Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag in der Drucksache 5/1911 der CDU-Fraktion. Wer dem Folge leisten möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? Gibt es Enthaltungen? - Ohne Enthaltungen ist dieser Antrag mehrheitlich abgelehnt.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der nun zu behandelnde Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE LINKE beschäftigt sich mit einer speziellen Problematik von Menschen mit Behinderungen.
Am 3. Mai dieses Jahres hatte der Allgemeine Behindertenverband zu einer Diskussionsveranstaltung anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung behinderter Menschen eingeladen. Nicht nur ich, sondern auch die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen waren anwesend. Sie werden sich also noch sehr gut erinnern, dass sehr klar und auch sehr nachdrücklich auf ein spezielles Problem aufmerksam gemacht worden ist, nämlich auf den Zugang zu Arzt- und anderen Praxen.
Die Zahl der Arzt- und Zahnarztpraxen im Lande, die barrierefrei zugänglich sind, liegt nach einer Erhebung der Stiftung Gesundheit bei höchstens 20 %. Bei Physiotherapiepraxen sind es 67 %. Lassen Sie mich an einem praktischen Beispiel erläutern, worum es geht:
Ich musste am Montag mit meinem Sohn zu einem Kardiologen in Cottbus. Dort angekommen fand ich die Arztpraxis mitten in der Innenstadt vor; sie befindet sich in der 3. Etage eines sehr schön restaurierten Altbaus. Auch ein Fahrstuhl - der von seinen räumlichen Ausdehnungen allerdings schwer für einen Rollstuhlfahrer zu handeln war - war vorhanden. Jedoch war es mir nur unter größten Mühen möglich, zum Fahrstuhl zu gelan
gen, denn die Eingangstür des Hauses war für unseren Rollstuhl viel zu schmal und obendrein mit einem massiven Absatz versehen.
Zufällig kam zum gleichen Zeitpunkt eine ältere Dame mit einem Rollator, die zum selben Arzt wollte. Auch sie hatte massive Probleme und wäre ohne meine Hilfe an der Aufgabe gescheitert.
Sie sehen an diesem Beispiel, dass hier Handlungsbedarf im Sinne der Betroffenen besteht. Die durchgängige Barrierefreiheit von Arztpraxen, therapeutischen Praxen und physiotherapeutischen Praxen ist ein Baustein einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Es geht beim Thema Barrierefreiheit übrigens nicht nur um Mobilität, um Stufen, Türbreiten und Behindertentoiletten. Es geht auch um Beschilderungen, die zu klein oder nicht kontrastreich sind, um Terminvereinbarungen, die ein hörbehinderter Mensch nicht per Telefon treffen kann und anderes.
Menschen mit Behinderungen sind Teil der Gesellschaft und leben mitten in ihr. Deshalb gehört es dazu, dass jegliche baulichen, kommunikativen und kognitiven Barrieren abgebaut werden und dass die Betroffenen selbst für ihre Belange eintreten können. Nach einer Statistik des Landesamtes für Soziales und Versorgung des Landes Brandenburg lebten mit Stichtag 31.12.2009 399 388 Menschen in Brandenburg, die als behindert oder schwerbehindert gelten, also einen Grad der Behinderung ab 30 aufweisen. 286 347 Menschen waren als schwerbehindert anerkannt, hatten also einen Grad der Behinderung ab 50. Diese Zahlen zeigen eindeutig, dass wir von keiner kleinen Gruppe von Betroffenen sprechen.
Oft erlebte Praxis ist jedoch - hier erlaube ich mir aus einem Referat der Vorsitzenden des Allgemeinen Behindertenverbandes in der von mir bereits erwähnten Veranstaltung zu zitieren -, dass neue Aufzüge in Krankenhäusern errichtet werden, die nicht die für Sinnesbehinderte erforderlichen Informationen enthalten. Da wird eine hochmoderne radiologische Abteilung in einem Krankenhaus völlig neu gebaut; man kann auch gut mit einem Rollstuhl bis zur Anmeldung gelangen, aber dann ist Schluss. Die ebenfalls neu gebauten Vorbereitungskabinen für das Röntgen sind trotz Neubau wieder mit den altbekannten ganz schmalen Türen ausgerüstet, wie sie in unseren Breiten bei Röntgenkabinen schon immer traditionell waren. Ein Relikt der Vergangenheit, Traditionspflege oder einfach nur Unüberlegtheit? Wer hier nicht aus dem Rollstuhl aufstehen oder den breiten Rollator für die paar Schritte allein zurücklassen kann, wird bereits an der Tür zur Kabine mal wieder zum Sonderfall. Schafft er diese Klippe zu umschiffen, scheitert er oft spätestens an der nicht höhenverstellbaren Untersuchungsliege. - Zitatende.
