Protokoll der Sitzung vom 11.09.2003

lfd. Nr. 2:

a) Aktuelle Stunde

„Explodierende Kitagebühren, teure Schulbücher, Musikschul- und Sportförderung gekürzt: Die familienfeindliche Politik des rot-roten Senats verspielt die Zukunft unserer Kinder“

b) I. Lesung

Gesetz zur Änderung des Kita- und Tagespflegekostenbeteiligungsgesetzes und des Kindertagesbetreuungsgesetzes

Dringlicher Antrag der Grünen Drs 15/2027

[Zuruf des Abg. Pewestorff (PDS)]

Der Bundestag hatte daher schon vor einigen Legislaturperioden eine Enquetekommission zu diesem Thema eingesetzt, die sich mit dem Bevölkerungswandel beschäftigt hat – das dürfte auch Ihnen bekannt sein. Ihre Ergebnisse sind eindeutig: Zum einen muss die Gesellschaft ihre Sozialversicherungssysteme auf den Wandel ausrichten, zum anderen muss sie den Geburtenrückgang zu stoppen versuchen. In einigen anderen europäischen Ländern ist dies bereits gelungen. In Deutschland sind wir hiervon noch weit entfernt. Durch die massiven Geburtenrückgänge in den neuen Bundesländern nach 1990 hatte die Entwicklung in Deutschland nochmals Fahrt gewonnen. In Berlin und Brandenburg bekommen wir das Problem durch massenhafte Schulschließungen direkt zu spüren; in Brandenburg sollen noch einmal 200 Schulen geschlossen werden. In Berlin ist die Zahl der Familien seit 1991 um 15 % zurückgegangen. Ohne Kinder hat eine Gesellschaft keine Zukunft!

[Beifall bei der CDU]

Vor diesem Hintergrund sprechen wir heute über die Familienpolitik des SPD-PDS-Senats. Schauen wir uns die Bilanz der Familienpolitik dieses Senats an: Abbau des Personals in Kindertagesstätten, Erhöhung der Gruppengrößen, Einschnitte bei der Sportförderung, Kürzung bei den Musikschulen, Erhöhung der Eintrittspreise bei den Schwimmbädern und der Tickets der BVG, Abschaffung der Lernmittelfreiheit. Und nun das neueste Projekt, die Erhöhung der Kitagebühren um bis zu 50 %.

Steuer

Die Bezirke lassen Sie mit ihren Problemen grundsätzlich allein – so kommt es schon zu rechtswidrigen Erhöhungen der Gruppengrößen oder zu Verkürzungen der Betreuungszeiten. Die Verunsicherung der Eltern über dieses völlig uneinheitliche Vorgehen ist grenzenlos.

Dieses Problem hat noch eine andere Dimension. Hinzu kommt noch ein nicht geahnter Vertrauensverlust in die Politik. Noch im Januar dieses Jahres teilte die jugendpolitische Sprecherin der PDS, Frau Dr. Barth, in einer Presseerklärung mit – ich zitiere –: „Eine Erhöhung der Elternbeiträge für Kitas in Berlin wird es mit der PDS nicht geben.“

Diese Presseerklärung können Sie heute noch auf der Internetseite Ihres Kollegen Hoff nachlesen, Frau Dr. Barth, dort steht sie nach wie vor.

Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass SPD und PDS Anfang des Jahres erklärt haben, dass die Einschränkung der Lernmittelfreiheit notwendig sei, damit die Kitabeiträge nicht angehoben werden müssen. Welch ein Hohn, Frau Dr. Barth, in den Ohren derer, die damals den Plenardebatten gelauscht haben.

Der Senator argumentierte heute erneut, dass 40 % der Eltern keine Beitragssteigerung erwarten müssen. Erlauben Sie den Umkehrschluss, Herr Senator: 60 % der Eltern werden monatliche Mehrkosten zwischen 30 % und 50 % zu tragen haben. Sie sprechen stets davon, dass nur die besser Verdienenden betroffen seien. Was meinen Sie damit eigentlich? Besser verdienend sind nach Ihrer Tabelle bereits Familien mit einem monatlichen Nettoeinkommen von 1 500 €. Hier kann es durchaus sein, dass ein Elternteil einen kleinen Zuverdienst hat und genau dieser zukünftig zu 100 % für die Finanzierung der Kinderbetreuung verwendet werden muss. In diesem Bereich der Durchschnittsverdiener steigen die Sätze für Kitabetreuung und für Krippen um bis zu 40 %.

