Protokoll der Sitzung vom 29.04.2004

Europa verändert Berlin. Das sagen alle, und das ist auch richtig. Diese Überschrift der „taz“ fasst in drei Worten den Kern zusammen, um den es geht. Die Berlinerinnen und Berliner waren immer aufgeschlossen für Neues, auch für Zuwanderungen. Das hat Tradition in dieser Stadt, und das wird bleiben. Aber es gibt auch Besorgnisse. Herr Zimmer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir diese Besorgnisse ernst nehmen müssen. Ich nenne nur ein Stichwort, den Arbeitsmarkt. Sie wissen – und die Öffentlichkeit weiß es auch –, dass es Übergangsregeln gibt und dass die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Mitgliedsstaaten bis zu sieben Jahre begrenzt werden kann. Aber es ist nur eine rechtliche Möglichkeit. Und die EU-Kommission wird nach zwei Jahren überprüfen, ob an einer solchen Übergangsregelung festzuhalten ist oder ob man sie korrigieren muss. Wenn in Grenzbereichen kleinere und mittlere Unternehmen möglicherweise Fachkräfte brauchen, die sie auf dem heimischen Markt vielleicht nicht finden, und dann nach polnischen Fachkräften suchen, muss man darüber nachdenken, ob man diese Regelung korrigiert und zum Wohle von unternehmerischer Entwicklung in bestimmten Gebieten frühzeitig eine Öffnung schafft. Das muss man sich in zwei Jahren anschauen. – Jedenfalls ist hier für Angst- und Panikmache kein Raum.

Das Abschlusstraining ist bald zu Ende. Wir werden bald auflaufen, und Berlin wird gut vorbereitet auf das Feld laufen, um die Entwicklung und die Chancen, die jetzt entstehen, auch für sich zu nutzen. – Schönen Dank!

dreht sich nichts.“ – Was Herr Pieroth alles so gedreht hat, ist Geschichte. Aber der Stil dieser Koalition ist es jedenfalls nicht, mit diesen aufgeblasenen Worthülsen anzukommen. Diese Hassemer-Rhetorik hat immer nur den Blick für die Realität verstellt und über die mangelnde Substanz hinweggetäuscht. Das ist wie Qualle in Aspik, das brauchen wir nicht. Wir wollen zusehen, dass wir mit unseren Bildern ernst genommen werden.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Nicht der Anspruch, die Schönsten oder Größten zu sein, macht uns attraktiv, sondern die Botschaft an die jungen EU-Staaten zu richten: Eure Entwicklung ist auch unsere Entwicklung. – Wir sollten nicht versuchen, alte Westberliner Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren, sondern selbstbewusst die gegebene Rolle dieser Stadt in diesem internationalen Konzert wahrnehmen, gemeinsam mit dem Bund. Dann wird es auch erfolgreich sein.

Diese Koalition hat in zwei Jahren dazu wesentliche Grundlagen weiterentwickelt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit steht mit seiner Politik und mit seiner Persönlichkeit für das junge, weltoffene, liberale und auch für das experimentierfreudige Berlin. Er hat in seiner Regierungserklärung eben eindrucksvoll bestätigt, dass Berlin fit ist für den Startschuss am 1 Mai.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

In den wesentlichen Fragen der Berliner Politik hat diese Koalition Abschied genommen von Schönrederei und Großmannssucht der vergangenen Jahrzehnte und stattdessen die Basis geschaffen für eine moderne und effiziente Staatsverwaltung.

Und eines muss man an dieser Stelle auch einmal sagen: Es gibt eine Kraft, die den Wandel und die Anpassung West-Ost in wesentlichem Umfang mitgestaltet hat; die war in der Opposition und ist jetzt in der Regierungsverantwortung. Ich will hier einmal anmerken: Was die PDS in diesem Prozess in Berlin bewirkt hat, ist eine Integrationsleistung, die an dieser Stelle auch einmal gewürdigt werden muss. Aber nicht nur die PDS, sondern auch andere Institutionen in der Stadt bringen Ostkompetenz mit, die jetzt zum Vorteil aller genutzt werden kann, und diese Kompetenzen werden wir nutzen.

