Protokoll der Sitzung vom 18.05.2006

Das einschlägige Urteil der Jugendkammer des Landgerichts zu Berlin in der Mordsache Sürücü, ein Fall so genannter Ehrenmorde, wonach letztlich nur ein Täter verurteilt wurde, und das nach Jugendstrafrecht, ist ein aktuelles Beispiel, denke ich. Ein Heranwachsender schlachtet auf offener Straße die eigene Schwester ab. Den Hintermännern wird nichts nachgewiesen und übrig bleibt eine Jugendstrafe.

Werte Kolleginnen und Kollegen, im Mittelpunkt des Strafrechts steht der Erziehungsgedanke, allerdings mit dessen eigentümlicher und zum Teil widersprüchlicher Zweideutung „Erziehung statt Strafe“ bzw. „Erziehung durch Strafe“.

Darin sind die wesentlichen Probleme und Streitpunkte bei der praktischen Anwendung des JGG angesiedelt. Während § 46 Strafgesetzbuch den tatvergeltenden Ausgleich vorgibt, ist nach § 5 JGG die begangene Straftat nur Anlass zu erzieherisch wirkenden Maßnahmen. Sobald Jugendstrafrecht angewendet wird, sind zwangsläufig generalpräventive Erwägungen ausgeschlossen. Die Schwere der Schuld ist von untergeordneter Bedeutung und wird fast nie relevant.

Wir als DVU-Fraktion halten das angesichts der ständigen Diskussion über die Grenzen der rechtlichen Mündigkeit junger Menschen schlichtweg für überholt. Es muss auch den Jugendlichen klar sein, dass sie strafrechtlich die volle Verantwortung tragen müssen.

Ich bedanke mich erst einmal für Ihre Aufmerksamkeit und bin gespannt, was Herr Sarrach sagen wird, nachdem er uns den Vortrag aus dem Karl-Liebknecht-Haus in Berlin zu Gehör gebracht hat.

(Beifall bei der DVU - Zurufe von der Linkspartei.PDS und der SPD)

Wir setzen mit dem Beitrag der Koalitionsfraktionen fort. Es spricht der Abgeordnete Werner.

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag wird die Landesregierung aufgefordert, eine Bundesratsinitiative zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes zu ergreifen. Ich kann dazu nur wiederholen, was ich zum vorangegangenen Tagesordnungspunkt gesagt habe: Wenn Sie sich dem Prozedere der Föderalismusdebatte entziehen, unterlassen Sie es künftig, Bundesratsinitiativen auf den Weg bringen zu wollen. Es ist irgendwann nicht mehr glaubhaft, was Sie hier veranstalten.

(Zuruf des Abgeordneten Schuldt [DVU])

Ziel ist die Herausnahme der Heranwachsenden aus dem Jugendstrafrecht. Als Begründung wird angeführt, dass unter anderem das strafprozessuale Privileg des § 105 JGG insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität nicht mehr hinnehmbar sei.

Offensichtlich scheinen Sie die Definition von organisierter Kriminalität nicht zu kennen; denn es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den Taten einer Jugendgang und denen erfahrener ausgebuffter Profis im Milieu der organisierten Kriminalität.

(Zuruf des Abgeordneten Schuldt [DVU])

Zudem kann nach hiesigen Erkenntnissen nicht belegt werden, dass Heranwachsende im Bereich der organisierten Kriminalität im Land Brandenburg eine besondere Rolle spielten. Schon allein deshalb besteht für die Gesetzesänderung kein Grund.

Abgesehen von der unzureichenden formalen Umsetzung der begehrten Gesetzesänderung sind die dem Antrag zugrunde liegenden Prämissen unzutreffend. Die Prämisse, es gäbe im Bereich der Jugendstrafverfahren in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Anstieg, kann aufgrund der vorliegenden Strafverfolgung für das Land Brandenburg statistisch nicht nachvollzogen werden.

Für das Jahr 2005 entfallen die Verurteiltenzahlen zu 84,3 % auf Erwachsene, zu 10,6 % auf Heranwachsende und zu 5,1 % auf Jugendliche. Der Prozentanteil der Heranwachsenden hat sich gegenüber den 90er Jahren deutlich verringert und ist seit dem Jahr 2003 nahezu konstant geblieben.

