Protokoll der Sitzung vom 04.07.2007

Insgesamt gesehen ist Vorsorge zu betreiben erfolgreicher als Nachsorge zu betreiben. Das gilt für die Gesellschaft, für die Kinder, ihre Eltern, für die Lehrer, schlicht für alle. Wir wollen die Allgemeinen Förderschulen nicht schließen, sondern durch gute Vorsorge dazu beitragen, dass ihnen die Kinder ausgehen. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei SPD und CDU)

Danke. - Für die DVU-Fraktion spricht die Abgeordnete Fechner.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Förderschulen in Brandenburg sichern Chancen für jedes Kind. Ausschlaggebend für dieses Thema dürfte die bevorstehende Schließung der Sprachförderschule in Potsdam sein. Diese Förderschule hat Angst um ihren weiteren Bestand; denn voraussichtlich wird im nächsten wie schon in diesem Schuljahr keine 1. Klasse zustande kommen. Ursache für den Rückgang der Schülerzahlen an dieser Förderschule sind fehlende Zuweisungen durch die Sonderpädagogischen Beratungsstellen.

Aufgrund der zunehmenden Anzahl von Sonderpädagogen und der Errichtung von FLEX-Klassen werden immer mehr Schüler an einer Grundschule und nicht an einer Förderschule eingeschult, wie oft von den Eltern gewünscht wird. Genau hier liegt das Problem. Nach Auffassung der Landesregierung sollen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Land Brandenburg, wo immer es möglich ist, gemeinsam mit anderen Kindern in der Nähe ihres Wohnortes zur Schule gehen.

(Frau Alter [SPD]: Weil die Eltern das so wollten!)

Es wird auch davon geträumt, dass es irgendwann einmal keine Förderschulen mehr gibt. Doch ist dieser Traum realistisch? Sicherlich wäre es schön, wenn wir keine Förderschulen bräuchten. Doch die Realität sieht leider anders aus. Wie soll eine individuelle Förderung dieser Kinder in viel zu großen Klassen möglich sein? Liegt es wirklich immer im Interesse dieser Kinder, an einer Schule eingeschult zu werden, wo sie von vornherein schon von vielem ausgeschlossen sind?

Eines steht fest: Brandenburg hat eine der höchsten Förderschulenquote Deutschlands. Erschreckenderweise entstammen ca. 90 % dieser Kinder der sozialen Unterschicht. Das sagte jedenfalls Prof. Dr. Wocken von der Uni Hamburg während einer öffentlichen Anhörung zum Thema „Sonderpädagogische Förderung“. Hier liegt nach Meinung der DVU-Fraktion das Problem. Diese soziale Unterschicht, wie sich Herr Prof. Dr. Wocken ausdrückte, ist in Brandenburg sehr groß und wird immer größer. Das ist eine der Hauptursachen für den Anstieg der Anzahl der Kinder mit Förderbedarf.

Wir geben außerdem zu bedenken, dass das Land Brandenburg sehr schnell und intensiv dabei ist, alles zu fördern, was unter dem Durchschnitt liegt. Das ist auch notwendig, schon aus rein ökonomischen Gründen, weil wir es uns schlicht nicht leisten können, Potenziale dieser Kinder unterentwickelt zu lassen. Von der moralischen Verantwortung will ich heute gar nicht sprechen.

Aber was ist eigentlich mit der Förderung der Kinder, deren Leistung weit über dem Durchschnitt liegt? Keine Gesellschaft kann es sich leisten, die Potenziale der hochbegabten, hochintelligenten Kinder verkümmern zu lassen. Doch Brandenburg leistet sich diesen Luxus. Die Hochbegabtenförderung ist in unserem Land - vorsichtig ausgedrückt - weit unter dem Durchschnitt. Das darf aber in keinem Fall dazu führen, dass die Gruppe der zu fördernden Schüler gegen die andere Gruppe ausgespielt wird, vor allem nicht finanziell. Damit wäre niemandem geholfen.

Meine Damen und Herren! Die Kosten und die anderen Probleme der Förderschulen könnten beträchtlich reduziert werden,

wenn Sie endlich eine alte DVU-Forderung umsetzen würden.

Verschaffen Sie endlich wieder jedem Brandenburger Kind einen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz!