[Beifall bei der PDS – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ich will dazu noch ein Wort anfügen, das der Präsident des Komitees für deutsch-französisch-polnische Zusammenarbeit gern benutzt, das ist das Wort von der enhanced cooperation – gesteigerte Zusammenarbeit. Jenseits von dem Begriff Kerneuropa, der der Vergangenheit angehört, müssen wir aber insbesondere als Berliner für eine besondere Zusammenarbeit dieser drei Staaten, Deutschland, Frankreich, Polen, arbeiten, weil Berlin in dieser Zusammenarbeit ganz besonders profitieren wird. Das ist nicht allein unsere Aufgabe als Landespolitik, das ist Aufgabe der Bundespolitik. Wir müssen das mit dem Bund koordinieren und dabei helfen, dass es sich zum Wohle Berlins entwickelt.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Danke schön, Herr Kollege Zimmermann! – Das Wort für die Fraktion der FDP hat nun der Kollege Hahn. – Bitte schön, Herr Hahn! Sie haben das Wort.

Danke schön, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten Damen und Herrn! Exzellenzen! Liebe Gäste! Am Anfang meiner Ausführungen zu dieser Regierungserklärung, zwei Tage vor dem historischen Datum 1. Mai 2004, möchte auch ich diesen Tag würdigen.

Dieser 1. Mai 2004 ist ein Tag der Wiedervereinigung Europas, ein Tag, an dem ein alter Teil Europas nach seiner zwangsweisen Abstinenz, nach all den Verheerungen, Verwüstungen und Verletzungen durch den Sozialismus und den Kommunismus in den politischen Westen zurückkehrt.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Frau Schaub (PDS): Sie haben den Faschismus vergessen!]

Ein Teil des Kontinents, der politisch, wirtschaftlich und kulturell immer schon dazugehört hat,

[Brauer (PDS): Wie war das mit dem Kalten Krieg?]

findet an diesem Tag Aufnahme in eine Gemeinschaft, die sich Freiheit und Wettbewerb auf ihre Fahnen geschrie

Wir borgen es uns von kommenden Generationen. Dennoch sind wir von der Notwendigkeit und Nützlichkeit dieser Investitionen in die gemeinsame Zukunft überzeugt.

Man muss das ansprechen, weil die Menschen danach fragen.

ben hat, die Wachstum fördern und eine neue Rolle in der Weltpolitik spielen will, die gemeinsam und führend einen Aufbruch in die Welt des 21. Jahrhunderts unternehmen will.

[Zurufe von der PDS]

Liebe Kollegen von der PDS, das hat nichts mit Kaltem Krieg zu tun,

[Brauer (PDS): Der Beitritt nicht, aber Ihre Rede! – Frau Schaub (PDS): Vergessen Sie den Zweiten Weltkrieg nicht!]

sondern das ist die historische Bedeutung dieses Tages. Das ist seine wirkliche historische Bedeutung; sie kam in den Betrachtungen heute Nachmittag viel zu kurz.

[Beifall bei der FDP]

Diesem Tag sehen wir trotz seiner kritischen Begleiterscheinungen, die er durchaus hat, mit großer Freude und Genugtuung entgegen. Deshalb stehen wir auch hinter der Entschließung, die hier im Anschluss verabschiedet werden soll, auch wenn sie uns in ihrer freundlichen Leerformelhaftigkeit nicht gerade begeistert.

