Protokoll der Sitzung vom 27.11.2008

Antrag

Anstieg der HIV-Neuinfektionen und sexuell übertragbaren Krankheiten stoppen – gezielt in Prävention investieren!

Antrag der SPD und der Linksfraktion Drs 16/1930

Ich habe den Antrag bereits vorab an den Ausschuss für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz überwiesen. Ihre nachträgliche Zustimmung stelle ich fest.

Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Das Wort für die Linksfraktion hat der Abgeordnete Dr. Albers. – Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Knapp und klar: Auch heute noch sterben in Berlin in jeder Woche zwei Menschen an Aids. Etwa 10 430 HIV-positive und aidskranke Menschen, 9 500 Männer, 900 Frauen und 30 Kinder leben in dieser Stadt. Das bedeutet, jeder sechste HIV-Positive in Deutschland lebt in Berlin. Es gibt Themen, die sich wenig zur parteipolitischen Streiterei eignen. Dieses Thema gehört mit Sicherheit dazu. Deshalb sei auch gleich vorweg gesagt, das Problem Aids und HIV ist in dieser Stadt von unterschiedlichen Regierungen jeweils sehr ernst genommen worden. In Zusammenarbeit von Selbsthilfeorganisationen, freien Trägern, öffentlichem Gesundheitsdienst und Senatsverwaltungen sind Strukturen eines differenzierten Hilfesystems geschaffen worden, die bundesweit beispielhaft sind. Trotz all dieser Bemühungen – auch das gehört zur Wahrheit – ist nach Angaben des Robert-Koch-Instituts im Verlauf der letzten Jahre ein deutlicher Anstieg der Neudiagnosen in unserer Stadt zu beobachten. Die Zahl für das Jahr 2007 beträgt bundesweit etwa 3 000, 460 davon sind in unserer Stadt aufgetreten. Wobei, das muss man wissenschaftlich exakt einschränkend sagen: Neudiagnose ist nicht gleichzusetzen mit Neuinfektion. Aber das Problem wird dadurch nicht geringer. Berlin ist und bleibt Aidshauptstadt in diesem Land.

Bis in die Mitte der 90er Jahre beschränkte sich die Behandlung von Aids-Patienten auf reine Sterbebegleitung. Mittlerweile ist es gelungen, durch deutlich verbesserte, aber immer noch aufwendige Behandlungsmöglichkeiten die Krankheit zu chronifizieren und damit den Krankheitszustand lebensverlängernd zu stabilisieren. In diesem Zusammenhang hat die Arbeit der 15 Aids-Schwerpunktpraxen eine große Bedeutung, deren Existenz – Sie haben es der Presse entnommen – durch die beabsichtigte Streichung des Aidszuschlags gefährdet schien. Es ist dem Engagement nicht zuletzt unserer Gesundheitssenatorin zu verdanken, dass heute in der Diskussion zwischen den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung eine Verständigung erzielt werden konnte, mit der dieser Zuschlag auch in Berlin weiterhin bis zu einer bundeseinheitlichen Lösung gesichert wird.

[Beifall bei der Linksfraktion und den Grünen]

Die wertvolle Arbeit dieser Praxen kann also weitergeführt werden.

Die aus den eben erwähnten Therapieerfolgen resultierende vermeintliche Normalisierung im Umgang mit der Aidserkrankung birgt immer die Gefahr einer Bagatellisierung dieser Krankheit. Deshalb ist es wichtig zu betonen: Aids ist auch heute noch eine tödliche Erkrankung. Auch wenn wiederholte Befragungen durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter dem Arbeitstitel „Aids im öffentlichen Bewusstsein“ zeigen, dass das faktische Wissen zu HIV und Aids einschließlich der Übertragungswege in der Bevölkerung in hohem Ausmaß vorhanden ist, ist es notwendig, jede Generation generationsspezifisch und kultursensibel immer wieder von Neuem über die Gefahren einer Ansteckung zu informieren. Das entscheidende Problem liegt dabei nicht in der mangelnden gesellschaftlichen Aufklärung, sondern darin, das Wissen in individuelles Verhalten zu übertragen. Hier bleibt die personalkommunikative Präventionsarbeit nach wie vor mit Abstand die effektivste, aber eben auch aufwendigste und teuerste Präventionsstrategie.

