Protokoll der Sitzung vom 24.01.2008

[Beifall bei den Grünen – Vereinzelter bei der CDU und der FDP]

Wie aus internen Aktenanalysen der Landeskommission gegen Gewalt hervorgeht, liegen die Probleme bei der Vernetzung der Akteure. Jugendamt, Kita, Polizei, Schule, Jugend- und Familienrichter, Jugendgerichtshilfe und Jugendstaatsanwaltschaft müssen Hand in Hand zusammenarbeiten und sich austauschen.

Entschuldigung, Frau Herrmann! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Felgentreu?

Nein! – Tut mir leid, aber die gestatte ich jetzt nicht.

Die Vernetzung der Akteure ist von großer Bedeutung, und zwar gerade bei diesen Akteuren, bei Polizistinnen und Polizisten, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Lehrerinnen und Lehrern und Erzieherinnen und Erziehern brauchen wir mehr Bedienstete mit Migrationshintergrund, zu denen die Familien mehr Vertrauen haben.

Auch die Probleme der Jugendstrafanstalt selbst sind in diesem Haus ausreichend bekannt und diskutiert worden. Rückfallquoten von 70 bis 80 Prozent machen das nur allzu deutlich. Sorgen Sie, Frau Senatorin, endlich dafür, dass auch die Insassen der JSA die Möglichkeit zur Qualifizierung und Ausbildung in ausreichendem Maß bekommen und nicht nur Flure putzen müssen, damit sie nicht nach wenigen Monaten wieder dort landen, wo sie gerade hergekommen sind!

[Beifall bei den Grünen]

Die beste Maßnahme gegen Jugendgewalt ist, sie erst gar nicht entstehen zu lassen. Wir dürfen diese junge Generation nicht verlieren. Wenn man sich die Biografien der Intensivtäter anguckt, dann wird klar, dass in fast allen Fällen deutliche Auffälligkeiten bereits in der frühen Kindheit festzustellen sind, und hier müssen wir ansetzen.

Es muss für jeden Fall die individuell richtige Lösung gefunden werden, und dafür braucht es ein umfassendes Instrumentarium und Maßnahmen der Jugendhilfe. Dazu ist eine ausreichende Ausstattung der Jugendämter und Jugendarbeitsträger erforderlich.

Die Studien der Landeskommission gegen Gewalt zeigen deutlich, dass bei den heutigen Intensivtätern die Maßnahmen der Jugendhilfe nicht angekommen sind. Die Familien werden von freiwilligen Angeboten kaum erreicht oder verweigern sich. So finden Früherkennung und Intervention kaum statt. Dieser Tatsache muss endlich in der Praxis Rechnung getragen werden, zum Beispiel durch niedrigschwellige Angebote oder eine präventive Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen. Dieser Zusammenhang macht noch einmal deutlich, dass die Prävention das richtige Mittel zur Verhinderung von Kriminalitätskarrieren ist.

[Beifall bei den Grünen]

Staatliche Institutionen müssen gestärkt und Eltern mit eingebunden werden. Wenn Eltern nicht kooperieren, müssen Jugendamt und Familiengerichte ihre Spielräume mehr ausnutzen – wenn notwendig –, auch mehr in die Erziehung eingreifen und Auflagen machen. Die bereits Auffälligen dürfen wir nicht aufgeben. Wer sich nicht an Regeln hält, muss sanktioniert werden. Die Jugendhilfe bietet einen breiten Maßnahmenkatalog. Es ist wichtig, den Jugendlichen das zu geben, was sie bisher nicht kennen gelernt haben: Anerkennung und Wertschätzung. In einem weiteren Schritt müssen die Jugendlichen aus der Perspektivlosigkeit geführt werden. Wir brauchen gerade Sport- und Musikangebote vor Ort. Lassen Sie die Jungen ihre Aggressionen doch im Boxring austragen oder ihren Frust von der Seele rappen!

Wir starten am Montag nächster Woche zum Thema Jugendkultur und Gewalt eine Veranstaltungsreihe im Abgeordnetenhaus. Dabei geht es uns darum, nicht nur über, sondern mit den Jugendlichen gemeinsam zu sprechen. Dem werden weitere Veranstaltungen folgen, wie ein Open Space und ein Hip-Hop-Konzert, denn wir wollen dorthin, wo die Probleme sind.

