Protokoll der Sitzung vom 11.10.2007

[Beifall bei der FDP – Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Es gibt auch geistige Armut!]

Auf diese Weise würden wir vielen Eltern mangelnde Erziehungsverantwortung unterstellen, nur weil sie mit Arbeitslosengeld II leben. Dem ist nicht so. Das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden.

Dennoch sind wir uns einig, dass wir, wenn wir über Kinderarmut reden, schnell beim Thema soziale Vernachlässigung sind. Die Kinder, die täglich die „Arche“ oder das „Jona-Haus“ besuchen, kommen jedoch nicht nur wegen der warmen Mahlzeit, sondern auch wegen menschlicher Wärme und Geborgenheit, die sie so zu Hause nicht erleben. Hausaufgaben werden erledigt oder Bücher gelesen.

Aber auch die Kinder, die in einem liebevollen Zuhause aufwachsen und dennoch unter der Armutsgrenze leben, werden durch die katastrophale Bildungspolitik dieses Senats dadurch verdammt, arm zu bleiben und das an die eigenen Kinder weiterzuvererben.

[Beifall bei der FDP]

Wie viele Kinder in finanzieller Armut leben und wie sich diese Zahl seit der Geburtsstunde von Rot-Rot im Jahr 2001 entwickelt hat, zeigt der Blick in die Statistik. Im Jahr 2001 lebten mehr als 76 000 Kinder von Sozialhilfe, 2004 waren es bereits mehr als 96 000 Kinder. Das ist eine Steigerung von mehr als 25 Prozent. Also hören Sie auf, die Schuld auf die Einführung von Arbeitslosengeld II zu schieben!

[Beifall bei der FDP]

Diese Situation hat sich weiter verschärft. Im Jahr 2005 lebten etwa 166 000 Kinder von Arbeitslosengeld II. Der Anstieg hängt zwar mit dem Wegfall der Arbeitslosenhilfe zusammen, aber im Dezember 2006 waren bereits 10 000 Kinder mehr betroffen. Diese erschreckenden Zahlen machen eines deutlich: Kinder sind kein Armutsrisiko, sondern diese rot-rote Regierung.

[Beifall bei der FDP]

Sie sind nicht in der Lage, diesen Trend aufzuhalten. Im Gegenteil: Durch Ihre Klientelpolitik wird es immer schlimmer. Wie erfolgreich sind denn Ihre Ganztagsschulen? – Ich sehe nur, dass die ersten wieder aufgeben wollen. Das nächste Drama ist die Hotline Kinderschutz. Das war ein vernichtendes Hin und Her, bis das endlich passiert ist.

[Mieke Senftleben (FDP): Richtig! – Uwe Doering (Linksfraktion): Aber es ist passiert! – Mieke Senftleben (FDP): Aber wann denn?]

Weiter bei der Jugendhilfe: Auch hier haben erschütternde Fälle misshandelter Kinder gezeigt, dass die Betreuung gefährdeter Familien unzureichend ist. Der ÖGD wurde klein- und krankgeschrumpft, sodass weder alle Risiko

familien besucht werden noch die erforderlichen Untersuchungen in der Kita erfolgen können.

Welche wirksamen Maßnahmen haben Sie hier ergriffen? – Das, was Sie gegen Armut unternehmen, ist lautes Reden, um sich zu profilieren, spürbare Schritte bleiben aus. Wenn man wirksam etwas gegen Kinderarmut – auch im materiellen und emotionalen Sinn – tun will, sind Schnellschüsse, wie sie manchmal auch von den Grünen gemacht werden, fatal und verantwortungslos.

[Beifall bei der FDP – Uwe Doering (Linksfraktion): Guck einer an!]

Die platte Forderung nach der Erhöhung der Bedarfssätze geht am Problem vorbei. Wenn Sie hier schon Bundespolitik machen wollen, dann warten Sie die Auswertungen des Kompetenzzentrums für familienbezogene Leistungen auf Bundesebene ab, um dann die wirksamen Leistungen zielführend einzusetzen.

[Beifall bei der FDP – Uwe Doering (Linksfraktion): Also abwarten!]

Bis dahin muss sich der Senat seiner Regierungsverantwortung hier im Land stellen. Führen Sie einen Kurswechsel Ihrer sozialistischen Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik herbei! Hören Sie auf, den Menschen einzureden, Sie seien der kleine Mann und bedürften der staatlichen Bevormundung! Geben Sie den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt ihre Selbstverantwortung zurück und somit echte Hilfe durch Selbsthilfe! – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP – Zuruf von Wolfgang Brauer (Linksfraktion)]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Lehmann! – Jetzt hat der Senat das Wort. Ich übergebe das Mikrofon an die Frau Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales Dr. Heidi Knake-Werner. – Bitte sehr!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kinder, das ist hier schon deutlich geworden, werden vom ganzen Haus als ein Reichtum für unsere Gesellschaft empfunden. Kein Land kann es sich leisten, die Zukunftschancen von Kindern zu verspielen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Deshalb ist es gut, dass Kinderarmut endlich bundesweit ein öffentliches Thema ist, denn lange genug haben z. B. Schwarz-Gelb diese Entwicklung verschlafen und die Lebensrealität von Kindern nicht zur Kenntnis genommen.

[Beifall bei der Linksfraktion – Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

Ja, es sind erschreckende Zahlen, aber es wird erschreckend wenig über die Ursachen geredet. Die Ursache von Kinderarmut ist nicht, dass Kinder arm machen. Das kann

man zurzeit ganz gut bei den neuen Reichen in Pankow besichtigen.

[Mieke Senftleben (FDP): Was soll das denn? Wollen wir die neuen Reichen in Pankow auch noch kritisieren?]

