Protokoll der Sitzung vom 11.10.2007

Kinder – Reichtum oder Armutsrisiko? Wirksame Strategien gegen Kinderarmut entwickeln

Antrag der Linksfraktion

Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redner aufgeteilt werden kann. Es beginnt Frau Bluhm, die Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion. – Bitte schön, Frau Bluhm, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeden Tag werden in Berlin ca. 80 Kinder geboren. 30 von ihnen werden unter Bedingungen aufwachsen, die wir als „arm“ bezeichnen. Für diese Kinder gilt: Sie müssen von 208 € im Monat Essen, Bekleidung, Hort- und Kitabeiträge, gesundheitliche Versorgung, Freizeitaktivitäten, ein gutes Buch, einen guten Film, Theater- und Tierparkbesuche bestreiten. Wir haben die Scheu verloren, über diese Armut zu sprechen. Wir benennen sie, aber das heißt nicht, dass wir sie akzeptieren. Für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens wird viel davon abhängen, ob es uns gelingt, Armutsprobleme und -folgen produktiv anzupacken. Darüber wollen wir heute mit Ihnen reden.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Die soziale Spaltung der Gesellschaft hat ungeahnte Ausmaße erreicht. Hartz IV hat die Spaltung vertieft. Interessanterweise sind auch die Grünen mehr und mehr zu dieser Auffassung gelangt, seit sie nicht mehr bundespolitisch regierungsbeteiligt sind. Das Hauptproblem sind die Arbeitslosigkeit und die unzureichenden Maßnahmen dagegen.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist im Wesentlichen durch die Entstehung neuer Minijobs im Niedriglohnbereich bedingt. – Herr Sarrazin! Diese Menschen sind nicht faul, sie können nur von ihrer Arbeit nicht leben, weil die Gesellschaft ihnen keine sozialversicherungspflichtigen und existenzsichernden Arbeitsplätze anbietet. Diese sind nicht im Angebot, sondern Minijobs im Niedriglohnbereich. Ich finde, Arbeitslose brauchen ein Angebot und unsere Unterstützung, um auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzufinden. Sie verdienen auch die Anerkennung, auf diesem Weg begleitet zu werden, statt sie zu kritisieren

[Beifall bei der Linksfraktion]

und ihnen individuell die Schuld zuzuweisen für das größte gesellschaftliche Problem, das wir in diesem Land haben.

Kinderarmut beginnt nämlich mit Elternarmut. Auch einige Maßnahmen der Bundesregierung der letzten Zeit haben die soziale Schieflage verschärft. Wir schauen uns das Elterngeld an: Vor der Neuregelung gab es dieses Elterngeld gerade für Studentinnen und Studenten, die Eltern sind, für geringverdienende und erwerbslose Eltern 24 Monate lang. Dieser Zeitraum hat sich jetzt halbiert. Das Kindergeld – das gilt für alle Eltern in dieser Stadt und in diesem Land – wird nur noch bis zum 25. Lebensjahr gezahlt. Dadurch ist beispielsweise in Berlin eine bemerkenswerte, schwierige Situation entstanden: Die studierwilligen Abiturienten haben mit Mitte 20 gerade einmal ihre Wartezeit erfüllt, um einen Studienplatz in

Berlin zu bekommen, oder sie müssen in CDU-geführten Bundesländern Studiengebühren zahlen. Da hat es wiederum eine deutliche Verschlechterung für Eltern, aber auch für die betroffenen Kinder gegeben.

Seit Langem diskutieren wir, dass Hartz IV Folgen für die Kinderarmut und Chancengleichheit hat. Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaft, viele engagierte Menschen haben dies unterstützt und gesagt: Es ist nicht möglich, mit den Regelsätzen von Hartz IV ein chancengleiches, am gesellschaftlichen Leben teilhabendes Leben zu führen, insbesondere nicht für Kinder. – Deshalb stellen wir genau diese Forderung in den Mittelpunkt unserer heutigen Debatte. Wir finden es wichtig, zuerst über ein Handlungspaket auf Bundesebene und dann darüber zu sprechen, was wir in Berlin bereits erreicht haben und auf welchen Grundlagen wir dieses Problem in Berlin angehen.

