Protokoll der Sitzung vom 12.06.2008

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir sitzen alle in dem Boot, und es ist notwendig, dass wir uns alle mit diesem Thema umfassend auseinandersetzen, nicht nur wir als Abgeordnete, Parlamentarier, sondern auch der Senat in seiner Verantwortung in Gänze.

Damit komme ich zum letzten Schwerpunkt, dem Kinderschutz. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber die Kinderschutzmeldungen vom letzten Wochenende gehen mir nicht aus dem Kopf. Für mich ergibt sich die Frage: Versagt das Netzwerk Kinderschutz? – Nein! Es funktioniert. Das Netzwerk arbeitet noch nicht perfekt, aber es ist auf gutem Wege. Es ist mir und meiner Fraktion deshalb unverständlich, warum die 24 zusätzlichen Stellen für die Koordinierung der Kinderschutzaufgaben in den Jugendämtern immer noch nicht in allen Bezirken angekommen sind, obwohl wir das in diesem Haus im Dezember beschlossen haben. Der Hilferuf aller zwölf Jugendstadträ

tinnen und Jugendstadträte war eindeutig. Hier erwarten wir unverzügliches Handeln.

[Mieke Senftleben (FDP): Bravo!]

Kann Berlin als kinder- und familienfreundliche Stadt bezeichnet werden? – Ich meine ja. Wir sind in dem Sinne, dass wir über alle Bereiche versuchen, allen Kindern und ihren Familien beste Bedingungen zu schaffen, ein Stückchen weitergekommen. Es gibt sicherlich noch eine ganze Menge zu tun, aber ich denke, wir sind auf dem besten Weg.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank! – Für die Fraktion der Grünen hat Frau Abgeordnete Jantzen das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute an so herausragender Stelle darüber debattieren, wie Berlin kinder- und familienfreundlicher werden kann.

[Beifall bei den Grünen]

Anders als die Koalition sehen wir hier nämlich noch erheblichen Handlungsbedarf. Insbesondere im Hinblick auf die Alterung der Bevölkerung werden Kinder und Jugendliche in Zukunft immer mehr an den Rand gedrängt werden, weil sie mit ihren Eltern und Familien eine Minderheit sind. Deswegen halten wir es für notwendig, dass die Bedürfnisse und Interessen der Kinder und Jugendlichen verstärkt in den Mittelpunkt gerückt und die Lebensbedingungen für alle Kinder und ihre Eltern in dieser Stadt entscheidend verbessert werden.

[Beifall bei den Grünen]

Wenn ich mir hier die Reihen ansehe, habe ich allerdings das Gefühl, dass die Mehrheit im Haus noch nicht begriffen hat, dass die Kinder wirklich unsere Zukunft sind und dass das ein sehr ernstes Thema ist, über das wir heute reden.

[Mieke Senftleben (FDP): Wir sind vollständig!]

Der aktuelle Anlass, nämlich die Lücken im Kinderschutz und dieser unsägliche Koalitionsstreit um das Personal, die Besetzung der Stellen und wie viele Stellen es überhaupt geben müsste, ist überhaupt kein Grund zur Freude, sondern ein Trauerspiel.

[Beifall bei den Grünen und der FDP]

Es vergeht kaum ein Tag, an dem es keine Meldung zu vernachlässigten oder misshandelten Kindern gibt. Allein am vergangenen Wochenende wurde die Polizei viermal wegen vernachlässigter Kinder gerufen, und ich frage mich, warum die Polizei dorthin gehen muss und nicht die Jugendämter vor Ort sind.

[Beifall bei den Grünen]

Das hat möglicherweise etwas mit der schlechten Ausstattung in den Berliner Jugendämtern zu tun. Da hat offensichtlich auch der Notruf nicht geholfen – wie auch immer.

Auch wir haben es im letzen Jahr sehr begrüßt, dass das Konzept „Netzwerk Kinderschutz“ vorgelegt wurde. In der Tat sind die dort vorgeschlagenen Maßnahmen richtig und wichtig. Die Umsetzung ist aber auch ein Trauerspiel. Es hat ein Jahr gedauert, bis die gemeinsamen Ausführungsvorschriften zum Kinderschutz der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung und der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz veröffentlicht wurden und in Kraft getreten sind. Mit dem „Ja-Bitte-Bogen“, mit dem junge Eltern Hilfe und Unterstützungsbedarf anmelden können, hat es auch ein Jahr gedauert. Er ist erst im April an die Bezirke gegangen, und auf die 24 bereits im Oktober vom Hauptausschuss bewilligten Stellen in den Jugendämtern für die Koordination des Kinderschutzes warten einige Bezirke heute noch. Auch die sind noch nicht alle besetzt.