(Beifall bei der DVU)

Denn im Kindergarten können gut ausgebildete Erzieher frühzeitig erkennen, ob ein Kind Förderbedarf hat oder nicht. In sehr vielen Fällen, vor allem im Bereich der Sprachentwicklungsstörungen und der Störungen im Sozialverhalten, lassen sich bestehende Probleme durch frühzeitige Förderung gänzlich beseitigen oder doch wenigstens so weit beheben, dass im Schulalter nur noch geringer Förderbedarf besteht.

Außerdem gibt es unzählige Fälle, in denen Förderbedarf gar nicht erst entsteht, weil das Kind im Kindergarten gemeinsam mit anderen Kindern von gut ausgebildeten Erziehern betreut wird und so viele Risikofaktoren von vornherein ausgeschaltet sind.

Wenn wir in Brandenburg dann noch ausreichend Sonderpädagogen hätten, um in jeder Kita einen oder zwei von ihnen zu beschäftigen, dann müssten im Schulalter wirklich nur noch die schweren Fälle gefördert werden. Doch dazu müsste Brandenburg in seine Zukunft, in seine Kinder investieren: in deren Erziehung, Bildung und Ausbildung. Doch solange der Grundsatz dieser Landesregierung lautet: „Wir sparen uns die Zukunft“, werden wir auch zukünftig über fehlende Sonderpädagogen und den Erhalt von Förderschulen sprechen. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der DVU)

Herr Minister Rupprecht setzt für die Landesregierung fort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bildungsausschuss wird in seiner Sitzung heute Mittag das Benehmen zu unserer neu gefassten Sonderpädagogik-Verordnung herstellen, die dann, wie von uns geplant, im nächsten Schuljahr in Kraft treten wird.

Im Zuge des Überarbeitungsprozesses hat der Ausschuss vor einigen Wochen eine hier schon mehrmals erwähnte Anhörung durchgeführt, die - das ist meine Meinung - unseren Ansatz zur sonderpädagogischen Förderung weitgehend bestätigt hat.

Lassen Sie mich Ihnen in den nächsten Minuten schwerpunktmäßig einen Überblick darüber geben, wie sich die sonderpädagogische Förderung in Brandenburg entwickelt hat und wie wir sie in den nächsten Jahren weiterentwickeln wollen.

Im Bereich der Sonderpädagogik hat die Kultusministerkonferenz Mitte der 90er Jahre einen Paradigmenwechsel vollzogen. Seitdem sprechen wir nicht mehr von „Förderschulbedürftigkeit eines Kindes oder Jugendlichen“, sondern von „Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf“. Da

mit steht nicht mehr die Institution Förderschule im Mittelpunkt; im Zentrum des Interesses steht der individuelle Förderbedarf jedes einzelnen Kindes. Für diese Kinder und Jugendlichen haben wir im Land Brandenburg schon seit den 90er Jahren verschiedene Unterstützungsformen aufgebaut. Die Förderschule bzw. einzelne Förderklassen sind dabei ein Angebot, das - differenziert nach den verschiedenen Behinderungsschwerpunkten - im Land vorgehalten wird.

Weitere, ebenfalls wichtige Angebotsformen sind der gemeinsame Unterricht und die flexible Eingangsphase, kurz „FLEX“ genannt.

Im Rahmen dieses differenzierten Ansatzes verfügen wir nach wie vor über ein ausgebautes Netz an Förderschulen, die - das will ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen - gute Arbeit leisten. Auch von mir geht ein herzlicher Dank an alle, die in diesen Schulen sehr, sehr gute Arbeit leisten. Natürlich ist die Landesregierung bemüht, auch künftig wohnortnah ein Netz von Förderschulen bzw. Förderklassen für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorzuhalten.

Allerdings kennen Sie alle die demografische Entwicklung - wir haben auch im Plenum oft darüber gesprochen - und ihre Auswirkungen auf das Schulsystem und die Schulstandorte. Die demografische Entwicklung macht natürlich vor den Förderschulen nicht halt. Auch in diesem Bereich sind in den nächsten Jahren weitere Strukturveränderungen nicht zu verhindern.

Von daher begrüße ich ganz besonders die verstärkte Bildung von Förderklassen in Grundschulen und in Schulen der Sekundarstufe I; denn dadurch wird die Entwicklung kooperativ-integrativ arbeitender Systeme unterstützt und auch bei zurückgehenden Schülerzahlen eine wohnortnahe, pädagogisch qualifizierte Versorgung der Schülerinnen und Schüler gesichert. Es ist mir aber auch wichtig zu betonen, dass der Elternwunsch in der Regel das entscheidende Kriterium bei der Beantwortung der Frage, ob das Kind eine Förderschule bzw. Förderklasse besucht oder in den gemeinsamen Unterricht geht, bleiben muss.