Deshalb bitte ich um Aufmerksamkeit für das Handlungspaket, das die Linksfraktion gegen Kinderarmut vorschlägt. Da ist zuallererst die schon lange in Diskussion befindliche Forderung, die Höhe der Regelsätze neu zu bestimmen und eine Berechnungsgrundlage zu wählen, die die entwicklungsbedingten Bedarfe abdeckt – ein besonderes Problem für Kinder und Jugendliche – und Chancengleichheit garantiert. Es geht um die Aufnahme eines neuen Mehrbedarfstatbestandes, z. B. für die Mittagessenverpflegung. Aus dem täglichen Regelsatz von 2,60 € für Essen pro Kind und Tag ist es schwer möglich, auch ein warmes Mittagessen zu finanzieren.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Es geht um das Kindergeld, das nicht mehr auf die Transferleistungen angerechnet werden soll. Da könnte Herr Lindner, würde er zuhören, jetzt etwas lernen, denn er musste ja erst einmal zur Kenntnis nehmen, dass Arbeitslosengeld II empfangende Eltern gar kein Kindergeld bekommen, weil es auf den Regelsatz angerechnet wird. Also: Da können Sie etwas lernen. Wenn sich unsere Forderung durchsetzt, dann können Sie mit Ihren Forderungen, die uninformiert waren, noch einmal kommen.

Der Kinderzuschlag soll erhöht und damit auch das Verfahren erleichtert werden, diesen Kinderzuschlag zu erlangen. Mehr Kinder sollen in den Genuss dieses Kinderzuschlags kommen.

Als Letztes: Einmalige Leistungen, beispielsweise für die Einschulung oder den Eintritt in die Ausbildung, sollen finanziert werden.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Aber es geht auch darum, was man in Berlin auf der Grundlage eines grundsätzlich guten Gerüstes gegen Kinderarmut und für Chancengleichheit noch tun kann. Dort ist es uns wichtig, ein Starterpaket gegen Kinderarmut für Schulanfängerinnen und -anfänger zu gewährleisten: 50 € für alle Kinder, die von der Lernmittelfreiheit bezahlt sind. Wir haben bis zum nächsten Schulanfang Zeit, uns dafür eine sinnvolle Variante zu überlegen. Viele Kom

munen um Berlin herum haben eine Lösung gefunden; auch wir sollten uns auf diesen Weg machen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Schon vor der Sommerpause haben wir festgelegt, dass das warme Mittagessen ein wichtiger Bestandteil der Ganztagsversorgung für die Schülerinnen und Schüler ist. Deshalb ist es bereits jetzt so, dass im Ganztagsbetrieb, in der Kita und im offenen Ganztagsbetrieb das Mittagessen 23 € kostet. Wir wollen dies auf den Bereich der gebundenen Ganztagsschule ausweiten und einen Fonds für besondere Lebenssituationen an den Schulen verankern, um den Schulen die Möglichkeit zu geben, auf besondere Härtefälle zu reagieren.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir sind dabei, die Frage zu klären, wie der öffentliche Gesundheitsdienst noch besser genutzt werden kann, gerade für einkommensschwache Eltern und Familien. Wie bekommen wir sie dazu, diese Angebote anzunehmen? – Manchmal reicht der Hinweis, dass dort keine Praxisgebühr fällig wird. Diese Vorsorgeuntersuchungen und Beratungen sind für die Kinder außerordentlich wichtig, sie müssen genutzt werden.