Die Frage ist nun, was wir auf Landesebene tun können, um möglichst rasch zu Verbesserungen zu kommen. Im vorliegenden Antrag bitten wir die Landesregierung zu prüfen, mit welchen geeigneten Maßnahmen den Betroffenen ein barrierefreier Zugang zu den genannten Örtlichkeiten gewährt werden kann.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen sind einige Dinge beispielhaft aufgezählt. Es ist zu prüfen, ob gesetzgeberische Maßnahmen im Sinne von baulichen und anderen Standards präzisiert bzw. eindeutig gefasst werden müssen. Weiterhin bitten wir zu prüfen, ob bestehende Förderprogramme an Vorgaben zur Her
stellung von Barrierefreiheit geknüpft werden können. Wir könnten uns auch vorstellen, dass die Auflagen spezieller Förderprogramme und vergleichbarer Maßnahmen zur Schaffung der Barrierefreiheit realisiert werden können. Selbstverständlich ist unserer Meinung nach der Abschluss von Zielvereinbarungen zwischen den berufsständischen Vereinigungen bzw. Krankenkassen und den Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen.
Es gibt in anderen Ländern das gleiche Problem und auch schon erste Erfahrungen, zum Beispiel bezüglich dessen, was man mit Zielvereinbarungen nach § 5 des Bundesgleichstellungsgesetzes erreichen kann, ob und wie das Kriterium Barrierefreiheit auch bei der Bewilligung öffentlicher Fördermittel herangezogen werden kann.
Selbstverständlich hat die hier aufgezeigte Problematik einen engen Bezug zur UN-Konvention. Artikel 9 Abs. 1 legt dar, in welchen Bereichen die Vertragsstaaten Barrierefreiheit schaffen müssen. Dazu gehören medizinische Einrichtungen. Der gleichberechtigte Zugang zu Leistungen des Gesundheitswesens wird in Artikel 25 der Konvention gefordert. Neben den mentalen Barrieren problematisiert die UN-Konvention natürlich auch die Barrieren aus dem Bereich der Umgebung. Die Konvention verpflichtet dazu, Barrieren systematisch zu erkennen und schrittweise abzubauen, damit Menschen mit Behinderung eine gleichberechtigte Teilhabe am alltäglichen Leben ermöglicht wird. Deshalb ist das Thema auch für die Umsetzung des Landtagsbeschlusses 5/493 von Bedeutung. Wir möchten angesichts der hohen Bedeutung und der Sensibilität des Themas sehr rasch zu Verbesserungen kommen. Das eine oder andere Bundesland hat da vielleicht etwas früher begonnen.
Ich weiß nicht mehr, wie oft und weswegen wir mit unserem Großen beim Arzt, im Krankenhaus oder beim Physiotherapeuten waren, aber ich weiß wohl, dass wir wie alle Betroffenen immer Sorgen und Ängste hatten. Ich weiß, dass wir aufgrund der Behinderung unseres Sohnes sicher öfter als andere Menschen einen Arzt oder eine Einrichtung aufsuchen müssen. Es wäre eine Erleichterung, wenn wir zumindest ohne größere Anstrengungen überhaupt dorthin gelangen könnten. Darum geht es. - Herzlichen Dank.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag verfolgt eine wichtige Zielstellung. Allerdings enthält er sowohl formale als auch inhaltliche Fehler oder zumindest Ungenauigkeiten. So ist nicht nachvollziehbar, warum der Landtag eine Beschreibung der Realität, wie sie in den ersten beiden Absätzen des Beschlusstextes vorliegt, beschließen soll. Jedoch ist die Prüfbitte an die Landesregierung außerordentlich zurückhaltend formuliert - so, als scheue sich der Landtag in Form der beiden Regierungsfraktionen, die Landesregierung zu einem bestimmten Handeln aufzufordern.