Die meisten Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen besuchen die Allgemeine Förderschule - AFS - und damit einen Förderbereich, den wir in den vergangenen Jahren deutlich weiterentwickelt haben. Gemeinsam mit Berlin haben wir neue Rahmenpläne entwickelt und implementiert. Damit sollen die Schulabgänger der AFS - das sind leider zu über 60 % Jungen - besser „auf ein unsicheres Leben zwischen verschiedenartigen Formen von Arbeit und Zeiten von Nichtarbeit vorbereitet werden“. Das Zitat stammt vom Bundesverband „Lernen fördern“.

Trotz solcher Reformen - Frau Geywitz hat darauf hingewiesen müssen wir heute feststellen: 10,6 % aller Jugendlichen verlassen unsere Schulen ohne einen qualifizierten Abschluss der Sekundarstufe I. Etwa die Hälfte von ihnen kommt aus den Allgemeinen Förderschulen.

(Frau Lehmann [SPD]: So ist es!)

Die AFS kann keinen Abschluss der Sekundarstufe I vergeben. Das darf uns nicht ruhen lassen. Wir müssen weitere Anstrengungen unternehmen, die Berufschancen dieser unserer Förderschüler zu verbessern.

Auch wenn wir uns einig sind, dass es im Land Brandenburg derzeit keine Alternative zur Existenz von allgemeinen Förderschulen bis zur 10. Klasse gibt, sollte das nicht bedeuten, dass alle Schülerinnen und Schüler, die wegen einer Lernbehinderung einmal an eine Allgemeine Förderschule verwiesen wurden, diese auch bis zur 10. Klasse besuchen müssen. Stattdessen muss es Ziel dieser Schulen sein, möglichst viele Mädchen und Jungen durch gezielte Förderung in den Stand zu versetzen, zurück in die reguläre Oberschule oder Gesamtschule zu wechseln, um dort einen qualifizierten und anerkannten Schulabschluss zu erzielen.

(Beifall der Abgeordneten Bischoff und Frau Lehmann [SPD])

Die Zahl solcher Rückkehrer ist derzeit noch sehr gering; auch darauf hat Frau Geywitz hingewiesen. In der Regel gilt immer noch die Feststellung: Wer einmal in die Allgemeine Förderschule gewechselt ist, beendet seine Schullaufbahn auch dort mit einer sehr unsicheren Berufsperspektive.

Weil dem so ist und weil nicht jeder Förderbedarf sonderpädagogischer Natur ist, muss es unser Ziel sein, dass nur die Schülerinnen und Schüler an die Allgemeine Förderschule verwiesen werden, die die dortige Form der Förderung wegen ihrer Lernbehinderung wirklich brauchen. Deshalb haben wir in den vergangenen Jahren die Förderdiagnostische Lernbeobachtung - FdL - entwickelt und eingeführt, die in der normalen Grundschulklasse bzw. in den FLEX-Klassen stattfindet.

An dieser Stelle muss ich selbstkritisch einräumen: Im ersten Durchführungsjahr von FdL hat es Umsetzungsprobleme gegeben. Viele haben daraufhin vorschnell geurteilt, diese neue Methode sei völlig untauglich und der durchgehenden Beschulung an einer Allgemeinen Förderschule weit unterlegen.

Inzwischen hat sich das Verfahren stabilisiert; es hat sich bewährt. Die Rahmenbedingungen für FdL konnten für das zweite Schulhalbjahr 2006/2007 mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen und zusätzlich eingesetzten Lehrerwochenstunden von durchschnittlich zwei auf drei pro Schüler verbessert werden. Dieser Standard wird für das kommende Schuljahr gehalten.

Auch die Ergebnisse von FdL sind inzwischen sehr positiv: In 30 % der abgeschlossenen Fälle wurde kein weiterzuverfolgender sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. 45 % der Fälle werden als gemeinsamer Unterricht weitergeführt. Dadurch hat sich der Schwerpunkt sonderpädagogischer Förderung weiter in die Grundschule verlagert. Nur 25 % der diagnostizierten Schüler wechseln in die Förderschule.