[Beifall bei den Grünen]

Frau Herrmann! Ihre Redezeit ist bereits beendet.

Das Nachholen von Schulabschlüssen und Ausbildungsplätze sind die Voraussetzungen dafür, dass die Jugendlichen aus der Perspektivlosigkeitsspirale kommen.

Was macht die rot-rote Regierung? – Es dominieren Schlagzeilen in den Zeitungen, dass wieder einmal ein Bolzplatz dichtgemacht wurde, dass erneut ein Schwimmbad geschlossen werden musste oder dass soundso viele Jugendliche in Berlin arbeitslos sind. Sie ha

ben eine unverantwortliche Politik gemacht und 30 Prozent der Mittel gekürzt. Geld ist zwar nicht alles, aber 140 Jugendeinrichtungen zu schließen, das geht nicht spurlos an der Berliner Jugend vorbei. – Danke!

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Frau Herrmann! – Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Dragowski das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mangelnde Zukunftsaussichten und Gewalt im Elternhaus sind oft die Ursachen von Jugendgewalt. Familien benötigen deshalb von Anfang an Hilfe und Unterstützung, vor allem während der Schwangerschaft und nach der Geburt. Schauen wir in die Kitas: Oft bekommen Eltern für ihre Kinder nicht die Bildungszeit in der Kita, die ihnen zusteht, denn – so die oft gehörte Begründung – als Hartz-IVEmpfänger sei man sowieso zu Hause. Das ist skandalös!

[Beifall bei der FDP]

Gerade Kinder aus sozial schwachen Familien benötigen die Bewilligungspraxis durch die Jugendämter und die Bildungszeit, die ihnen zusteht.

In den Kitas muss stärker mit den Eltern zusammengearbeitet werden, und überforderte Eltern benötigen Elternkurse. In Teilen der Einwandererfamilien ist Gewalt als Strafe noch immer eine gängige Erziehungsmethode. Es ist wichtig, in den Familien solche traditionellen Verhaltensmuster zu ändern.

Kommen wir zur Schule: Der schulische Erfolg ist die beste Prävention, denn Jugendliche brauchen Anerkennung. Den Jugendlichen muss ein Erfolgserlebnis im Schulalltag gesichert werden, sodass ihnen dort Erlebnisse der Anerkennung und Aufmerksamkeit auf dem legitimen Weg ermöglicht werden. Doch was geschieht, wenn – trotz schulischer Erfolge – die Perspektive fehlt? – Schüler, die Flüchtlinge oder Kinder von Flüchtlingen sind, haben kein sicheres Aufenthaltsrecht. Mit ihrem Status durften sie bislang keinen Beruf erlernen. Welcher Betrieb gibt einem solchen Schüler einen Ausbildungsplatz, wenn nicht klar ist, ob dieser Schüler in den nächsten Monaten noch in Berlin ist oder Deutschland verlassen muss? Auch diesen Schülern müssen wir eine klare Perspektive verschaffen.

[Beifall bei der FDP – Beifall von Benedikt Lux (Grüne)] ]

Neben der Sozialarbeit an Schulen sind auch Schulpsychologen ein wichtiges Element der Prävention. Für die über 300 000 Berliner Schülerinnen und Schüler gibt es 88 Schulpsychologen. Davon sind ca. 16 Stellen für den Bereich Gewaltprävention qualifiziert worden. Die gemeldeten Gewaltvorfälle an Schulen sind von 255 in Jahr 2001 auf 1 573 im Jahr 2005 gestiegen. Die Dunkelziffer

liegt sicherlich um ein Vielfaches höher. Seit 1996 haben wir einen Personalabbau von 40 Prozent bei den Stellen der Schulpsychologen. Mehr Gewaltvorfälle, weniger Psychologen – das verstehen wohl nur Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von Rot-Rot.

[Beifall bei der FDP]

Auch muss die Zusammenarbeit von Schulen und Streetworkern verbessert werden. Nur wenige Schulen kooperieren bislang mit den Streetworkern. Diese Zusammenarbeit ist jedoch dringend notwendig, da sich die Streetworker oftmals besser mit den Problemen der Jugendlichen auskennen als Lehrer. Auf Informationsveranstaltungen könnten Streetworker den Schülern sich und ihre Angebote vorstellen.