Dabei geht es eben nicht um die neu zu errichtenden Gebäude. Sie müssen nach geltendem Recht barrierefrei sein. Wenn sie
das nicht sind, sind das Fehler der örtlichen Bauämter, welche bei der Bauabnahme darauf zu achten haben. Ich weiß, wovon ich rede: Auch das neue Justizzentrum in Potsdam war bei der Bauabnahme nicht barrierefrei, obwohl die Vorgaben das bestimmt hatten, und es mussten sehr viele Nacharbeiten erfolgen. Dazu gibt es die rechtlichen Grundlagen. Da braucht man eigentlich keine neuen zu schaffen.
Es ist jedoch nicht möglich, durch Gesetze bereits bestehende Praxen bzw. deren Betreiber zu zwingen, ihre Einrichtung durch entsprechende Umbaumaßnahmen barrierefrei zu machen. Insofern kann es nur einen Weg zu dem auch von uns gewünschten Ergebnis geben. Man muss Anreize dafür schaffen, dass der gewünschte Zustand hergestellt wird, und das geht eben nicht, indem man unabhängigen Vertragspartnern Zielvereinbarungen zulasten Dritter empfiehlt.
Für den behindertengerechten Zugang zu Arztpraxen sind die Krankenkassen nicht verantwortlich, und sie werden sich vermutlich auch nicht in die Pflicht nehmen lassen. Ich empfinde es als Zumutung, von den Behindertenverbänden zu verlangen, das Problem mit Zielvereinbarungen, für die sie selbst verantwortlich sind, zu lösen. Damit lässt man die Menschen mit Behinderung im Regen stehen.
In ländlichen Regionen kommt zu dem Problem der Barrierefreiheit noch das zusätzliche Problem des Ärztemangels und der fehlenden Neubesetzung von Praxen hinzu. Hier ist das Land doppelt in der Pflicht, um für Menschen mit Behinderungen den Zugang zu den wenigen vorhandenen Praxen zu ermöglichen. Wir haben einen entsprechenden Änderungsantrag vorgelegt, der sich auf das Wesentliche und tatsächlich Machbare beschränkt, und bitten um Zustimmung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Kollegen! Herr Maresch, Sie haben ausführlich dargelegt, wie unser Antrag entstanden ist, und auch wichtige Punkte, die Frau Peiske auf dem Aktionstag vorgetragen hat, genannt. Insofern möchte ich auf diese Dinge nicht weiter eingehen.
Dennoch sage ich deutlich, dass es mich - wie sicherlich viele andere - sehr überrascht hat, dass nur 20 % aller Arzt- und Zahnarztpraxen und 67 % aller Physiotherapiepraxen barrierefrei sind. Das sind eigene Angaben; wir können also davon ausgehen, dass der Prozentsatz sogar noch geringer ist. Meine Überraschung war auch deshalb so groß, weil wir mittlerweile im 21. Jahrhundert leben. Wir haben das Grundgesetz. Im Jahr 1994 ist in Artikel 3 Abs. 3 explizit die Formulierung aufgenommen worden, dass Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen und gleichgestellt werden müssen. Ich verweise auch auf das Bundesbehindertengesetz. Bei uns gilt auch eine umfassende Sozialgesetzgebung; beispielhaft nenne ich das SGB IX. Wir haben auch eine Landesverfassung und ein Landesbehindertengesetz. All diese Gesetze setzen Regeln
und geben Rahmenbedingungen vor, damit behinderte Menschen gleichgestellt werden. In unserer Landesbauordnung wird die Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden geregelt. Unsere Behindertenbeauftragten arbeiten engagiert in den Regionen vor Ort. In diesem Sinne wirken auch die Arbeitsgruppen „Bauen und Verkehr“, die sich des Themas annehmen. Dennoch müssen wir hinsichtlich der Barrierefreiheit von Arzt-, Zahnarztund Physiotherapeutischen Praxen dieses Fazit ziehen. Das hat mich, wie gesagt, sehr überrascht. Ich gebe es ehrlich zu: Das ist ein kleiner Skandal.