Nein, Kinderarmut ist eine absehbare Folge der zunehmenden Armut in unserer Gesellschaft insgesamt. Wo es viel Armut gibt, Frau Senftenberg, gibt es auch viel arme Kinder.

[Mieke Senftleben (FDP): Senftleben!]

Das ist in einem reichen Land nicht akzeptabel. Das hat heute Bundesarbeitsminister Müntefering in seiner Regierungserklärung festgestellt, und ich kann ihm nur zustimmen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Besonders betroffen sind die Kinder von Alleinerziehenden, von Menschen in prekärer Beschäftigung und von allen auf soziale Transfers Angewiesene. 2,6 Millionen Kinder leben bundesweit in Hartz-IV-Haushalten, in Berlin waren es im April 2007 178 000 Kinder, davon 75 500 mit Alleinerziehenden.

Deshalb ist es gut, dass wir hier im Haus das Thema Kinderarmut aufgreifen. Es ist auch gut, dass die Opposition sich daran abarbeitet. Aber Sie müssten sich schon ernsthaft fragen lassen, was Ihre Parteien, Herr Lehmann, auf der Bundesebene dazu beigetragen haben – mit der Kürzung sozialer Transfers, der Ausweitung prekärer Beschäftigung und mit der vorbehaltlosen Unterstützung der Hartz-IV-Gesetze. Der Anklägerstatus ist hier wirklich unangebracht.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Deshalb: Wer nicht darüber reden will, dass in Deutschland über 2,6 Millionen Menschen trotz Vollzeitarbeit Löhne unter der Armutsschwelle erhalten, sollte auch über Kinderarmut schweigen. Auch wer es normal findet, dass Erwachsene mit einem monatlichen Regelsatz von 347 € leben müssen und für ein Kind sogar nur 60 oder 80 Prozent davon gezahlt wird, sollte das Thema Kinderarmut lieber meiden. Deshalb gibt es letztlich auch keinen besseren Weg zur Bekämpfung der Kinderarmut als die Bekämpfung der Einkommensarmut, egal, ob diese Armut durch Armutslöhne oder Hartz IV verursacht wird. Deshalb gehört die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ebenso hierher wie die Erhöhung der Regelsätze für Hartz IV.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Ich weiß natürlich, Armut bedeutet nicht nur fehlendes Geld in der Haushaltskasse. So wie es ein kindliches Wohlergehen trotz Armut gibt, sind Kinder in Wohlstandsfamilien oft erschreckend arm dran. Aber Realität ist auch, dass Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit und Zukunftsangst in den Familien zum Verlust von Selbstwertgefühl und Handlungsfähigkeit führen. Das hat nicht selten zur Folge, dass die Verantwortung für die Kinder nicht mehr in ausreichendem Maß wahrgenommen wird,

ein enger Zusammenhang zwischen materieller und emotionaler Armut ist oft unübersehbar.

[Mieke Senftleben (FDP): Eben nicht!]

Deshalb verlangt die wirksame Bekämpfung der Kinderarmut ein Maßnahmenpaket, damit aus materieller Armut nicht Chancenarmut wird. Jeder hier weiß, was materielle Armut für die meisten Kinder bedeutet: schlechte Ausbildungschancen, unzureichende Gesundheitsversorgung, weniger kulturelle Angebote, soziale Ausgrenzung und eine fehlende Zukunftsperspektive. Das wollen wir nicht zulassen.

Kinderarmut, das zeigen die Zahlen, ist kein lokales Problem. Gerade Einkommensarmut ist nicht allein auf Landesebene zu beheben. Aber die rot-rote Landesregierung übernimmt die Verantwortung, wo es gilt, die Folgen eines Lebens in Armut wenigstens zu begrenzen. Die Landesregierung greift ein, wo Einkommensarmut zum sozialen und kulturellen Ausschluss führt und den Bildungsprozess benachteiligter Kinder behindert. Wir wollen die Wege öffnen in eine lebenswerte Zukunft für alle Kinder, unabhängig von sozialer und kultureller Herkunft.

[Beifall bei der Linksfraktion – Mirco Dragowski (FDP): Werden Sie mal konkret!]

Was die Bundesfamilienministerin, Frau von der Leyen, Frau Demirbüken-Wegner, angekündigt und teilweise durchgesetzt hat – viel davon gibt es in Berlin schon lange.

[Gregor Hoffmann (CDU): Sie wollen was und wissen nicht, wie es geht!]

Wir haben es geschafft und werden weiter daran arbeiten, den eigenen Entwicklungsweg von Kindern zu ebnen, aber gleichzeitig selbstverständlich die Erziehungsverantwortung der Eltern zu stärken.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir wissen, dass Bildung dazu ein zentraler Schlüssel ist. Und die beginnt bekanntermaßen im frühesten Kindesalter. Laut Familienatlas – das will ich mit allem Nachdruck sagen – gehört die Ausstattung mit Kitas zu den unbestrittenen Stärken Berlins – so steht es da drin. Wenn man das genau gelesen hat, konnte man das wissen.

[Mirco Dragowski (FDP): Nicht nur Masse, auch Klasse!]

Immerhin engagiert sich das arme Berlin hier mit 750 Millionen € jährlich. Das hält jedem Vergleich bundesweit stand.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Der Rechtsanspruch für Drei- bis Sechsjährige ist ebenso gesichert wie ein ausreichendes Tagesangebot für unter Dreijährige. Mit dem Bildungsprogramm in der Kita, mit der Sprachförderung vom ersten Tag an, mit dem Sprachlerntagebuch für alle Kinder in der Kita werden die Kindertagesstätten ihrem Bildungsauftrag gerecht.