Protokoll der Sitzung vom 11.09.2008

Das ist die Priorität der Fraktion der FDP unter dem Tagesordnungspunkt 21. – Möchte Frau Senatorin KnakeWerner eingangs Stellung nehmen? – Das ist der Fall. – Dann haben Sie das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anfrage der FDP ist schriftlich beantwortet, soweit uns die Angaben zur Verfügung standen. Beim Lesen der Anfrage gestehe ich sofort, kam ich heftig ins Grübeln über das Motiv der FDP zu dieser Anfrage. Ich habe sie zugunsten der FDP, insbesondere von Ihnen, Herr Lehmann, ausgelegt und gehe davon aus, dass die FDP all diese Fragen offenbar aus tiefer Sorge um die wachsende soziale Spaltung dieser Gesellschaft gestellt hat.

[Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Schwierig!]

Ich sage Ihnen ganz offen: Ich teile Ihre Sorge.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Immer mehr Menschen sind trotz staatlicher Transferleistungen von Armut und Ausgrenzung bedroht. Sogar Millionen Erwerbstätige müssen staatliche Hilfen in Anspruch nehmen, weil sie von dem, was sie an Arbeitseinkommen erwerben, weder ihre noch die Existenz ihrer Familien sichern können.

Auf der anderen Seite steigt der Reichtum in unserem Land und die Zahl derjenigen, deren Vermögen wächst, deren Chancen größer werden. Das kann nicht sozial gerecht sein. Ich glaube, das bezweifeln auch immer mehr Menschen in unserem Land.

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Ülker Radziwill (SPD)]

Wir alle wissen zudem, dass die Mittelschicht abschmilzt, weil immer mehr Erwerbstätige in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abgedrängt werden. Wir konnten gerade gestern aktuelle Zahlen lesen. Die Zahl der Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist von 17,5 auf 25,5 Prozent innerhalb von zehn Jahren gestiegen

Unter diesen Bedingungen und im Rahmen der bundespolitischen Vorgaben ist es deshalb Aufgabe sozialer Politik, auch denjenigen ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen, die aus welchen Gründen auch immer auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Das sind z. B. Langzeitarbeitslose, Rentner, die von Grundsicherungsrente leben müssen, oder Flüchtlinge und Asylsuchende, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen.

Zu dieser gesellschaftlichen Teilhabe gehört z. B. das Grundrecht auf Information auch für Bedürftige. Deshalb begrüße ich es sehr, dass es einen bundesweiten Konsens darüber gibt, dass diesen Menschen die GEZ-Gebühren erlassen werden.

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Ülker Radziwill (SPD)]

Diese Menschen bekommen also keine Vergünstigungen, sondern einen Nachteilsausgleich, weil ihnen ansonsten aufgrund ihrer prekären wirtschaftlichen Lage viele Zugängen zum sozialen und kulturellen Leben unserer Gesellschaft verschlossen blieben.

Deshalb bin ich froh, dass wir hier in Berlin schon eine große Anzahl solcher Angebote haben z. B. das Sozialticket, das Drei-Euro-Ticket für Theater und Oper, das Starterpaket für Schulanfänger, das Mittagessen für 23 Euro im Monat in den Ganztagsschulen, den freien Zugang zu Bibliotheken, reduzierte Eintrittspreise in den Bädern und anderen staatlichen Einrichtungen. Bis zum Ende des Jahres werden wir den Berlinpass einführen, der alle diese Angebote bündelt und um Angebote von privaten Anbietern erweitert. Wir haben bereits einige konkrete Verabredungen mit Sportvereinen getroffen, mit dem Landessportbund, aber wir verhandeln noch weiter. „Öffne dir diese Stadt“ ist das Motto unseres Berlinpasses, mit dem Menschen ohne entwürdigende Einkommensprüfung, ohne Stigmatisierung endlich Zugänge geschaffen werden, die ihnen ansonsten verschlossen sind.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir wollen mit dem Berlinpass die solidarische Stadtgesellschaft erfahrbar machen. Das heißt, ein Berlin, wo diejenigen, die es können, Türen öffnen für diejenigen, die sich wenig oder gar nichts außerhalb der Reihe leisten können.