(Sarrach [Die Linkspartei.PDS]: Sehr richtig!)

Hinsichtlich der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender ist festzustellen, dass in der Justiz des Landes Brandenburg bereits seit Jahren die Gesetzesauslegung, wonach bei Heranwachsenden in der Regel allgemeines Strafrecht und nur im Ausnahmefall Jugendstrafrecht anzuwenden ist, erfolgreich praktiziert wird.

Im Jahr 2005 wurden von den 3 425 verurteilten Heranwachsenden 60,1 % nach dem allgemeinen Strafrecht und 39,9 % nach dem Jugendstrafrecht verurteilt. Diese Prozentanteile liegen weiterhin deutlich und seit vielen Jahren kontinuierlich über dem Bundesdurchschnitt.

In anderen Bundesländern werden durchschnittlich nur etwa 40 % der Heranwachsenden nach dem allgemeinen Strafrecht verurteilt. Das Verhältnis ist genau umgekehrt. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.

Aufgrund dessen sind Initiativen seitens des Landes zur gesetzlichen Klarstellung im Rechtsausschuss des Bundesrates in den letzten Jahren befürwortet worden.

Eine vollständige Herausnahme der Erwachsenen aus dem Jugendstrafrecht wird jedoch in keiner dieser Initiativen gefordert. Es geht ausschließlich um die bereits dem gegenwärtigen Gesetz zu entnehmende Priorität der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht.

Die Möglichkeit, flexibel auf die Kriminalität der 18- bis 20-jährigen jungen Menschen reagieren zu können, sollte dabei erhalten bleiben. In anderen europäischen Ländern hat diese Regelung Vorbildcharakter, weil damit eine differenzierte Reaktion ermöglicht wird.

Die Anwendung von Jugendstrafrecht muss dabei keineswegs immer milder als die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht sein. Zum Beispiel dürfte ein vierwöchiger Dauerarrest Heranwachsende in der Regel härter treffen als eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe ohne weitere Auflagen.

Aus Gesprächen mit jugendlichen, in der JVA einsitzenden Straftätern, die vor der Haftstrafe fünf- bis siebenmal Bewährung bekommen haben, war zu erfahren, dass eine frühere Haftstrafe aufgrund der abschreckenden Wirkung besser gewesen wäre. Wenn wir auf eine solche Handhabung hinwirken, haben wir bereits viel erreicht. Dieser von Ihnen angestrebten Änderung bedarf es nicht.

Es sei mir noch eine persönliche Bemerkung gestattet: Herr Kollege Schuldt, es macht mich immer betroffen, wenn Sie, der bereits mit einer Pistole herumgefuchtelt hat, über die Justiz sprechen. Insofern ist es erstaunlich, wie Sie sich hier für Gesetzesänderungen engagieren.

Der Antrag der DVU-Fraktion ist insgesamt abzulehnen. - Danke schön.

(Beifall bei CDU, SPD und der Linkspartei.PDS)

Für die Linkspartei.PDS-Fraktion erhält der Abgeordnete Sarrach das Wort.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der DVU-Fraktion zur Einbringung einer Bundesratsinitiative zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes entspricht ihrem Rechtsstaatsverständnis, ihren Wertvorstellungen und ihrem Menschenbild. Sie fordern - das ist alleiniger Zweck - die Herausnahme der Heranwachsenden aus dem Anwendungsbereich des Jugendgerichtsgesetzes. Mit dieser Forderung sind Sie leider in Gesellschaft derer, die Gesetze wie das Jugendgerichtsgesetz als „Freiheitsduselei der 68er Jahre“ abtun.

Sie von der DVU-Fraktion sind der Mär der CDU, dass bei Tätern, die älter als 18 Jahre sind, die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts die Regel und nicht die Ausnahme sein sollte, auf den Leim gegangen. So äußerte sich einmal der Minister des Innern, Herr Schönbohm, auf einem CDU-Parteitag. Insofern ist es sehr erfreulich, dass der Kollege Werner heute neue Töne gefunden hat.