Mit unserem Antrag wollen wir wieder einmal - es ist nicht das erste Mal - die politische Diskussion in Gang bringen. Wir haben das, was an dem Tag von den Vertretern vorgetragen worden ist, aufgegriffen und in einen Antrag hineinformuliert. Heute führen wir die Diskussion. Mit der Erarbeitung - oder: Bearbeitung - des Antrags wird die Landesregierung zusätzlich in die Pflicht genommen, innerhalb der Landesregierung, aber auch mit den Partnern Barrierefreiheit herzustellen. Denn Barrierefreiheit ist nicht nur eine Aufgabe des Landes, Frau Blechinger, Barrierefreiheit geht alle an. Da ist die KV in der Pflicht, da sind auch die Krankenkassen in der Pflicht. Ich glaube schon, dass sie dort ihren Beitrag leisten können.
Ich erwähne auch folgenden Punkt: Für die Wiederbesetzung freiwerdender Arztpraxen gewähren die Kassenärztlichen Vereinigungen eine Zuwendung in Höhe von maximal 50 000 Euro. Warum kann man bei der Gewährung der Zuwendung nicht auch an die Barrierefreiheit denken? Ich denke, dass das möglich ist.
Mir ist es noch wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Antrag im Konsens mit unserem Entschließungsantrag vom Februar dieses Jahres steht. Darin hatten wir eine Frist bis Mitte des Jahres 2011 gesetzt. Insofern möchte ich - das merke ich an, weil es so nicht drinsteht -, dass wir diesen Antrag Mitte nächsten Jahres ebenfalls erneut hier behandeln. - Ich bitte sehr herzlich um Bestätigung unseres Antrags.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal meinen Respekt vor dem verantwortungsvollen Umgang dieses Hohen Hauses mit dem Thema „Behinderung und Barrierefreiheit“ bekunden. Als Parlamentarier setzen wir damit ein deutliches Zeichen, dass Menschen unabhängig von ihrer körperlichen und geistigen Konstitution in unserer Gesellschaft willkommen sind. Es herrscht auch fraktionsübergreifend Einigkeit darüber, dass die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Brandenburg unser gemeinsames Ziel ist.
Meine Fraktion wollte den schleppenden Prozess der Umsetzung in Brandenburg beschleunigen und hat im Februar einen Antrag zur Umsetzung der Konventionen in Brandenburg ein
gebracht. Dass diesem die parlamentarische Mehrheit versagt blieb, lag nicht an inhaltlichen Differenzen. Nein, meine Damen und Herren, zu Beginn des Jahres hat sich in der Landesregierung eine andere Auffassung durchgesetzt. Damals haben wir aus unserer Sicht eine hervorragende Gelegenheit verpasst, in der Behindertenpolitik Maßstäbe zu setzen und für deutlich bessere Bedingungen und gesellschaftliche Akzeptanz zu sorgen.
Meine Damen und Herren von SPD und Linken, Sie haben uns einen Antrag vorgelegt, der die Umsetzung eines zentralen Bestandteils der UN-Behindertenrechtskonvention, der in Artikel 9 verankerten Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen, fordert. Fest steht für mich, dass Sie genau diesen Antrag heute nicht stellen müssten, wenn Sie damals unserem Antrag zugestimmt hätten. In Kooperation mit Verbänden und Betroffenen hat die Landesregierung fünf behindertenpolitische Regionalkonferenzen ins Leben gerufen, in denen eine breite Diskussion über Chancen der Umsetzung der Konvention in Brandenburg geführt sowie Anregungen und Forderungen an die Politik formuliert werden sollen.
Umso unverständlicher ist es, warum Sie bereits heute einen Maßnahmenkatalog zur Herstellung der Barrierefreiheit in medizinischen Einrichtungen fordern. Ihr Antrag steht im krassen Gegensatz zu Ihren Aussagen im Februar. Frau Lehmann, Sie haben damals betont:
„Wir möchten uns für dieses Thema Zeit nehmen. Wir möchten dieses Thema in Verbindung mit dem Behindertengleichstellungsgesetz diskutieren und dann einen entsprechenden Maßnahmenplan erarbeiten.“
„Mir ist es... allemal lieber, ein paar Wochen, Monate länger miteinander zu reden, als im Hauruckverfahren Konzepte und Berichte zu schreiben.... Selbstverständlich müssen die dort gewonnenen Erkenntnisse konstruktiv umgesetzt werden.“
Lieber Kollege Maresch, das Konzept, das Sie und Ihre Kollegen hier heute einfordern, wäre genau solch ein im Hauruckverfahren gezimmerter Maßnahmenkatalog.