Bei der Stärkung der Bildungsinstitutionen – sowohl der Kita als auch der Schule – haben wir sehr viel richtig gemacht. Insbesondere im Vergleich zu anderen Bundesländern zeigt sich, dass wir ein flächendeckendes Netz der Kinderbetreuung von 0 Jahren bis zum Schuleintritt erhalten und ausgebaut haben. Wir bekommen, wie der Senat am Dienstag beschlossen hat, bis 2013 noch einmal 90 Millionen € für den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur der Betreuungseinrichtungen für Kinder unter drei Jahren vom Bund. Das ist sehr gut, weil es für die qualitative Verbesserung dieses Standortfaktors, der uns von anderen Bundesländern unterscheidet, sorgt. Es ist uns auch gelungen, diese Betreuungseinrichtungen mit dem Bildungsanspruch und der Sprachförderung zu verbinden. Wir haben zudem einen besseren Zugang als die meisten anderen Bundesländer. Trotzdem wünschen wir uns einen ganztägigen oder wenigstens ganztagsähnlichen Zugang für Kinder von erwerbslosen Eltern. Wir werden in dieser Legislaturperiode noch genau prüfen, ob wir diesbezüglich auch noch handlungsfähig werden können.

Darüber hinaus gibt es weitere sehr gute Beispiele, über die man Bescheid wissen sollte: Die HOWOGE macht Schule mit einem Bildungsvertrag, den sie zwischen Schule, Volkshochschule und Bibliotheken abgeschlossen hat und der die kostenlose Nutzung der Bibliothek für Bewohner und Mieter der HOWOGE vorsieht. Das Netzwerk Kinderschutz haben wir für die aufsuchende Elternhilfe aufgestockt. Ein Wort noch zur Gemeinschaftsschule: Die Chancengleichheit war für meine Partei und für die Koalition sehr wichtig. Es war eine sehr prägnante und schmerzliche Erfahrung, dass für große Teile der Opposition die Chancengleichheit, die im gegliederten Schulsystem überhaupt nicht gewährleistet wird,

[Dr. Martin Lindner (FDP): Doch!]

kein Thema ist. Die Grünen haben sich mit Argumenten, die ich nicht nachvollziehen kann, vom Acker gemacht.

Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist bereits beendet!

Das ist ein Thema, das wir weiterhin verfolgen werden. Ich bedanke mich bei allen Schulen, die mitmachen. Das Thema Leistung und Gemeinschaftsschule wird uns noch sehr lange beschäftigen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Bluhm! – Für die CDUFraktion hat das Wort Frau Abgeordnete DemirbükenWegner. – Bitte sehr!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Kinder erfrischen das Leben und erfreuen das Herz“ – das wusste bereits der Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik, Friedrich Schleiermacher, vor 200 Jahren. Darum gibt es für uns in der Union bei der Abwägung der Frage, ob Kinder Reichtum oder Armut bedeuten, nur eine Antwort: Kinder sind Reichtum!

[Beifall bei der CDU und der FDP]

Diesen Reichtum gilt es zu hüten und vor allem jenen ins Bewusstsein zu rufen, die Kinder in erster Linie als Kostenfalle und Einschränkung ihrer individuellen Freiheit sehen.

In unserer Gesellschaft gibt es strukturelle und wirtschaftliche Verwerfungen, die dazu führen, dass Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut immer deutlichere Spuren hinterlassen. Davon sind vor allem Kinder betroffen, deren Mütter und Väter entweder seit Jahrzehnten im Sozialhilfebezug stehen oder von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind. Auf Bundesebene hat die zuständige Bundesministerin auf das zunehmende Armutsrisiko schnell reagiert und gezielte Hilfen für Eltern und Kinder ergriffen, z. B. mit dem bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbetreuung, der Einführung des Elterngeldes, der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags, der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten sowie mit Maßnahmen zur Stärkung der Erziehungskompetenz von Eltern durch das Aktionsprogramm „Frühe Hilfen“. Grundlegend ist jedoch, dass ein Arbeitsplatz mit ausreichendem Verdienst den besten Schutz vor Armut bietet. Daher sind nach wie vor wirtschaftliches Wachstum, Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, Bildung und Ausbildung, Zugang zur Erwerbstätigkeit sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf von zentraler edeutung. B