Dieses Datum, 1. Mai 2004, verweist aber auch auf eine Realität hinter all dem Pathos, der wir uns stellen müssen. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes spüren es längst. Sie sehen das Ereignis mit gemischten Gefühlen, und sie betrachten diese EU durchaus kritisch. Sie sehen den Zwist, die nationalen Egoismen, den allfälligen Kampf um das Geld, der hinter der großen Idee den nüchternen Alltag trägt. Wir schulden diesen Menschen Wahrhaftigkeit. Dazu gehört in einer solchen Debatte auch das Eingeständnis, dass längst nicht alles in unserem Verhältnis zu unseren Nachbarn im Lot ist. Da ist der Streit um die Verfassung, ein Streit um die europäische Außenpolitik, der Streit um die künftige Geldverteilung, aber auch der Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin. – Herr Regierender Bürgermeister! Ich anerkenne diesen Teil Ihrer Rede, in dem Sie auf die Probleme eingegangen sind. Es war die beste Passage in Ihrer Regierungserklärung. Dennoch meine ich, dass der Vorschlag, ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin anzusiedeln, legitim ist. Dies hier ist der Ort, an dem von einer verbrecherischen Regierung Vertreibungen in gigantischem Ausmaß erst geplant und dann mit unglaublicher Brutalität in die Tat umgesetzt wurden. Aber es ist eben auch die Hauptstadt des Volkes, das nach dem Krieg Opfer der bisher umfangreichsten Vertreibung in Europa geworden ist. Die Behandlung dieses Vorschlags in Polen enttäuschte, nicht nur mich. Wir brauchen Wahrhaftigkeit auf beiden Seiten der Oder.

[Zuruf der Frau Abg. Dr. Hiller (PDS)]

Das meine ich auch in Bezug auf das Verhältnis zur Tschechischen Republik; die Behandlung der Beneš-Dekrete durch das tschechische Parlament ist wahrlich keine Glücksstunde der europäischen Geschichte. Ich halte sie nicht für akzeptabel.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Zuruf der Frau Abg. Dr. Hiller (PDS)]

Zur Wahrhaftigkeit gehört auch der Hinweis auf die 9 Milliarden €, die Deutschland die Osterweiterung kostet – Geld das wir längst nicht mehr besitzen.

[Zurufe von der PDS – Pewestorff (PDS): Hätte er doch geschwiegen!]

[Beifall bei der FDP und der CDU]

Der Regierende Bürgermeister ist nun aufgewacht. Er entdeckt historische Ereignisse wohl erst dann, wenn eine große Party ansteht.

[Heiterkeit bei der CDU – Frau Dott (PDS): Meine Güte!]

Doch seine Regierungserklärung, die in einigen Passagen gelungen war, hat uns in ihrer Gesamtheit nicht überzeugt. Immerhin – von Risiken der Osterweiterung, von denen bisher kaum mehr die Rede wahr – sie waren ein Tabuthema – wurde hier gesprochen. Herr Wowereit! Sie sagen: „Wir wollen die Ängste ernst nehmen.“ – Das ist gut. Viele Menschen in der Region fürchten um ihren Arbeitsplatz oder um die Chance auf einen neuen Arbeitsplatz. Übrigens gibt es solche Befürchtungen auch auf polnischer Seite. Die Befürchtungen hierzulande haben ihre Ursache in dem großen Lohngefälle, das in dem gemeinsamen Wirtschaftsraum herrscht und dicht hinter unseren Stadtgrenzen beginnt. Es beträgt immer noch 5 zu 1. Das Lohnniveau bei uns ist damit fünfmal höher als bei unseren Nachbarn. Nun muten wir den Brandenburgern genau das zu, was der Westen unseres Landes sich selbst 1990 nicht zumuten wollte – die Lohnkonkurrenz aus dem Osten. Damals hob man das Lohnniveau an, um die Konkurrenzverhältnisse auszuschalten. Heute nun, das müssen wir uns nicht nur aus der Sicht der Brandenburger klar machen, wenn von Ängsten die Rede ist, muten wir den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in unseren Nachbarbundesländern, aber auch in Berlin selbst, genau diese Konkurrenz durch ein geringeres Lohnniveau zu. Das führt zu Kritik. Und wenn diese Mitbürgerinnen und Mitbürger dann lesen müssen, was die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren, Herr Kollege Zimmermann – die sprechen nicht von großen Chancen auf nahe Sicht, sie schreiben von den großen Chancen auf längere Sicht. Kurzfristig, sagen die Institute voraus, haben wir Probleme zu durchstehen: Investoren werden abwandern, und das Lohnniveau wird noch weiter sinken. – Ich habe das in der Debatte vor 14 Tagen hier angesprochen. Der „Spiegel“ macht diese Woche auf mit einer Story unter dem Tenor: „Deutschland wird zu den Verlierern des neuen Europa gehören“.