[Zuruf des Abg. Over (PDS)]

Diese drastischen Erhöhungen sind völlig unverhältnismäßig und haben mit der tatsächlichen finanziellen Entwicklung der Familien in Berlin nichts zu tun.

Verheerend ist dieses Signal der Beitragserhöhung hinzu. Das Signal lautet: Wer sich in Berlin für Kinder entscheidet, steht ohnmächtig einem Preisauftrieb durch den Senat gegenüber. Nein, wir brauchen mehr Menschen, die sich für Kinder entscheiden. Dazu gehört, dass Familie und Beruf zu vereinbaren sein müssen. Das ist kein freiwilliges Angebot des Staates, sondern hierauf haben die Eltern ein Recht. Es wird ein völlig falsches familienpolitisches Signal gesetzt.

[Beifall bei der CDU]

Was sind die kurzfristigen Folgen Ihrer Politik? Bereits heute – auch wenn Sie das bestreiten – beginnen die Eltern, die Kinder aus den Einrichtungen zu nehmen und statt dessen auf Tagesmütter oder auf Privatinitiativen auszuweichen. Dass Sie, Herr Senator Böger, dies vorhin geleugnet haben, zeigt Ihre Ignoranz gegenüber der Realität in der Stadt Berlin.

[Beifall bei der CDU]

Diese Herausnahmen können in der Zukunft zu sozialen Schieflagen in den Kitas führen. Es stellt sich zudem die Frage, wie Sie beispielsweise Ihre Kitakoffer, die Sie vorgestellt haben, zu den Tagesmüttern bringen. Wie wollen Sie die Qualitätsentwicklung, die Sie erarbeitet haben lassen, in den Privatinitiativen umsetzen? Die lassen sich ja wohl nur in den Kitas umsetzen.

Heute äußern Sie sich in der Zeitung erneut zu dem Thema des zusätzlichen Deutschunterrichts in den Kitas. Wie geht das denn zusammen mit den von Ihnen in den Haushalt eingestellten Kürzungen in Höhe von 12 Millionen € in 2004 sowie erneuten Kürzungen von 60 Millionen € im Kinderbetreuungsbereich in 2005? Millionenkürzungen und gleichzeitige Qualitätssteigerungen gehen einfach nicht zusammen, Herr Böger.

[Beifall bei der CDU]

Gleichzeitig verschärft der Berliner Tarifabschluss die Betreuungssituation in den Kitas. Es ist völlig ungeklärt, wie die Arbeitszeitverkürzung kompensiert werden soll. Sie haben die Einstellung von 300 zusätzlichen Erziehe

rinnen und Erziehern angekündigt – wahrscheinlich brauchen wir rund 1 000 Erzieherinnen, um die Arbeitszeitverkürzung aufzufangen.

[Zurufe von der CDU – Frau Senftleben (FDP): Peinlich!]

[Unerhört! von der CDU]

[Beifall bei der CDU, der FDP und den Grünen]

Ich erinnere mich auch noch an eine Aktuelle Stunde, die die Fraktion der CDU zur Kinderbetreuung und Erhöhung der Kitabeiträge beantragt hatte. Frau FugmannHeesing von der SPD sagte damals: Warum thematisieren Sie das Thema noch, es steht doch nicht mehr auf der Tagesordnung, es wird keine Erhöhung der Kitabeiträge geben. Frau Fugmann-Heesing, wir wussten, dass es anders kommen wird. Sie belügen die Berlinerinnen und Berliner. Jetzt haben Sie die Kitabeiträge erhöht und die Lernmittelfreiheit eingeschränkt.