Im Moment steht der Berlinpass nur den Bezieherinnen und Beziehern von Transferleistungen offen. Das sind immerhin 700 000 Menschen in unserer Stadt. Ich bedauere das. Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir eine andere Einkommensgrenze hätten zugrundelegen können z. B. die Pfändungsfreigrenze. Aber das eben kann sich Berlin zurzeit nicht erlauben. Es ist nicht finanzierbar, jedenfalls nicht da, wo wir als Land finanzieren müssen wie beim Sozialticket. Aber ich glaube, diese Frage ist noch nicht abschließend geklärt. Wir werden sie sicherlich immer wieder neu stellen.

Daraus den Schluss abzuleiten, verehrte Kollegen von der FDP, hier entstünde eine weitere Gerechtigkeitslücke, halte ich für absolut absurd.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Man kann doch nicht die Armen dafür bestrafen, dass es noch mehr Menschen in unserer Stadt gibt, die solche Angebote auch gut gebrauchen könnten. Das Problem ist doch nicht, dass Hartz-IV-Empfänger u. a. zu hohe Sozialleistungen erhalten, sondern dass viel zu viele Menschen viel zu wenig verdienen und trotz Arbeit arm sind.

Es ist der gesellschaftspolitische Skandal unserer Zeit, dass sich auf Kosten von guter Arbeit und existenzsichernden Löhnen der Niedriglohnsektor immer weiter ausdehnt. Gestern konnten wir dazu Zahlen lesen: 7,7 Millionen Menschen leben zurzeit von Minijobs, in 400Euro-Jobs, Teilzeit- oder Leiharbeit. Viele von ihnen sind auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen. Das gilt auch für Berlin. Allein 110 000 Erwerbstätige in Berlin haben Anspruch auf soziale Leistungen, weil ihr Einkommen so gering ist, dass sie davon nicht leben können.

Deshalb steht die Bekämpfung prekärer Beschäftigung, die Eindämmung von Minijobs, Leiharbeit und unbezahlter Praktika, aber vor allem die längst überfällige Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nach wie vor ganz oben auf der politischen Agenda des Berliner Senats. Und das ist einfach auch gut so!

[Beifall bei der Linksfraktion]

Ich bin ein bisschen betrübt darüber, Herr Lehmann, dass mit Ihrer Großen Anfrage eine Neiddebatte vom Zaun gebrochen ist, die uns überhaupt nicht weiterhilft.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Sie sät nichts anderes als Missgunst und Unfrieden. Die gesellschaftliche Umverteilung findet doch derzeit von Unten nach Oben statt und nicht zwischen Unten und Unten. Das muss uns doch klar sein. Kein Geringverdiener finanziert dem Hartz-IV-Empfänger das Opernticket, wie es die FDP vermutet. Die Drei-Euro-Tickets gibt es immer dann, wenn sich kein Gutverdienender findet, der den vollen Preis bezahlen kann. Das ist das Prinzip. Davon profitieren die Theater, weil sie Mehreinnahmen bekommen, und davon profitieren diejenigen, die sich sonst Kultur nicht leisten könnten. Das ist eine Win-win-Situation, so nennt man das, ein Prinzip, das einer neoliberalen Partei wie der FDP eigentlich sehr zugänglich sein müsste. – Vielen Dank!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

In der Aussprache hat das Wort der Kollege Lehmann, fünf Minuten wie auch die anderen Kollegen.

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Sehr geehrte Frau Senatorin! Ich bin schon der Auffassung, dass man die Probleme durchaus benennen muss, ohne eine Neiddiskussion vom Zaun zu brechen. Deshalb habe ich diese Große Anfrage gestellt. Sie wissen, dass meine Fraktion die Einführung des Sozialpasses kritisch begleitet. Wenn zudem etwa 20 Prozent der Berlinerinnen und Berliner darauf Anspruch haben werden, hingegen das durchschnittliche Nettoeinkommen vergleichsweise gering ist, sollte das nicht nur bei meiner Fraktion, sondern auch beim Senat Nachfragen auslösen. Vor allem müssen Sie sich aber der Frage stellen, ob der von Ihnen geforderte Mindestlohn wirklich für die Menschen eine finanzielle

Verbesserung darstellt. Die Vergünstigungen, die mit dem Sozialpass verbunden sind, verhelfen Einkommensschwachen zu mehr Teilhabe am öffentlichen Leben, und das ist erst mal richtig so. Welche Kosten hierfür auf diejenigen zukommen, die die Vergünstigungen nicht in Anspruch nehmen können, sollte dabei aber auch transparent sein.

