Protokoll der Sitzung vom 09.07.2008

Erstens ist unser Armutsbild geprägt von absoluter Not und Elend in den Entwicklungsländern.

Zweitens glaubt man irrtümlich, Kinderarmut in Frankfurt (Oder) oder in Cottbus sei weniger problematisch als solche in Kalkutta oder Maputo, sodass es sich überhaupt nicht lohne, über das Problem zu reden.

Drittens: Wenn in Deutschland Armut zur Kenntnis genommen wurde, gab man die Schuld dafür den Betroffenen selbst oder im Falle der Kinder deren Eltern, welche angeblich faul sind, saufen oder nicht mit Geld umgehen können.

Das hat sich mittlerweile - Gott sei Dank! - geändert; wir wissen das. Regelmäßig werden Armuts- und Reichtumsberichte erstellt. Es ist auch noch nicht lange her, da haben wir uns mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen bei einer Veran

staltung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes getroffen, wo es um die Gründung einer nationalen Armutskonferenz ging. Sie merken: Das ist ein Thema, das uns berührt, und in die Richtung ging auch unsere Große Anfrage.

Es lohnt sich also, die in den letzten Jahren erstellten Studien unserer Diskussion zugrunde zu legen. Wenn es die Landesregierung ernst meint mit der Bekämpfung von Armut vor allem bei Kindern und Jugendlichen, die dann gleichzeitig Prävention gegen Armut im Erwachsenenalter ist, dann müsste sie dies tun. Ich verweise dazu auf die 1. World-Vision-Kinderstudie „Kinder in Deutschland 2007“, den UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland, herausgegeben 2008, und den Kinderreport Deutschland 2007. Keine der Untersuchungen ist übrigens von der LINKEN in Auftrag gegeben worden. Insoweit sind sie sicherlich unverdächtig.

Die Befunde der Studien stimmen in der Grundrichtung überein. Sie lauten zusammengefasst: Armut wird in hohem Maße vererbt. Armut hat sehr stark strukturelle Ursachen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und den individuellen Bildungschancen sowie der gesundheitlichen Entwicklung - und das übrigens mit Auswirkungen bis hin zur Lebenserwartung.

In kaum einem anderen Land sind gerade diese Zusammenhänge so deutlich ausgeprägt wie in Deutschland, wenn das in der heutigen Aktuellen Stunde auch ganz anders klang.

Wie geht man in Deutschland bisher politisch mit diesen Befunden um? Ich möchte dazu Herrn Prof. Dr. Jürgen Borchert, Sozialrichter in Darmstadt, zitieren, der in seinem Vorwort zum Kinderreport Folgendes schrieb:

„Die Gesetzgebung wird oft und zu Recht mit der Chirurgie verglichen. Hier wie dort kommt es auf äußerste Genauigkeit bei der Befunderhebung, Sorgfalt bei der Anamnese und Präzision bei der Diagnose sowie schließlich auf die Stimmigkeit der Therapie an. Gemessen hieran kann einem bei der modernen Familienpolitik der Bundesregierung nur angst und bange werden; denn auf Befunderhebung, Anamnese und Diagnose wird komplett verzichtet.“

So weit Herr Prof. Dr. Borchert.

Legt man den gleichen Maßstab an die Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage an, dann muss man Borchert zustimmen. Befunde werden erst gar nicht erhoben, die Anamnese wird übergangen, und die unklare Diagnose bewirkt eine Therapie, die einem Tablettencocktail mit unbekannter Wirkung gleicht.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Wir entnehmen das zum Beispiel der Tatsache, dass die Landesregierung für den Bereich der Gesundheit bei den Fragen 61 bis 65 über keine Daten, die den Zusammenhang zwischen Gesundheitsgefährdung und Armut betreffen, verfügt. Alle diese Daten betreffen Kinder und Jugendliche nach der Einschulungsuntersuchung, und nur für diese Untersuchung wurden die entsprechenden Daten ermittelt. Gerade während der Schulzeit wird nach dem neuen Gesundheitsdienstgesetz nun gänzlich auf Untersuchungen durch die Gesundheitsämter verzichtet.

Sehr bezeichnend ist die Aussage zur sozialen Selektivität des brandenburgischen Schulsystems. In der heutigen Aktuellen Stunde kam bei vielen Rednerinnen und Rednern zum Ausdruck, dass die Situation insoweit besonders positiv sei. Zwar erklärt die Landesregierung zunächst, dazu gar keine Aussage treffen zu können; allerdings wird die tatsächliche Situation überdeutlich, wenn man sich folgenden Zusammenhang vor Augen führt:

Erfragt wurden die Daten zur Befreiung vom Eigenanteil für den Erwerb von Schulbüchern, was ja ein Indiz für die soziale Lage der Eltern ist. Danach ergibt sich das nachstehend aufgeführte Bild: Bei 32,29 % der Kinder in den Förderschulen brauchen die Eltern keinen Eigenanteil zu übernehmen; 17,7 % sind es an den Oberschulen, 9,6 % an den Gesamtschulen und 2,8 % an den Gymnasien. Wenn das kein Indiz für ein selektives Schulsystem ist! Das sind Zahlen von März 2008.