[Beifall bei der CDU]

Das von Senator Böger so genannte Verfahren zur Einschränkung der Lernmittelfreiheit zeichnet sich gerade durch die Abwesenheit eines Verfahrens aus. Jede Schule macht, was sie will. Ein einheitliches System gibt es nicht. Bis zum heutigen Tag haben noch nicht alle Kinder die notwendigen Bücher. In der letzten Plenarsitzung, Herr Böger, haben Sie gesagt, dass eine Umfrage Ihrer Senatsverwaltung bei den Schulen ergeben hätte, dass bei der großen Mehrheit der Schulen das Verfahren – ich zitiere – „ganz normal abgelaufen ist und damit die Lernmittelversorgung gesichert ist“. Tatsächlich, Herr Senator Böger, haben Sie in diesem Umfragebogen lediglich vier Multiple-Choice-Fragen gestellt. Die Schulleiter sollten ankreuzen, welche Art von Verfahren sie an ihrer Schule eingeleitet haben. Die Frage, ob dieses Verfahren funktioniert und ob die Schüler die Bücher bekommen

Steuer

Darüber hinaus haben die Bezirke Familienurlaub gekürzt, und sie mussten bei den familienentlastenden Hilfen zur Erziehung streichen. Mittlerweile hat sich die familienfeindliche Politik des Senats bis zum Bund herumgesprochen, so dass auf der gestrigen Pressekonferenz – sicherlich zu Ihrem Ärger, Herr Senator Böger – gar der Staatssekretär des Bundesbildungsministeriums die Berliner Politik für ihre familienfeindlichen Ansätze gescholten hat. Das ist unglaublich, Herr Böger! Wir brauchen in Berlin eine Initiative für Familien. Schaffen Sie Rahmenbedingungen, die den Wegzug von Familien aus Berlin stoppen und die Ehepaare ermuntern, Kinder großzuziehen! In Berlin müssen wir nicht weniger für Familien tun, sondern mehr.

(D

Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Sicher gibt es angenehmere Dinge, als über Preissteigerungen und Gebührenerhöhungen reden zu müssen, aber trotzdem ist es manchmal unvermeidbar. Zuerst sei hier jedoch die Frage gestellt und der Versuch einer Antwort unternommen: Was ist familienfeindlicher: finanzielle Belastungen für Familien mit hohem Einkommen oder keinerlei Gestaltungsfreiräume durch erdrückende Schulden und Zinslasten für die nachfolgenden Generationen zu schaffen und zuzulassen?

haben, haben Sie überhaupt nicht gestellt. Insofern haben Sie in der letzten Plenarsitzung das Parlament getäuscht. In Wirklichkeit ist es so, dass es kaum Schulen gibt, an denen bisher alle Schüler mit Büchern versorgt worden sind.

[Beifall des Abg. Rabbach (CDU) – Frau Senftleben (FDP): Das stimmt leider! – Zuruf von der SPD: Quatsch! – Weitere Zurufe von der CDU]

Auch der Sport fällt Ihrem Eifer zum Opfer. Die Kürzung beim Schul- und Sportanlagensanierungsprogramm ist angesichts der desolaten Bausubstanz vieler Einrichtungen ein Skandal.

[Doering (PDS): Wer hat es dazu kommen lassen?]

Die Kürzung in der Kernsportförderung um 22 % wird Auswirkungen auf den Breitensport haben,

[Beifall bei der CDU]

und sie wird auch bei dieser familienentlastenden Einrichtung des Sports schwierige Hypotheken für die Zukunft bringen.

Herr Böger! All dies kommentieren Sie mit den Worten – ich zitiere aus der Zeitung der letzten Woche:

Dass in der Politik nicht nur herumgegackert wird, sondern ab und an auch ein Ei gelegt wird, finde ich vernünftig.

Herr Böger! Ein Huhn können Sie dann nicht sein. Bei so vielen Eiern, die Sie legen, müssen Sie eine Galapagosschildkröte beim jährlichen Ablaichen kurz vor dem Tauchgang sein.

[Heiterkeit und Beifall bei der CDU – Doering (PDS): Was für ein Witz!]

Hühner legen so viele Eier nicht.

Die Erhöhung der Elternbeiträge bei gleichzeitigem Abbau der Kitastandards, die Einschränkung der Lernmittelfreiheit und die Kürzung bei der Sportförderung sind aber nicht Ihre einzigen Eier, Herr Böger! Bereits durch den letzten Haushalt haben Sie die Bezirke so stark drangsaliert, dass sie viele Dutzend Jugendeinrichtungen und Jugendprojekte schließen mussten.