Sie käuen wieder, dass das Jugendgerichtsgesetz kein zureichendes Instrument mehr sei, in zunehmendem und hohem Ausmaße bei Heranwachsenden das Jugendstrafrecht angewandt würde, der Ausnahmecharakter des § 105 JGG ausgehöhlt und die Anwendung des Jugendstrafrechtes überwiegende Praxis geworden sei.

Ihr Antrag beweist Ihre Ahnungslosigkeit von dieser Rechtsmaterie. Die formulierte Unterstellung einer Fehlentwicklung ist empirisch nicht zu belegen. Dem Kollegen Werner bin ich für die Zahlen sehr dankbar, da ich sie mir deshalb ersparen kann.

Dies war sicherlich auch der Grund dafür, weshalb Sie in Ihrem Antrag keine Zahlen anführen konnten. Sie werden sich nicht mit der Verurteiltenstatistik auseinander gesetzt haben, sonst wüssten Sie, dass das nicht nur für das Jahr 2005 feststellbar ist, sondern auch für die letzten Jahre.

Herr Sarrach, würden Sie eine Zwischenfrage beantworten?

- Wenn ich den Satz beenden darf, ja.

In den vergangenen Jahren wurden nämlich nur drei von zehn verurteilten Heranwachsenden nach Jugendstrafrecht verurteilt, jedoch sieben von zehn Heranwachsenden nach Erwachsenenstrafrecht.

Jetzt kann die Frage gestellt werden.

Frau Fechner, bitte.

Herr Sarrach, da Sie rechtspolitisch sehr versiert sind, frage ich Sie: Wissen Sie, wann und warum das Jugendstrafrecht eingeführt wurde? Möglicherweise können Sie uns das bei Ihrem enormen Wissen mitteilen.

Das Jugendstrafrecht - eine liberale Segnung - wurde in der alten Bundesrepublik in den 70er Jahren eingeführt.

(Frau Fechner [DVU]: So viel zum Wissensstand von Herrn Sarrach!)

Diese Verurteiltenstatistik fällt so aus, weil die Jugendrichter, die Jugendschöffengerichte und die Jugendkammern verantwortungsbewusst und rechtsstaatlich jede Straftat und jeden Straftäter aufgrund des persönlichen Eindrucks und der Beweislage im Einzelfall in der mündlichen Verhandlung, in der Hauptverhandlung bewerten und das Jugendgerichtsgesetz anwenden oder auch nicht. Dafür gebührt allen hiermit befassten Jugendrichtern, Schöffen und Jugendstaatsanwälten ein Dank.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Eine Richtschnur gab der Bundesgerichtshof in Strafsachen vor. In der Entscheidung im 36. Band auf Seite 37 ff. wird im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Heranwachsender nicht nur dann nach Jugendstrafrecht zu verurteilen sei, wenn er in allen Belangen das Bild eines höchstens 17-Jährigen biete. Bei der Beurteilung des individuellen Reifegrades sei nicht ein bestimmtes Alter als unverrückbarer Maßstab heranzuziehen.

Vielmehr sei mit dem Begriff des Jugendlichen der noch ungefestigte, in der Entwicklung stehende, auch noch prägbare Mensch zu verstehen, bei dem Entwicklungskräfte in größerem Umfang wirksam sind. Stünden Reiferückstände nicht mehr im Vordergrund, sondern habe der Täter die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung erfahren, sei er nicht mehr mit einem Jugendlichen gleichzustellen.

Diese und andere Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes haben sich bewährt.

Ihren Antrag lehnen wir ab. Die Errungenschaft des Jugendgerichtsgesetzes, vorrangig dem Erziehungsgedanken Rechnung zu tragen, ist zu wertvoll, um es Ihnen als rechtsextremen Scharfmachern auszuliefern. - Danke.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS und SPD)

Da die Landesregierung auf Ihren Redebeitrag verzichtet, erhält noch einmal der Abgeordnete Schuldt das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir vergegenwärtige, was der Kollege Werner gerade zu unserem Antrag von sich gegeben hat, kann ich ihn nur fragen: Welches Rechtsverständnis haben Sie?

(Zuruf von der CDU)