Dass die FdL inzwischen gut funktioniert, liegt vor allem daran, dass inzwischen an 44 % der Grundschulen Sonderpädagogen arbeiten; einige besetzen eine halbe, viele aber auch eine volle Stelle. Für das nächste Schuljahr planen wir die weitere Umsetzung von Sonderpädagoginnen und -pädagogen in das Regelsystem, dann an insgesamt mindestens 55 % aller Grundschulen.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zur flexiblen Eingangsphase sagen, die ich schon mehrmals erwähnt habe. In dieser Unterrichtsform lernen Kinder in der Grundschule in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen. Sonderpädagoginnen und

-pädagogen betreuen dabei diejenigen Kinder, die besondere Probleme beim Lernen haben. Nachdem wir von 1999 bis 2002 einen Schulversuch durchgeführt hatten, wurde mit Beginn des Schuljahres 2003/2004 FLEX jährlich im Regelbetrieb ausgeweitet. Im laufenden Schuljahr bieten immerhin schon 139 Schulen - das sind 30 % - FLEX an.

Im Auftrag der Koalition haben wir dieses System evaluieren lassen. Der Abschlussbericht - Frau Geywitz sagte es - liegt vor. Auch wenn die Auswertung noch nicht vollständig abgeschlossen ist, wissen wir bereits: FLEX hat sich bewährt. Darum prüfen wir derzeit einen flächenmäßigen Ausbau von FLEX an allen brandenburgischen Grundschulen. Wenn wir dieses Vorhaben auskömmlich finanzieren und eine hinreichende Versorgung der Schulen mit Sonderpädagogen sichern könnten, dann, so meine ich, sollten wir diesen Schritt gehen.

Dann, meine Damen und Herren, müssen wir prüfen, wie es um die Jahrgangsstufen 1 und 2 an den Allgemeinen Förderschulen steht: Wollen wir an ihnen festhalten, oder wollen wir sie auflösen, wie es beispielsweise in Berlin schon geschehen ist?

Ich weiß, derartige Überlegungen lassen bei vielen die Alarmglocken läuten. Sie vermuten gleich einen Angriff auf die Existenz der Allgemeinen Förderschulen und dass die Förderschulen in Brandenburg entgegen der Themenstellung der heutigen Aktuellen Stunde dann nicht mehr sicher seien. Herr Senftleben hat von Verunsicherung gesprochen. Ich kann sie nachvollziehen.

Diese Angst ist aber aus verschiedenen Gründen unbegründet. Zum einen hängt die Existenz der Allgemeinen Förderschulen nicht von der Existenz 1. und 2. Klassen ab, zum anderen - ich verweise auf meine einleitenden Bemerkungen - sprechen wir schon lange nicht mehr von der Förderschulbedürftigkeit eines Kindes, sondern von seinem sonderpädagogischen Förderbedarf. Wenn dieser Förderbedarf aber in einem flächendeckenden System von FLEX-Klassen am besten diagnostiziert und die Förderung dort auch optimal realisiert werden kann - und zwar von ausgebildeten Sonderpädagogen -, dann ist es mittelfristig auch sinnvoll, ein Doppelsystem in den 1. und 2. Klassen nicht weiterzuführen, zumal wir leider noch zu wenige Sonderpädagogen haben, um uns beide Systeme nebeneinander leisten zu können.

Lassen Sie mich abschließend eine Vision wiederholen, die ich schon mehrfach öffentlich formuliert habe: Wir sollten uns fragen, ob es langfristig gesehen nicht ein lohnenswertes - wenn auch ein sehr ambitioniertes - Ziel ist, alle lernbehinderten Schüler mit modernen Unterrichtsmethoden und gezielter sonderpädagogischer Unterstützung in „normale“ Schulen zu integrieren, damit sie mit den anderen Schülern gemeinsam lernen, von ihnen profitieren und mit ihnen gemeinsam einen Abschluss erwerben können.

Ich weiß, das ist eine Vision, die wir kurz- und auch mittelfristig nicht realisieren können. Aber Visionen sind - anders als Utopien - Strategien des Handelns. Mit FLEX gehen wir einen wichtigen Schritt in diese Richtung, den wir perspektivisch auch weiter gehen wollen.

Natürlich dürfen wir dabei nicht auf Kosten unserer Kinder und Jugendlichen experimentieren. Deshalb ist auch richtig:

Erst wenn die Rahmenbedingungen stimmen, ist eine Realisierung dieser Vision möglich. Bis dahin - das sage ich ganz deutlich - brauchen wir die Allgemeinen Förderschulen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)