Protokoll der Sitzung vom 07.03.2002

[Beifall bei der PDS]

Bisher hat es niemanden interessiert, dass es im Ostteil der Stadt für 25 000 Kinder im offenen Ganztagsbetrieb diese Schlüsselziffer gibt. Und noch einmal: Es ist nicht unser ausgeprägter Wunsch und Wille gewesen, gerade diese Verschlechterung herbeizuführen. Es ist eine, natürlich! Aber zur Ausgewogenheit gehört auch das. Wenn es aber gelingt, den Vorsatz umzusetzen, 30 Ganztagsschulen in der Stadt einzurichten und die verlässliche Halbtagsgrundschule im Westteil der Stadt flächendeckend einzuführen, Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache auch auch in der außerunterrichtlichen Betreuung besser zu fördern und die Integration behinderter Kinder als Regelfall auch im Schulhort durchzusetzen, dann ist vielen Kindern und vielen Familien geholfen.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Der offene Ganztagsbetrieb im Ostteil der Stadt bliebe damit erhalten, und im Westteil der Stadt wird durch diese flächendekkende Einführung der verlässlichen Halbtagsgrundschule für viele Familien überhaupt erst einmal die Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich oder verbessert und damit auch ein Stück Angleichung von Lebensbedingungen in Ost und West hergestellt – schrittweise, aber immerhin. – Und in diesem Zusammen

hang, besonders an die Beinahe-Ampelkoalitionen: Erhöhung von Kitagebühren konnte verhindert werden und damit auch die Möglichkeit geschaffen werden, dass im Zusammenhang mit dem Kitaanmelde- und -platzbewilligungsverfahren kein Kind von einem Angebot der Tagesbetreuung ausgeschlossen werden muss.

Die Verbesserung der Bildungsangebote für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache war und ist uns ein besonderes Anliegen. Eine intensivierte Sprachförderung im Kindergarten, mehr multikulturelle Bildungsangebote und die verstärkte Einstellung von mehrsprachigen Erziehern und Erzieherinnen sollen hier nur stichwortartig genannt sein. – Wir haben uns ein wichtiges Ziel gestellt. Wir wollen für junge Migrantinnen und Migranten Chancengleichheit in Bildung und Ausbildung erreichen. Das heißt, Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache zu vergleichbaren Schulerfolgen wie deutsche Schülerinnen und Schüler zu führen. Das verlangt einen Stufenplan mit abrechenbaren Zielstellungen, einen zielgerichteten Einsatz der verfügbaren Ressourcen und eine Qualifizierung der Fördermaßnahmen. Der Maßstab muss sein, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunftssprache, die die Schule ohne Abschluss verlassen, deutlich verringert und der Anteil derjenigen, die einen Realschulabschluss und das Abitur erreichen, erhöht wird.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Nun zu dem, was in der Großen Anfrage und den Anträgen nicht vorkommt, aber unbedingt dazugehört, wenn man der Bildung Priorität verleihen will: Schule muss sich vor allem qualitativ verändern. – Unbestritten, auf dem Weg in die Wissensgesellschaft hat die Schule vielfältige neue Funktionen hinzugewonnen. Ich erspare mir die lange Aufzählung dieser Funktionen. – Wir haben deshalb in der Koalitionsvereinbarung ein deutliches Gewicht auf eine umfassendere Reform von Unterrichtsinhalten, Lehr- und Lernformen, Rahmenplänen und Curricula gelegt. Reduzierung der Stofffülle und des Zeitdrucks, eine Stärkung der Methodenvielfalt, die Überwindung des allgegenwärtigen Frontalunterrichts durch Gruppen- und Projektarbeit, die Stärkung fächerübergreifenden Unterrichts und die Modernisierung der Lehrinhalte – dorthin müssen Veränderungen in der Schule gehen. Aber zugleich waren die Erwartungen an die Berliner Schule nie so hoch wie heute und ihre materiellen Voraussetzungen so schlecht wie zur Zeit. – Qualitative Veränderungen sind nur mit und vor allem durch die an Schule Beteiligten, einschließlich der Wissenschaft, zu erreichen. Politik ist in der Verantwortung, diesen Prozess im Dialog zu befördern und verlässliche Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Zu verlässlichen Rahmenbedingungen ist heute bereits sehr viel gesagt worden, und der Senator ist ausgiebig darauf eingegangen. Aber z. B. eine verlässliche Lehrerpersonalausstattung sowie die Ausstattung mit Lehr- und Lernmitteln will ich hier beispielhaft aufrufen, und zwar über die ganze Legislatur.