Es fehlt hier die Zeit, auf alle in unserem Antrag angesprochenen Aspekte der HIV-/Aidsproblematik in dieser Stadt einzugehen. Deshalb will ich mich in diesem Zusammenhang darauf beschränken, auf den integrierten Gesundheitsvertrag zu verweisen. Im Rahmen dieses Vertrages arbeiten auf dem Handlungsfeld Aids/HIV, sexuell übertragbare Krankheiten und Hepatitiden freie Träger und Selbsthilfeorganisationen zusammen und halten insgesamt zwölf mit 2,1 Millionen Euro geförderte Projekte – von der personenbezogenen Hilfe über Beratungs- und Unterstützungsleistungen bis hin zur Pflege – vor.

Im Juni dieses Jahres konnte die vorgesehene Evaluation für dieses Handlungsfeld abgeschlossen werden. Dabei wurde nicht nur geprüft, inwieweit bereits laufende Projekte bedarfsgerecht angelegt waren, sondern auch, inwieweit eine Konkretisierung von Zielgruppen zur Verbesserung der Primärprävention erforderlich ist. Das ist umso bedeutender, als wir gerade einen Anstieg der Neuinfektionen in einer bestimmten Gruppe beobachten, auf den wir reagieren müssen.

Aus diesen Ergebnissen müssen nun praktische Konsequenzen gezogen werden. In einer Arbeitsgruppe, in der die Senatsverwaltung Gesundheit, der Paritätische Wohlfahrtsverband als Dachorganisation im integrierten Gesundheitsvertrag sowie Vertreter der verschiedenen Projekte unter externer Begleitung zusammenarbeiten, soll auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen gemeinsam ein entsprechendes Rahmenkonzept für die zukünftige politische und strategische Ausrichtung der Präventionsarbeit entwickelt werden.

In diesem Zusammenhang ist der von der Regierungskoalition eingebrachte Antrag, der Ihnen vorliegt, zu betrachten. Wir werden im Ausschuss am 1. Dezember ausreichend Gelegenheit haben, ihn kritisch, aber in sachlicher Arbeitsebene zu diskutieren und gegebenenfalls noch zu verbessern. – Danke!

[Beifall bei der Linksfraktion]

Das Wort für die CDU-Fraktion hat der Abgeordnete Czaja.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ehe auch ich noch auf die Fakten und Argumente eingehe, die bereits in mehreren Fachausschüssen ausgetauscht wurden, möchte ich mich von einer anderen Seite dieser Priorität der Linken nähern.

Es ist exakt ein Jahr her, dass die Grünen hier einen Antrag auf ein Gesamtkonzept für sexuelle Gesundheit eingebracht haben. Zwei Monate später zog die CDUFraktion diesem Antrag nach, indem wir einen Antrag mit der Überschrift formulierten: „Keine Entwarnung bei HIV-Infektionen“. Der Grund war das unüberhörbare Schweigen der zuständigen Senatsverwaltung und der Regierungskoalition zum besorgniserregenden Anstieg von HIV-Neuinfektionen in Berlin. Dies wurde bereits im Herbst 2007 intensiv erörtert, und der Ruf nach einem landesweiten Aktionsplan wurde laut.

Ebenso ruhten die Koalitionsfraktionen in sich, als Ärzte von HIV-Schwerpunktpraxen Anfang dieses Jahres um parlamentarische Unterstützung warben. Erst das Drängen der Opposition brachte dieses Thema auf die Tagesordnung des Gesundheitsausschusses und damit auch Bewegung in den gesamten Komplex HIV-Prävention und HIV-Neuerkrankungen. Es dauerte noch bis zum September, ehe die Regierungskoalition handelte. Die Koalition sagte dann am 17. November – zwei Monate später – im Gesundheitssausschuss anlässlich der Anhörung über HIV und Aids mit Berliner Experten, dass – ich zitiere die Kollegin Winde – „die Seite der Regierungsfraktionen eher im Verborgenen agiert.“

Weiter meinte sie, der Antrag der Regierungsfraktionen würde die Opposition sicher überzeugen. – Wahrhaftig, Frau Kollegin Winde, Ihr Rückzug in das Verborgene – vielleicht sollten Sie das häufiger tun – war erfolgreich. Ihr Antrag überzeugt uns, und deshalb, Frau Winde und Herr Dr. Albers, werden wir Ihrem Antrag auch unsere Zustimmung geben.

