- Staaten über die Europäische Verfassung abstimmen zu lassen“,
sagt Dieter Althaus ausdrücklich im Themenheft der „EUNachrichten“.
Man sollte ihm nicht widersprechen.
Günter Beckstein stimmt Edmund Stoiber zu und sagt:
„Ich halte eine Volksabstimmung über die EUVerfassung für notwendig, zumal ich selbst anders als viele in der Union ein überzeugter Verfechter plebiszitärer Elemente bin. Wir haben in Bayern viele Volksentscheide mit bestem Ergebnis.“
Wo er Recht hat, sollte man ihm Recht geben.
Die SPD ist, weil es für die europäische Gesellschaft und insbesondere für die bundsrepublikanische Bevölkerung einen großen Zugewinn an Glaubwürdigkeit bedeuten würde, für ein Referendum in Deutschland zur EU- Verfassung. Sie ist - der Partei- und Fraktionsvorsitzende Müntefering hat das deutlich gemacht - bereit, die dafür notwendige Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen und in Bundestag und Bundesrat zuzustimmen.
Insofern ist der von der PDS eingebrachte Antrag im Kern für uns zustimmungswürdig. Aber ehe man zustimmt, muss man sich ansehen, was der Antragsteller eigentlich will. Das sagt die PDS in ihrem Ende Oktober auf der 1. Tagung des 9. Parteitages beschlossenen Antrag sehr klar. Punkt 3:
„Der geschlossene Verfassungsvertrag darf nicht in Kraft treten.“
Die PDS erkennt allerdings selbst, „dass die Verfassung die weitreichendste Reform in der Geschichte der Euorpäischen Union darstellt“.
Die dann folgende Kritik wird an einigen Stellen, zum Beispiel was die Bedeutung des Europaparlaments betrifft, von der SPD geteilt. Aber die PDS hat kein Verständnis - und das kritisiere ich - für das Wesen der Abstimmung unter 25 völlig unterschiedlich regierten Nationalstaaten. Der Kompromiss ist ein Fortschritt, aber die PDS legt in ihrer inkonsistenten und widersprüchlichen Europapolitik keine Rechenschaft darüber ab, was passieren würde, wenn der größte europäische Staat die Verfassung auf ihren Rat hin ablehnen würde. Ganz oppositionell meint sie: Uns doch egal, was bei Ablehnung passiert. - Oder man unterstellt sogar die Naivität, dass man sich in einem zweiten Anlauf nach einem Scheitern auf mehr verständigen könnte. Mitnichten!
Ein kleiner Staat könnte, wie auch schon geschehen, die Verfassung noch einmal zur Abstimmung stellen. Aber im Grunde ist aus der Union heraus, wer der Verfassung nicht zustimmt. Was das bedeutet, kann man sich mit einem Blick auf die Karte vor Augen führen. Was würden Frankreich und Polen dazu sagen, wenn das sie verbindende Land die Verfassung nicht ratifiziert?
Genau das will die PDS. Mit gysischer Eloquenz wird dann über einen Scherbenhaufen geredet: Wir wollten, wir hätten, an uns hat es nicht gelegen. - Die PDS will im Grunde, dass das Volk erledigt, was sie allein nicht kann, nämlich die Verfassung ablehnen.
Spiegelverkehrt die CDU. Sie will die Verfassung. Sie will dieses Europa. Sie trägt den Verfassungskompromiss mit, weil sie ihn durch die ihr nahe stehenden europäischen Regierungschefs auch mit geprägt hat. Aber solange die Berliner Regierungskoalition in der Tradition der deutschen Regierung klar sagte, dass darüber nur im Bundestag entschieden werden könne - und zwar erst dann, wenn die Verfassung geändert worden sei - , haben Sie fröhlich darüber geredet und glaubten, dass Sie die deutsche Öffentlichkeit dann so in Erinnerung behalten und die SPD Ihren Vorschlag nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit aufnehmen würde.
Aber wir haben Ihren Vorschlag nicht, wie es häufig mit Oppositionsvorschlägen passiert, einfach nur weggestimmt,
sondern er ist angenommen worden. Wir sind bereit, diesen Weg zu öffnen, aber - und das gilt - : Ohne die Union wird es keine Grundgesetzänderung geben.
Ich komme gerne zum Schluss. - Über die DVU muss man in diesem Zusammenhang nicht lange reden. Sie wollen Europa nicht, Sie wollen einen ausländerfreien Nationalstaat Deutschland mit einer starken Führung. Dabei könnte man doch wissen, dass man Deutschland nur dort stark macht, wo es weltoffen, ausländerfreundlich und europaorientiert ist.
Damit Europa ein Europa der Bürger wird, sollte sich auch Deutschland bereit machen, den Weg für eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung zu öffnen. Es lebe das Europa der Bürger. Die CDU hat dafür den Schlüssel in der Hand.
Dem PDS- Antrag können wir nicht zustimmen, hoffen aber, dass die CDU den Auffassungen der CDU- Ministerpräsidenten sowie den Vorstößen von Stoiber, Beckstein und Glos endlich folgt. Wo sie Recht haben, sollten sie Recht bekommen. - Vielen Dank.