[Zuruf des Abg. Zimmermann (SPD)]

Nein, Herr Kollege Zimmermann! Dieser Senat ist nicht vorbereitet, und die Stadt auch nicht. Die Realität in

Berlin ist geprägt durch Schlagzeilen wie: „Jeder sechste Berliner ist arm!“ 533 000 Menschen leben hier unterhalb der Armutsgrenze. Hinsichtlich der Kaufkraft rangiert unsere Stadt nach einer Erhebung an 233. Stelle in Deutschland. Man weiß gar nicht, was danach eigentlich noch kommt. Diese wirtschaftlich desolate Situation mindert unsere Chancen im kommenden Wettbewerb. Folgerichtig geht auch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung davon aus, dass wir keinen Zuzug durch die Osterweiterung erleben werden, und kalkuliert damit gar nicht mehr.

Die Wahrheit ist eben, dass Berlin nicht gut vorbereitet ist auf den kommenden verschärften Wettbewerb. Dass dieses Thema bislang ein stiefmütterliches Dasein im Senat führte, davon zeugt die Regierungserklärung des Regierenden Bürgermeisters in ihrem programmatischen Teil. Ich habe Sie selten so emotionslos erlebt, Herr Regierender Bürgermeister, und das sprach Bände.

Die Bilanz dieses Senats ist nach zweijährigem Wirken in allen ihren Aspekten negativ. Deswegen kann ich an dieser Stelle in dieser wichtigen Debatte nur sagen: Es reicht nicht mehr, Absichtserklärungen abzugeben, von Chancen zu reden, die Risiken zaghaft anzusprechen, aber nicht tatkräftig zu handeln. Berlin braucht heute keinen Strahlemann, der Grußadressen verkündet und erklärt, alles sei in Ordnung, Berlin sei eine spannende Stadt, der aber hinten hinaus nach Karlsruhe laufen und um Hilfe bitten muss, weil die Probleme überhand nehmen.

Dazu muss es nicht kommen, denn noch gibt es den politischen Willen, insbesondere der jetzigen Oppositionsparteien, sich dem Niedergang entgegenzusetzen.

Durch den Wegfall der Grenzen gewinnt Berlin seinen alten Wirtschaftsraum zurück; es rückt in die Mitte. Das stimmt nur geographisch – wenn auch das nicht ganz; ein kleines Dorf im Sauerland erhebt den Anspruch, Mitte der neu erweiterten EU zu sein –, wirtschaftlich stimmt es mitnichten. Durch die Erweiterung kommen 23 % mehr Fläche in der EU, 20 % mehr Menschen, aber nur 5 % mehr Wirtschaftskraft. Nach wie vor hinken die Regionen östlich der Elbe wirtschaftlich hinterher – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Die Entwicklungsachse Europas liegt im Westen. Sie formt sich von London bis Norditalien. Deswegen haben wir durch das bloße geographische Faktum der Mittellage wirtschaftlich noch nichts gewonnen.

Berlin war einmal in der Lage, vielen Menschen Lebensperspektiven zu bieten, die auf dem Lande solche Perspektiven nicht mehr hatten und aus Brandenburg, Pommern und Schlesien in die Stadt kamen. Berlin war damals eine aufstrebende Stadt voller Zukunft und profitierte selbst vom Zuzug. Heute ist Berlin eine Stadt im Niedergang.

[Frau Dr. Klotz (Grüne): Eine Stadt im Niedergang?]

Nach acht Jahren realen Wirtschaftsrückgangs können wir den Menschen hier keine Aussicht auf Vollbeschäftigung mehr bieten. Berlin schrumpft, was Wirtschaftsleistung und Investitionen angeht, und ist aus eigener Kraft nicht in der Lage, seine Finanzen zu sanieren.