Die Schule ist aus: Wohin sollen die Jugendlichen gehen? Nachdem in den letzten Jahren immer mehr Jugendeinrichtungen geschlossen wurden, fehlen den Kindern und Jugendlichen Freizeit- und Bewegungsmöglichkeiten. Wir müssen deshalb die vorhandenen Ressourcen stärker nutzen. Durch die Öffnung der Schulhöfe und Sportplätze unter Aufsicht – auch außerhalb der Schulzeit, am Wochenende und in den Ferien – bekommen Kinder und Jugendliche kieznahe Spielmöglichkeiten und somit auch vernünftige Alternativen für ihre Freizeitgestaltung.

[Beifall bei der FDP]

Mehr Personal in den Kitas, mehr Streetworker, mehr Schulpsychologen, mehr Jugend- und Jugendsozialarbeit und mehr aufsuchende Familienhilfe kosten Geld. Nur mit Worten und guten Absichten allein – das haben Sie auch zugestanden, Frau Kollegin Barth –, werte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Linksfraktion, werden wir in Berlin keine Verbesserung erzielen. Jeder Euro – das hat der Kollege Henkel heute auch schon gesagt –, den wir in die Prävention investieren, spart uns das Doppelte und Dreifache an späteren Kosten. Ein Erfolg der Jugendlichen ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft und für die Wirtschaft. Investieren wir deshalb heute in unsere Kinder und Jugendlichen und somit in die Leistungsträger von morgen! – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP – Beifall von Benedikt Lux (Grüne) und Volker Ratzmann (Grüne)]

Vielen Dank, Herr Dragowski! – Das Wort hat nun Herr Senator Dr. Zöllner.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Starke Sprüche helfen beim Thema Jugendkriminalität nicht weiter. Wir müssen vielmehr nüchtern und sachlich die Situation analysieren, feststellen, was schon getan worden ist, und entscheiden, was noch getan werden muss, um die Ge

waltausübung von Kindern und Jugendlichen zu unterbinden.

[Zuruf der CDU: Dann fangen Sie doch mal an!]

Zunächst einmal gilt den Opfern von Gewalttaten mein Mitgefühl. Betroffene fühlen oft ihr Schicksal relativiert, wenn versucht wird – über den Einzelfall hinaus –, eine objektive Sicht der Dinge zu entwickeln. Das macht es nicht einfacher, diese objektive Sicht zu erhalten, aber es ist unsere Pflicht, wenn wir angemessen reagieren wollen.

Wie ist die Lage? – 1997 hatten wir nach der polizeilichen Kriminalstatistik in Berlin 47 438 Tatverdächtige unter 21 Jahren. Seitdem ist die Jugendkriminalität – bis 2005 – kontinuierlich zurückgegangen. 2006 hatten wir zum ersten Mal wieder einen kleinen Anstieg um 1,1 Prozent auf jetzt 33 125 Tatverdächtige.

Das heißt, wir haben immer noch rund 30 Prozent weniger tatverdächtige Kinder und Jugendliche als vor 10 Jahren. Der Rückgang der Jugendkriminalität ist somit nicht nur demografisch bedingt – weil es weniger Kinder und Jugendlich gibt –, die Jugendkriminalität hat tatsächlich deutlich abgenommen. Dennoch ist die öffentliche Wahrnehmung eine andere.

Das hat damit zu tun, dass die Entwicklung der Gewaltdelikte nicht die gleiche positive Entwicklung durchgemacht hat: Während die Zahl der Raubtaten rückläufig ist, ist die Statistik der Körperverletzungen erschreckend angestiegen. Darauf ist der Blick der Öffentlichkeit in hohem Maße gerichtet, besonders wenn es zu schweren Gewalttaten und entsprechenden Berichterstattungen kommt, wie wir es erlebt haben. Aus der Zunahme der Körperverletzungen wird dann leicht die Wahrnehmung der Zunahme der Jugendkriminalität insgesamt. Aus der Gewaltanwendung von wenigen wird die Jugendgewalt schlechthin.