Wie bei fast allen Themen und Problemen gibt es auch beim Thema Kinderarmut und deren Folgen keinen Automatismus. Natürlich werden Kinder, die in Armut leben, nicht alle schlechte Schüler sein, und nicht alle Jugendlichen, die in Armut leben, bekommen keinen Ausbildungsplatz usw. Aber Fakt ist: Kinder, die in Armut leben, haben es viel schwerer, aus ihrem Leben etwas zu machen, als Kinder aus begüterten Elternhäusern. Lassen Sie mich dazu ein Beispiel anführen, das von materieller und finanzieller Armut zeugt; ich habe den Namen des Betroffenen geändert. Andys Mutter ist Witwe mit Witwenrente und Erwerbsunfähigkeitsrente. Dieses Einkommen wird auf Grundsicherungsniveau aufgestockt. Andy besucht das Gymnasium; er ist also einer der 2,8 %, auf die ich gerade hingewiesen habe. Er ist ein Mathe-Ass. Schon in der Grundschule gewann er bei Mathe-Olympiaden. Er hat ein Handicap: Er hat schweren Diabetes. Mit allen Zahlungen bleiben Mutter und Sohn 200 Euro im Monat zum Leben. Andy ist von der Zuzahlung für Schulbücher befreit; das sind runde 38 bzw. 39 Euro. Aber er muss am Gymnasium, auch in diesem Schuljahr, 80 Euro allein für Arbeitshefte bezahlen; die bekam er nirgendwo her.

(Schulze [SPD]: Hören Sie doch auf mit Ihren Horrorge- schichten!)

Dazu kamen Ausgaben für Stifte - 12 Euro -, für einen Zirkelkasten - 18 Euro - usw. Andy ist seit Beginn - das ist die 8. Klasse - in einer besonderen Wachstumsphase: Von Januar bis jetzt ist er 4 cm gewachsen. Am schnellsten wachsen seine Füße: Von Schuhgröße 42 im Januar zu Schuhgröße 45 im Juli - neue Winterschuhe, neue Sommerschuhe, neue Turnschuhe. 4,40 Euro sind für Schuhe im Monat angesetzt. Nun überlegen wir einmal, warum nur 2,8 % der Kinder aus einkommensschwachen Familien das Gymnasium besuchen!

Dass dabei auch Ressourcen auf der Strecke bleiben können, zeigt noch ein letztes Beispiel: Mathe-Ass Andy wurde von seinen Lehrern am Gymnasium empfohlen, zweimal im Monat an der Mathe-Förderung der Universität teilzunehmen. Die Fahrtkosten wären überhaupt kein Problem gewesen, da er aufgrund seiner Behinderung kostenfrei fahren kann. Aber diese zwei Mal Förderung hätten die Mutter 100 Euro gekostet, und die konnte sie von den 200 Euro Lebensunterhalt einfach nicht mehr abknapsen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, so geht die Landesregierung mit Fakten und Tatsachen um, und folgende Aussagen wurden

getroffen: Elterngeld trägt zur Reduzierung der Armutsrisiken bei. - Aber gerade Eltern mit wenig Einkommen bekommen jetzt statt 24 Monate lang 300 Euro nur noch maximal 14 Monate 300 Euro; das sind satte 3 000 Euro weniger als vorher. Auf unsere Frage, ob die mit dem SGB II gesetzten finanziellen Rahmenbedingungen für gemeinsame Familienaktivitäten als ausreichend eingeschätzt werden, lautet die Antwort:

„Es liegen der Landesregierung keine Erkenntnisse darüber vor, dass die durch das SGB II gesetzten finanziellen Rahmenbedingungen für gemeinsame Familienaktivitäten nicht ausreichend seien.“

Was denken Sie, welches Problem Andys Mutter bei seiner Jugendweihe in diesem Frühjahr hatte?!

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dombrowski beantworten?

Aber gerne.

Bitte, Herr Dombrowski.

Frau Kollegin, würden Sie sich in der Lage sehen, der Mutter von Andy einen Hinweis auf die Unterstützungsmöglichkeit durch den vom Landtag Brandenburg zu beschließenden Schulsozialfonds zu geben, der ja genau dazu da ist, in solchen kleinen Dingen unbürokratisch zu helfen?