[Beifall der Frau Abg. Barth (PDS)]

Qualitative Veränderungen müssen innerhalb der Schule erfolgen. Da ist vor allem pädagogische Selbständigkeit und Eigenverantwortung als Kern des Leitbildes für eine eigenverantwortliche Schule aufgerufen. Schulmanagement und ein eigenverantwortlicher Umgang mit Personal und Sachmitteln sind dafür wichtig und notwendig. Sie sind jedoch kein Wert an sich, sondern müssen der pädagogischen Ziel- und Aufgabenstellung dienen. Dies misst sich daran, wie es gelingt, alle Kinder und Jugendlichen in ihren Fähigkeiten und Begabungen zu fördern und sie zu Entwicklungsfortschritten zu führen. Schule ist kein Hochsprungwettbewerb, bei dem gemessen wird, wer über die Latte kommt, sondern dazu gehört ein bisschen mehr.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Was die Berliner Schule bisher viel zu wenig leistet, ist der produktive Umgang mit einer heterogenen und vielfältigen Schülerschaft. Das immer weiter ausdifferenzierte Schulsystem hat auf keinem Pol, weder bei den Starken noch bei den Schwachen, zu mehr Leistung geführt. Stattdessen beklagen sich Leh

rerinnen und Lehrer, dass sie die falschen Schülerinnen und Schüler hätten, und Eltern, dass der jeweilige Bildungsgang immer noch nicht leistungsorientiert genug sei.

Würden Sie zum Schluss kommen, verehrte Frau Kollegin?

Ich komme zum Schluss. – Wir brauchen hier ein Umdenken, das in jeder Schule beginnen muss, aber auch den Grad der Ausdifferenzierung des Schulsystems auf den Prüfstand stellen muss.

Und nun, ganz zum Schluss, doch das Wort PISA, und zwar PISA International.

Dafür ist eigentlich keine Zeit mehr, Frau Schaub!

Dort wird im Unterschied zu PISA Deutschland deutlich festgestellt: Das deutsche Schulsystem bedient nicht nur die sozialen Unterschiede, es verstärkt sie. Das ist die wichtigste PISA-Lehre. – Danke!

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Danke, Frau Kollegin! – Das Wort hat nunmehr für die Fraktion der FDP die Frau Abgeordnete Senftleben. – Bitte schön, Frau Senftleben!

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren! Sehr geehrte Damen! Das Parlament ist mal voller mal leerer, und offensichtlich wird es Zeit, dass die Bildung wirklich Priorität hat, denn es ist schade, dass es im Augenblick hier bei uns im Parlament ein bisschen leer ist.

[Zuruf des Abg. Gaebler (SPD)]

Bildung muss Priorität haben – ich sage das auch mit PISA –: Sprachfähigkeit der Schulanfänger: mangelhaft, Sprachförderung der Migrantenkinder: mangelhaft, außerschulische Angebote: mangelhaft, Dialog mit den Eltern: mangelhaft, Berücksichtigung des Elternwillens: mangelhaft, Förderung der Schwachen und Starken: mangelhaft. – Die Liste ließe sich verlängern. Aber halt, da gibt es ein Sehr Gut, und zwar in dem Bemühen, insbesondere durch die GEW, die überholten Strukturen in der Berliner Bildungslandschaft zu erhalten.

[Beifall bei der FDP]

Berlin braucht Nachhilfe. PISA sagt es nun wirklich allzu deutlich: Kitas und Vorschulen als Bildungseinrichtung haben im wahrsten Sinne eine elementare Bedeutung für unsere Kinder. Und das wird viel zu wenig von Lehrern, Eltern und auch Politikern beachtet. Erzieher und Erzieherinnen haben eine verantwortungsvolle Aufgabe zu erfüllen, zum einen Kinder mit den unterschiedlichesten Voraussetzungen in die Gemeinschaft einzuführen, zum anderen das einzelne Kind als Individuum in all seinen Facetten zu stützen, Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erkennen, die Zwerge zu motivieren, individuelle Fragen zuzulassen und individuell zu beantworten. Erzieher und Erzieherinnen sollen die Eltern aufmuntern, sich am Bildungsprozess ihres Kindes aktiv zu beteiligen. Kitas sind keine Aufbewahrungsanstalten für unsere Kinder. Auf spielerische Art müssen sie hier auf Schule vorbereitet werden. Kitas sind Bildungseinrichtungen.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Hier müssen wir ran. Erstens ist eine qualifizierte Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher zukünftig ein Muss. – Frau Jantzen, ich beziehe hier die männlichen Erzieher immer bewusst mit ein, da ich glaube, dass Sie gerade in dem Beruf, bei Erziehern und auch bei Lehrern, auf die männliche Quote achten müssen. –

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Zuruf der Frau Abg. Flesch (SPD)]

Noch einmal: Wir brauchen auch die Fortbildung und Weiterbildung der jetzt Tätigen.

Zweitens müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Ein vernünftiges Umfeld gehört dazu, gesicherte Finanzen, aber auch eine Gruppengröße, die die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder berücksichtigt. Packen wir es jetzt an! Legen wir jetzt das Fundament!