[Beifall bei der FDP]

Letztlich müssen all diese Vergünstigungen in irgendeiner Form ausgeglichen werden. Und egal, ob das über Steuern oder die anderen Gebührenzahler vorgenommen wird, auch Geringverdiener oder Erwerbstätige mit großen Familien müssen hierfür mitzahlen.

[Beifall bei der FDP]

Somit sorgt ein Sozialpass mehr für soziale Ungerechtigkeit als für einen reinen Ausgleich von Benachteiligungen am gesellschaftlichen Leben. Denn die Vergünstigungen für Transferleistungsbezieherinnen wie das Sozialticket, das Drei-Euro-Ticket für die Oper, die Befreiung von der Zahlung der GEZ-Gebühren oder der Sozialtarif bei der Telekom stehen vielen Gering- oder Alleinverdienern, gerade mit Kindern, nicht zu. Viele von ihnen liegen mit ihrem Netto kaum über der Arbeitslosengeld-II-Schwelle oder den Einkommensgrenzen für das Wohngeld oder den Kinderzuschlag. All die Vergünstigungen für Transferleistungsbezieherinnen eingerechnet, bleibt für viele, die arbeiten, unterm Strich sogar weniger für die Teilhabe am öffentlichen Leben übrig. Deshalb war der Sinn unserer Großen Anfrage, all die Vergünstigungen, die es bereits gibt, und deren Gegenfinanzierung einmal gegenüberzustellen, um transparent werden zu lassen, wie notwendig weitere Vergünstigungen sind, welche Personengruppen davon profitieren und vor allem, welche letztlich draufzahlen.

[Beifall bei der FDP]

Fast schon unverschämt gegenüber ganz normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern finde ich deshalb Ihre Aussage, dass bundes- und landesweite Vergünstigungen für alle gesellschaftlichen Schichten und in allen Lebensbereichen zur Verfügung stehen. Fragen Sie doch mal die Beschäftigten im Dienstleistungssektor oder im Gesundheitswesen, wo ihr Einkommen neben Grundsteuererhöhung, steigenden Wasserpreisen und immer teurer werdenden Monatskarten bei den für sie unverzichtbaren Dingen wie ÖPNV oder Telefonkosten einmal spürbar entlastet wird!

In meinen Augen widerlegt der aktuelle Basisbericht zu Daten des Gesundheits- und Sozialwesens auch eindeutig Ihre Aussage, dass die Festlegung bestimmter Einkommensgrenzen zu Härtefällen bei geringfügigen Überschreitungen dieser Grenzen führt.

[Senatorin Dr. Heidi Knake-Werner: Das ist leider so!]

Der Bericht offenbart, dass das Nettoeinkommen 2005 bei der Hälfte der Berlinerinnen und Berliner bei maximal 900 Euro lag. Hierunter sind viele Menschen, die unabhängig von Transferleistungen jeden Tag zur Arbeit gehen, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und ein

Einkommen erzielen, das dem von Ihnen geforderten Mindestlohn entspricht. Das sind nicht ein paar Härtefälle, sondern viele Menschen, die deutlich benachteiligt sind. Denn bei genauerer Betrachtung sehen Sie, dass Ihr Mindestlohn einem Nettoeinkommen von etwa 960 Euro entspricht. Demgegenüber kann ein Arbeitslosengeld-IIEmpfänger zwischen 811 bis zu 970 Euro monatlich erhalten. Diesen Zahlen wollten wir die bereits bestehenden Vergünstigungen gegenüberstellen. Hierbei handelt es sich also keineswegs um willkürliche Beispiele individuellen Konsumverhaltens.