Das mache ich sehr gerne, Herr Dombrowski, wenn der Fonds da ist. Aber er soll für so viele Dinge herhalten, dass man sagen muss: Die maximal 3 000 Euro erweisen sich aber als sehr begrenzter Rahmen. Rechnen Sie das aus! Das sind bei 10 Monaten und 100 Euro allein für Andy 1 000 Euro. Dann rechnen Sie sich aus, was für die anderen, die das ebenfalls benötigen, übrig bleibt.

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

Wir fragten:

„Hält die Landesregierung das Angebot an offener Jugendarbeit für Kinder, die in Armut leben, für ausreichend?“

(Schulze [SPD]: Marxistische Verelendungstheorien!)

- Ich glaube, das eignet sich nicht für Witze, Herr Schulze.

(Schulze [SPD]: Das ist überhaupt nicht witzig!)

- Das ist ernst zu nehmen, und lassen Sie es uns ernst nehmen.

(Schulze [SPD]: Sie sind eine Hetzerin vor dem Herrn!)

- Das sind Tatsachen, das ist keine Hetze. Vielleicht haben Sie nicht mit solchen Familien zu tun.

Auf unsere Frage lautet die Antwort der Landesregierung:

„Ja. Kinder, die aus sozial benachteiligten Familien kommen, werden integrativ mit allen Kindern gemeinsam in der offenen Jugendarbeit angesprochen.“

Das ist richtig; ich sage es gleich hier. Die Landesregierung lässt nicht zu, so sagt sie selbst, dass Kinder ausgegrenzt werden und unter sich bleiben. Vielmehr gehören sie selbstverständlich in die Gesellschaft eingebunden. Auch das ist richtig.

Diese Selbstverständlichkeit möchten wir auch. Aber sie hat einfach dort ihre Grenzen, wo in der offenen Jugendarbeit Veranstaltungen angeboten werden, die etwas kosten, die einen Beitrag erfordern. Das ist in vielen Fällen so. Gehen Sie in die Jugendeinrichtungen! Da haben Sie viele Veranstaltungen, bei denen das nicht der Fall ist, aber Sie haben auch andere. Von diesen Veranstaltungen sind die betreffenden Kinder und Jugendlichen ausgeschlossen. Daran müssen wir einfach etwas ändern. Ich sage: Wenn man das nicht sehen will, betreibt man bewusst eine Vogel-Strauß-Politik.

Ein allerletztes Beispiel. Auf die Frage, wo die Landesregierung die Ursachen für eine schlechtere Ernährung armer Kinder sieht, heißt es in der Antwort unter anderem:

„Die von den Eltern vorgegebenen und vorgelebten Essgewohnheiten werden von Kindern übernommen.“

Auch das stimmt ja. Als Ursachen für schlechtes Ernährungsverhalten werden eine ungünstige finanzielle Situation - das ist eine Tatsache -, mangelnde Zeitressourcen der Eltern, eine hohe Belastung, unzureichendes Vorbildverhalten sowie der Erziehungsstil genannt. Schlussfolgerung der Landesregierung - über die streite ich jetzt -:

„Gerade diese Bevölkerungsgruppen müssen besser als bisher vom Nutzen einer gesunden Ernährung überzeugt werden.“

Armutsbekämpfung setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, dass die materiellen und finanziellen Ressourcen eines wachsenden Teils der Familien nicht ausreichen, um Teilhabe zu sichern. Zumindest ein Teil der Koalition versucht stattdessen immer noch, Armut per Definition aus der Welt zu schaffen, nach dem Motto: Wir haben doch die Grundsicherung, also kann kein Kind arm sein. - Stellen Sie doch die Kinder und die Jugendlichen in den Mittelpunkt Ihrer Aufmerksamkeit! Das aber würde verlangen, eine ganze Reihe von politischen Fehlentscheidungen dieser Landesregierung aus den letzten Jahren rasch zu korrigieren,

(Beifall bei der Fraktion DIE LINKE)

angefangen bei der Einschränkung des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz, über die Elternbeiträge für die Fahrt zur Schule; ich könnte die Reihe fortsetzen. Das tun Sie alles nur zaghaft. Um im medizinischen Bild von Borchert zu bleiben: Es geht im Interesse eines Viertels der Kinder und Jugendlichen in unserem Land um folgende Schlussfolgerungen: Erstens Präven

tion, das heißt Armut verhindern; zweitens Therapie auf der Grundlage einer gesicherten Diagnose - es muss wahrscheinlich vielfach auch eine Langzeittherapie sein -; drittens die Akutbehandlung, die durchaus auch eine Schmerztherapie sein kann, nämlich der sofortige Abbau von Benachteiligungen von Kindern durch ganz gezielte Maßnahmen. - Danke schön.