Warum ist es aber in den letzten zehn Jahren nicht gelungen, die Gewaltdelikte von Jugendlichen zu reduzieren? Warum ist die Jugendkriminalität insgesamt rückläufig, nur in diesem besonders wichtigen, bedeutungsvollen und unangenehmen Bereichen nicht? – Wir sollten uns in diesem Zusammenhang nicht mit einem verbesserten Anzeigeverhalten trösten. Das erklärt vielleicht den leichten Anstieg von 2005 auf 2006, aber nicht die über Jahre fast konstante Deliktzahl. In der Gewaltkriminalität von Erwachsenen ist die Entwicklung im Übrigen nicht anders. Die Delikte der häuslichen Gewalt, die in der Regel nicht von Kindern ausgeübt wird, sind von 2005 auf 2006 um 7,4 Prozent auf insgesamt 12 522 Fälle gestiegen. Wir haben offensichtlich kein isoliertes Problem der Jugendgewalt, sondern wir haben ein Problem der Gewalt in der Gesellschaft schlechthin, von der die Jugendgewalt ein Teil ist.

Seien wir also fair im Umgang mit unserer Jugend! Fairness hat jedoch zwei Seiten, und diese beiden Seiten bedingen einander. Erstens: Fair sein heißt zweifellos, ohne jedes Wenn und Aber klare Grenzen zu setzen, nicht zu tolerieren, was nicht zu tolerieren ist. Zweitens heißt fair

sein aber auch, Kindern und Jugendlichen Chancen und Bedingungen zu bieten, die ihnen ein gewaltfreies Aufwachsen ermöglichen. Beides ist von zentraler Bedeutung, aber man muss auch sehen: Nur durch die Prävention werden wir die Vorkommnisse relevant reduzieren. Jeder Fall ist ein Fall zu viel.

[Beifall bei der SPD]

Dafür tun wir in Berlin viel, in vielen Bereichen mehr als in anderen Bundesländern. Dieser Senat sagt aber auch, dass wir noch mehr tun müssen, uns noch mehr anstrengen müssen und nicht mit dem Erreichten schon zufrieden sein sollten.

Mit unserer Politik im vorschulischen Bereich, im Kindergarten, sorgen wir für einen hohen Betreuungsgrad auch über den bundesweiten Rechtsanspruch hinaus und auch für unter Dreijährige. Mit der Kostenfreiheit im letzten Kindergartenjahr, die 2010 und 2011 auf die nächsten zwei Jahre ausgedehnt wird, sorgen wir dafür, dass alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen Lage eine Kita besuchen können.

Der Ausbau der Ganztagsschulen ist ein weiterer Schritt, Kindern und Jugendlichen Bildungs- und Erziehungsbedingungen zu bieten, die ein gewaltfreies Aufwachsen ermöglichen. In Berlin sind inzwischen bereits alle Grund- und Gesamtschulen flächendeckend im Ganztagsbetrieb. Dieses verursacht riesige Kosten, die Mittel hierfür – egal, woher sie innerhalb der Stadt kommen – kommen den jungen Menschen jedoch zugute. Das sind wichtige, zentrale Rahmenbedingungen der Bildungs- und Familienpolitik, um Gewaltfreiheit und gerechte Chancen zu fördern. Ich sehe hier die Gesellschaft und den Staat mit seinen Bildungs- und Erziehungsinstanzen in einer zentralen Verantwortung. Wo offensichtlich – das muss man auch aussprechen – viel Familien zunehmend überfordert sind, muss gesamtgesellschaftlich gehandelt werden.

Wir setzen auf eine schnelle Ahndung von Gewalttaten, aber wir setzen auch auf eine frühzeitige Prävention, damit es möglichst wenig Gewalttaten insgesamt gibt. Denn nachträgliche Fehlerkorrektur ist immer schwieriger. Das beginnt im Kindergarten und setzt sich in der Berliner Schule mit einem Bündel von Präventionsmaßnahmen und erfolgreichen Programmen fort. Ich kann hier nur wenige aufzählen. Gemeinsam tun Land und Bezirke viel, um der Ursache der Jugendkriminalität vorzubeugen. Ich möchte an dieser Stelle den Bezirk Neukölln besonders positiv hervorheben, der einen klaren Schwerpunkt auf Prävention setzt und sieben neue Schulstationen eröffnen will. Das sind wichtige Zeichen, dass eine soziale Politik gerechter Chancen den richtigen Weg in dieser Stadt weist.

[Beifall bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger (CDU): Steglitz-Zehlendorf hat nur 14!]