[Beifall des Abg. Ritzmann (FDP)]

Nun zur Grundschule. Auch hier gibt es in der Tat einen riesigen Nachholbedarf. Die Verantwortlichen müssten eigentlich alle rote Ohren bekommen, denn der Staat hat hier seine Pflichten in den letzten Jahren eklatant vernachlässigt.

[Beifall des Abg. Dr. Lindner (FDP)]

Pflicht und Aufgabe der Grundschule muss es nämlich sein, das Kind in der Gemeinschaft so zu fördern, dass es die Zukunft in unserer Gesellschaft eigenverantwortlich meistern kann. Grundschule legt dazu den Grundstein. Und es ist nicht so, dass wir uns nur für Berlin Sorgen machen müssen! Nein, wir müssen uns um die Zukunft jedes einzelnen Kindes bemühen. Das ist das Entscheidende, und das macht offensichtlich auch den Unterschied in der heutigen Diskussion aus.

[Beifall bei der FDP]

Neugier erhalten, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, soziales Lernen lernen – ein weites Feld, und es wurde vernachlässigt. Motivation, Wissbegierde, der Forschergeist sind nicht ausreichend gefördert worden. Die unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen sind nicht ausreichend berücksichtigt worden. – Ich bringe ein kleines Beispiel. Viele von Ihnen kennen wahrscheinlich die Karikaturistin Marie Marcks. Ich erinnere mich daran, einmal folgende Karikatur gesehen zu haben: Ein Affe, ein Hund und eine Schlange stehen vor einem Baum. Die Aufgabe heißt: „Nun klettert mal schön! Da oben müsst ihr alle hin!“ – Der Affe schafft es von allein. Der Hund braucht Hilfe. Die Schlange schafft es zwar auch allein, muss aber immer motiviert und „gedrückt“ werden. Das Ziel ist klar definiert worden. Auf welche Art das Ziel erreicht wird, das ist individuell. – In diesem Zusammenhang lassen Sie mich unser Ziel noch einmal wiederholen: Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen wollen wir jeden jungen Menschen in die Lage versetzen, seine Zukunft in dieser Gesellschaft eigenverantwortlich zu meistern. Die Grundlage gibt die Grundschule.

Was heißt das für uns? Was muss die Grundschule heute leisten? – Mehr Futter für die kleinen Hirne! Gerade die kleinen Hirne saugen ohne Ende Wissen auf wie ein Schwamm, das haben wir verpasst. Kuschelecken mögen nett sein, aber viel wichtiger sind Leseecken, Experimentierecken und Fremdsprachenangebote!

[Beifall bei der FDP]

Mehr Zeit in der Schule verbringen! – Schule soll auch am Nachmittag Spaß machen. – Eltern mit in die Schule einbeziehen! Wir müssen es den Eltern ganz deutlich sagen: Bildung ist das Fundament der Zukunft für ihr Kind. Bildung ist mehr als Unterricht!

Um diesen erhöhten Anforderungen gerecht zu werden, bedarf es Umstrukturierungen: einer besseren Lehrerausbildung, einer qualifizierteren Aus- und Weiterbildung der jetzigen Lehrkräfte; das Motto „lebenslanges Lernen“ muss auch und gerade für diesen Berufsstand gelten.

Wir brauchen aber auch bessere Rahmenbedingungen, die ohne finanzielle Belastungen umgesetzt werden können. Erstens: mehr Eingenverantwortung der Schule. Berlin ist dabei, einen Schritt zu gehen, doch leider hat es die GEW noch nicht so ganz begriffen, spielt weiter den Bremser. Schulleiter und -leiterinnen wollen mehr Verantwortung tragen. Lassen wir sie endlich! Mehr Freiheit, weniger Staat – das braucht eine mutige Politik.

[Beifall bei der FDP]

Zweitens: Lehrpläne „entrümpeln“. Die Schulen müssen die Möglichkeit der eigenen Profilierung erhalten, ohne die Kernbreite zu vernachlässigen. Auch hier gilt: mehr Freiheit, weniger Staat – das braucht eine mutige Politik.

Drittens: Lehrkräfte vermitteln Wissen, sind aber auch Ansprechpartner für Schüler und Schülerinnen. Sie müssen deshalb mehr Präsenz zeigen. Das bedarf einer mutigen Politik.

Viertens: Notwendige gezielte Fördermaßnahmen in Kleinund Kleinstgruppen durchführen. Nicht nur darüber reden! Mehr Individualisierung! Das bedarf einer ehrlichen Politik.

Und – last not least –: Schule muss evaluiert werden. Nur über Vergleiche werden Defizite sichtbar. Hier braucht die Politik Mut zur Ehrlichkeit.

[Beifall bei der FDP]