Das Ergebnis kann ich Ihnen aber auch ohne Ihre Antwort mitteilen. Durch die bestehenden Vergünstigungen bei GEZ-Gebühren, Telefonkosten, Hallenbad oder Volkshochschule muss der Geringverdiener teilweise mehr als das Doppelte aufbringen, um dieselben Leistungen in Anspruch zu nehmen wie der Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Letztlich wird sein Mehrverdienst durch die Ausgaben für Arbeit und Teilhabe aufgezehrt. Diese Bürgerinnen und Bürger haben aber ein Recht auf Entlastung ihrer Einkommen. Anstatt hier für eine ungerechtfertigte Benachteiligung zu sorgen, setzen wir uns dafür ein, dass diese Menschen spürbar etwas von ihrer Arbeit haben und bekommen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank auch! – Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Radziwill.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lehmann! Sie fragen nach der sozialen Komponente von Mindestlohn. Ich kann Ihnen antworten: Mindestlohn und Förderprogramme für Transferbezieher sind aus unserer Sicht sozial und notwendig. Sie machen mit Ihrer Fragestellung eine sehr extreme und gefährliche Neiddebatte auf. Ich rate Ihnen, diese nicht weiter fortzuführen. Sie wollen die Einkommensunterschiede zwischen Geringverdienern und Arbeitslosengeldbeziehern aufführen und die Vergünstigungen vergleichen. Sozialpolitisch halte ich Ihren Vergleich in dieser Form für absolut gefährlich und unverantwortlich. Allein die Fragestellung, wie Sie sie hier formulieren – werden die Vergünstigungen auf das Arbeitslosengeld II angerechnet? –, finde ich unverschämt und sozialpolitisch unverantwortlich.

[Beifall bei der SPD]

Die Transferleistungen sind keine Luxusausstattung, das müsste auch ihnen klar sein. Oder können Sie ohne Abstriche in Ihrem Alltag von 351 Euro leben?

Liebe FDP! Wenn wir die Einkommensunterschiede verändern wollen, heißt das für mich nicht, das Arbeitslosengeld zusammenzustreichen, wie Sie es aus meiner Sicht fordern, sondern der einzige Weg ist, die Einkommen der Geringverdiener zu erhöhen. Daher muss Arbeit auch

existenzsichernd sein. Daher ist unsere Forderung nach Mindestlöhnen richtig und sozial. Trotz Vollzeitarbeit auf Unterstützung angewiesen zu sein, ist gesellschaftspolitisch auf Dauer nicht haltbar. Die Methode „Working pur“, trotz Arbeit am Ende arm zu sein, ist nicht das, was wir in dieser Gesellschaft wollen. Daher ist an der Stelle sozialpolitisch eine Veränderung notwendig. Auch beim Mindestlohn brauchten wir Ihre Unterstützung. Der Weg, z. B. ergänzende Sozialleistungen bei Bedarf zu bekommen, ist zwar wichtig, aber auch hier können wir das mit Mindestlöhnen verändern. Da hoffe ich auf Ihre Einsicht, denn aus der Antwort auf Ihre Frage geht sehr deutlich hervor, dass sich Arbeit generell auch lohnt, und das ist zum Glück so richtig. Wir müssen auch im Blick haben, dass wir künftig Renten sichern und über der Grundsicherung halten wollen. Auch deshalb müssen wir uns für Mindestlöhne einsetzen. Sie helfen mit Ihrer Fragestellung deshalb überhaupt nicht!

Ich komme noch einmal auf Ihre Fragen zurück. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie die Vergünstigungen für Arbeitslosengeld-II-Empfänger streichen wollen. Sie schüren damit eine Neiddebatte und bringen den Geringverdienern gar keine Vorteile. Der Tenor Ihrer Fragestellung zeigt, dass Sie die Vergünstigungen nicht auch für Geringverdiener wollen, sondern für die anderen streichen. Um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit herzustellen, müssen ungleiche Startchancen ausgeglichen werden. Auch das müssten Sie wissen. Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle aus Ihrem Klienteldenken herauskommen.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]