Die materielle Armut ist jedoch nur eine Seite der Kinderarmut – eine andere ist die Benachteiligung im Bildungsbereich. Dies führt zu mangelnden beruflichen Perspektiven und zu Diskriminierungen. Viele Kinder und Jugendliche haben zudem gesundheitliche Probleme, sie werden falsch ernährt und leiden unter Vernachlässigung und Gewalt, weil ihre Eltern nicht mehr in der Lage sind, das eigene Leben und das ihrer Kinder in den Griff zu bekommen. Darum braucht es neben den Anstrengungen auf der Bundesebene verstärkte Initiativen der Länder, um den Teufelskreis von Armut und Bildungsferne zu durchbrechen, die Selbsthilfekräfte der Familien zu stärken, die gesundheitliche Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu verbessern sowie ihnen nachhaltig berufliche Perspektiven zu eröffnen. Auch hier ist das Land Berlin defizitär; es belegt weder bei der wirtschaftlichen Entwicklung noch im Ranking der gesunden Städte und schon gar nicht im neuen Familienatlas 2007 vordere Positionen. Da reicht es nicht, verehrter Herr Senator Zöllner – er ist abwesend, aber die Stadtentwicklungssenatorin Junge-Reyer ist anwesend –, zu sagen, dass wir in zwei Handlungsfeldern ganz vorne liegen, bei den anderen aber, wie z. B. im Bereich der Bildung und Ausbildung, ganz hinten. Es kann nicht sein, dass zwei Handlungsfelder gegenüber vielen anderen Indikatoren als Kompensation dargestellt werden.

[Beifall bei der CDU]

Auch der Hinweis, verehrte Kollegin Frau Dr. Barth, auf eine Presseerklärung von uns, dass in diesem Bereich verantwortungslos gehandelt wird, ist für mich absolut nicht nachvollziehbar. Wenn alles so gut läuft, warum haben Sie dieses Thema zu Ihrer Priorität erklärt? – Das bedeutet doch, dass Ihre Politik in diesem Bereich defizitär ist und wir im Familienatlas den Platz haben, den wir verdienen.

[Beifall bei der CDU]

Sie fragen und sollten Ihre Fragen selbst beantworten. Die Widersprüchlichkeiten stellen sich massenhaft aus Ihrer Frage. Wie sieht Ihre Politik aus? – Sie verzettelt sich in ihr Prestigeprojekt Einheitsschule,

[Zuruf von der SPD: Immer noch Gemeinschaftsschule!]

anstatt die Regelschule zu stärken, den Unterrichtsausfall zu stoppen und die Gewalt an den Schulen zu unterbinden. Sie sieht tatenlos zu, wenn die Bezirke aus Geldmangel bis jetzt ca. 140 Jugendfreizeiteinrichtungen schließen müssen. Trotzdem sagen Sie, Sie seien spitze in diesem Bereich. Mit dem Netzwerk Kinderschutz bleibt sie auf halbem Wege stehen, weil der öffentliche Gesundheitsdienst wegen Personalmangels seine Aufgaben nicht mehr versehen kann.

[Heidi Kosche (Grüne): Doch!]

Sehr verehrte Frau Blum! Da reicht es nicht, dass Sie die 400 000 € für aufsuchende Eltern als Auffanglager für das gesamte Netzwerk Kinderschutz darstellen, als ob Sie die tolle Politik machen! Sehen Sie sich bitte um! Mit Neukölln haben wir einen Riesenbezirk mit vielen schwieri

gen Problemfeldern. Selbst den einen Kinderarzt, der für die vielen Kinder und Jugendlichen dort noch zur Verfügung steht, werden wir aus altersbedingten Gründen bald nicht mehr haben. Darüber sollten Sie sich den Kopf zerbrechen!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Das waren nur einige Beispiele. Ich könnte sie unendlich lange fortsetzen. Ich kann in Ihrer Arbeit keine wirksamen Strategien gegen die Kinderarmut erkennen, sondern nur eine vollkommen verfehlte, irregeführte Politik – der wir aber nicht einfach tatenlos zusehen werden.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Frau Abgeordnete Demirbüken-Wegner! – Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Frau Abgeordnete Scheeres das Wort. – Bitte!