Während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jugendämtern und auch in den Kinder- und Jugendgesundheitsämtern eine Überlastungsanzeige nach der anderen schreiben, weil sie sich nicht mehr in der Lage sehen, ihre Aufgaben im Kinderschutz verantwortlich wahrzunehmen, streiten die rot-rote Koalition und dieser rot-rote Senat darüber, wie die Stellenausstattung sein soll und wie die Stellen besetzt werden können. Das kann doch wohl nicht wahr sein!

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Es ist für niemanden nachvollziehbar, was mit diesen 24 Stellen im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst ist, wo sie abgeblieben sind, wo die Personen sind und welche Berechnungen zugrunde gelegt wurden. Offenbar konnte die Verwaltung von Frau Lompscher nicht richtig rechnen, oder sie konnte die aus ihrer Sicht notwendige Ausstattung für die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste gegenüber der Senatsverwaltung für Finanzen nicht rechtzeitig durchsetzen. Das kann uns aber egal sein. Unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen und Druck zu machen, dass die Personen im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst vorhanden sind, die gebraucht werden, um die Kinder und ihre Familien zu betreuen.

[Beifall bei den Grünen und der CDU]

Dass der Senat am Dienstag diese notwendige Entscheidung vertagt hat, halten wir für unverantwortlich, und deswegen haben wir zu dem Mittel des dringlichen Antrags gegriffen, denn wir hatten sehr gehofft, dass das jetzt endlich entschieden wird und die Menschen dort ankommen, wo sie gebraucht werden, denn Kinderschutz braucht Kinderschützerinnen!

[Beifall bei den Grünen]

Die Bezirke brauchen sofort Menschen aus Fleisch und Blut – nicht nur irgendwo zahlenmäßig aufgeschrieben – und mit Erfahrungen im Kinderschutz, die die Arbeit leisten können.

[Beifall bei den Grünen]

Die Betreuung von Kindern und ihren Angehörigen in Problemsituationen duldet keinen Aufschub. Beenden Sie deshalb Ihre Zahlenakrobatik, und sorgen Sie dafür, dass die zugesagten Sozialarbeiterinnen schleunigst in den bezirklichen Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten, wo sie gebraucht werden, ankommen!

[Beifall bei den Grünen und der FDP]

Über die aktuellen Einstellungen hinaus brauchen wir dringend Mindestvorgaben für die Personalausstattung der Jugendämter und der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste. Es klang schon an: Es wurde eine Musterausstattung für die sozialräumlich orientierten Jugendämter in Auftrag gegeben. Ich finde das auch unsäglich, weil das Abgeordnetenhaus den Senat bereits vor drei Jahren beauftragt hatte, eine solche Musterausstattung vorzulegen. Dass jetzt ein externes Institut für viel Geld beauftragt werden muss und wir mindestens bis Ende dieses Jahres, wenn nicht gar bis Ende 2009 warten müssen, bis es uns vorliegt, finde ich unsäglich.

[Beifall bei den Grünen]

Die im März vorgelegte Zielstruktur für den öffentlichen Gesundheitsdienst – man merke auch hier: Wir mussten nach Inkrafttreten des Gesundheitsdienstreformgesetzes zwei Jahre darauf warten – berücksichtigt die Anforderungen und Aufgaben im Kinderschutz wie die Erstbesuche bei den Neugeborenen, die neuen Kitareihenuntersuchungen, das geplante verbindliche Einladungswesen und die Nachsorge bei den Früherkennungsuntersuchungen nicht ausreichend. Auch hier muss dringend nachgebessert werden.

Zahlentricksereien und Aussitzen scheinen die Devise von Rot-Rot in vielen Bereichen zu sein. So ist bis heute zum Beispiel nicht geklärt, wie die therapeutische Versorgung der schwerst mehrfach behinderten Kinder und Jugendlichen in den Schulen in Zukunft gewährleistet oder wie der Einsatz der Schulhelfer geregelt werden soll. Das beunruhigt die Eltern vor Ort, das beunruhigt die Eltern von behinderten und schwerst mehrfach behinderten Kindern. Gerade diese Kinder und ihre Eltern brauchen unsere besondere Unterstützung und Fürsorge und die Sicherheit einer guten Förderung und Betreuung, und deswegen finde ich das in hohem Maße unverantwortlich.

[Beifall bei den Grünen]

Durch die neuen Vorgaben zur Organisation des nächsten Schuljahres gefährdet der Senat die gemeinsame Erziehung ebenso wie die Sprachförderung in den Bezirken. Der Bezirkselternausschuss Friedrichshain-Kreuzberg hat den Bildungsnotstand im Bezirk ausgerufen. – Das kam vorhin in der Fragestunde schon vor. – Herr Zöllner, die Eltern fühlen sich von Ihnen betrogen, und das zu Recht. Rot-Rot verspricht jedes Jahr zum Schuljahresanfang Verbesserungen der Situation. Real wird aber jedes Jahr alles schlechter. So verspielen Sie das Engagement von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern

und vor allen Dingen auch von Eltern. Familienfreundlich ist das wahrlich nicht.

[Beifall bei den Grünen]

In den Studien, die ich lese, kommt Berlin in puncto Kinderfreundlichkeit im Vergleich mit den anderen Bundesländern auch nicht immer gut weg. Wir belegen nie vorderere Ränge, und als Hauptstadt sollten wir das eigentlich tun.

Es gibt in dieser Stadt offenbar mindestens zwei Wirklichkeiten von Familien, und das ist sehr abhängig von ihrer finanziellen und sozialen Situation. Während die einen Eltern nämlich jedes Wochenende in die Kindercity gehen und dort die Wissenswege beschreiten oder auch in den Fabrikateliers kochen und werkeln können – das ist eine gewerbliche Einrichtung, der Eintritt kostet für einen Erwachsenen und ein Kind rund 16 € –, können sich andere Eltern in dieser Stadt noch nicht einmal den Mitgliedsbeitrag für einen Sportverein oder den Eintritt für einen gemeinsamen Schwimmbadbesuch leisten.

Diese Realität muss die rot-rote Koalition besser als bisher anerkennen. Sie können sich nicht immer nur die Rosinen herauspicken und das andere unter dem Teppich verschwinden lassen. Der Länderreport „Frühkindliche Bildungssysteme“, auf den Sie Bezug nehmen, zeigt sehr deutlich, dass auch in Berlin bei der Qualität erheblicher Handlungsbedarf besteht. Bei Kindern unter drei Jahren ist der Berliner Personalschlüssel mit 1:7 weit von der Empfehlung von 1:3 entfernt. Es wird bescheinigt, dass der Umfang der Arbeitszeit für Tätigkeiten ohne Kinder wie Teamsitzungen, Vor- und Nachbereitungen, Elterngespräche und Fortbildung in der Personalbemessung nicht ausreichend berücksichtigt ist. Herr Zöllner! Wer sich wie Sie damit brüstet, ein gutes Versorgungsangebot zu haben, muss auch dafür sorgen, dass die berechtigten qualitativen Vorgaben des Bildungsprogramms und der Sprachförderung in den Einrichtungen erfüllt werden können.

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Wir begrüßen in dem Zusammenhang im Übrigen den Beschluss des SPD-Präsidiums vom vergangenen Wochenende – die sind weiter als die rot-rote Berliner Landesregierung. In den SPD-regierten Ländern soll der Personalschlüssel im Krippenbereich in Zukunft auf 1:4, im Kindergarten auf 1:8 verbessert werden. Gehen Sie in Berlin mit gutem Beispiel voran, und nehmen Sie endlich die notwendigen Verbesserungen in Angriff!

[Beifall bei den Grünen]

Kinder- und Familienfreundlichkeit ist nicht allein Aufgabe der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, sondern – darauf wurde bereits hingewiesen – dies ist eine querschnitts- und ressortübergreifende Aufgabe. Das, Herr Zöllner, kann aber nicht heißen, dass Sie die Jugend- und Familienpolitik der Stadtentwicklungsverwaltung – Stichworte: soziale Stadt und Demografiekonzept – oder dem Innensenator oder Integrationsbeauftragten – Stichworte: Gewaltprävention, Elternarbeit, Modellprojekte –

überlassen, oder gar der Polizei, die wieder einmal die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze fordert. Sie sind gefragt, für die Kinder und Familien dieser Stadt in die Bütt zu steigen und klar Stellung zu beziehen für mehr Prävention, mehr Beratung und Unterstützung für Familien und nicht nur für die reinen Kinderschutzaufgaben. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP]

Vielen Dank! – Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dragowski.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Für ein kinder- und familienfreundliches Berlin – Infrastruktur und Kinderschutz verbessern!“ – eine bessere Infrastruktur und einen besseren Kinderschutz fordern wir Liberale ebenso wie ein kinder- und familienfreundliches Berlin. Klar ist nur, dass Infrastrukturverbesserungen und besserer Kinderschutz nicht zum Nulltarif zu haben sind.

[Beifall bei der FDP]

Nehmen wir den Kinderschutz: Über die Problematik der Stellenbesetzung wurde heute bereits gesprochen, ebenso über den einmaligen Vorgang, dass sowohl alle Jugendamtsdirektoren als auch alle Jugendstadträte gemeinsam Position bezogen haben und ein Handeln des Senats fordern. Wen ich jedoch in dieser Diskussion überhaupt nicht wahrnehme, sind Sie, Herr Jugendsenator Zöllner.