Aber dieser Antrag weist vor allem Ideen und Gedanken der bereits von der Opposition eingebrachten Anträge auf, deswegen ist es auch nicht besonders schwierig für uns, diesem Antrag zuzustimmen. Er ist fast in allen Einzelpunkten aus Anträgen der Fraktion der Grünen und in Teilen auch aus Anträgen der Fraktion der CDU entnommen. Dazu gehört die Forderung nach einer umfassenden Präventionsstrategie ebenso wie die Überprüfung der Versorgungsstruktur und deren Finanzierung bis hin zu einer besseren Integration von HIV-Infizierten in den Arbeitsmarkt. Diesen Aspekt halte ich übrigens neben der

notwendigen Neuausrichtung der Präventionsstrategie für den wichtigsten.

Die Senatsverwaltung – Herr Dr. Albers hat dies schon zum Ausdruck gebracht – findet hier ein vorbestelltes Feld. In der Vergangenheit ist viel geschehen, im Senat ebenso wie bei den Trägern der Selbstverwaltung unter anderem bei der Berliner Schwulenberatung, deren Mitarbeiter bereits seit Jahren mit interessanten Vorschlägen im Verbund mit anderen Expertinnen und Experten für mehr Akzeptanz von HIV-infizierten Menschen am Arbeitsplatz werben und hier eine Menge an Erfahrungen, Anregungen und Ideen einbringen können.

Dem Änderungsantrag der Grünen zum Koalitionsantrag werden wir zustimmen, weil auch wir die Meinung vertreten, dass Schnelltests bei HIV und Syphilis nur dann sinnvoll sind, wenn sie mit ausführlicher Beratung verbunden werden. Unsere Zustimmung gilt auch der geforderten schulischen Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten, und den Punkt drei Ihres Antrags haben Sie in der jetzigen Debatte noch ergänzt, sodass auch für uns klar ist, was Sie wünschen.

Aber da die inhaltlichen und fachlichen Vorstellungen, Meinungen und Forderungen der Fraktionen zum Handlungsfeld HIV und Aids ausgetauscht wurden und dabei eine große Übereinstimmung festzustellen ist, möchte ich abschließend noch meine Meinung zum Ausdruck bringen, dass Sie mit diesem Antrag und dieser Initiative erneut eine ziemliche Verwilderung parlamentarischer Sitten vollzogen haben.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Der Grund ist klar: Am 1. Dezember, am Weltaidstag, der nun naht, will sich die Koalition noch schnell ins rechte Licht rücken. Da es nicht genügt, nur eine rote Schleife zu tragen – die Herr Dr. Albers auch gleich abgelegt hat –, muss sie sich auch noch mit einer parlamentarischen Initiative herausputzen.

[Christian Gaebler (SPD): Sie haben nicht mal eine rote Schleife an!]

Nur, Herr Kollege Albers, das Copyright liegt nicht bei der Koalition.

[Martina Michels (Linksfraktion): Aber auch nicht bei der CDU!]

Es liegt eindeutig bei den Oppositionsfraktionen. Das werden Sie sicher nicht bestreiten können. Frau Winde wird das jedenfalls nicht tun. Wenn diese Selbstdarstellung jedoch dazu beiträgt, dass der Senat aktiv handelt, dann wollen wir zunächst zufrieden sein

[Uwe Doering (Linksfraktion): Ist doch alles easy, wenn Sie zufrieden sind!]

und hoffen, dass Frau Lompscher diese Wünsche und Vorschläge auch in Taten umsetzen kann und dass sie im Landeshaushalt die notwendigen Einstellungen ebenso vornimmt. Wir wollen vorerst zufrieden sein, auch wenn

wir klar erkennen, dass dies nur eine zum Weltaidstag vorbereitete Initiative ist, die aus dem Druck der Opposition entstanden ist. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der CDU und den Grünen – Uwe Doering (Linksfraktion): Da hätte doch ein Satz gereicht!]

Vielen Dank! – Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Winde.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am kommenden Montag jährt sich zum zwanzigsten Mal der Weltaidstag. Die Medien sind derzeit voll der Berichterstattung über Projekte, Kampagnen und Spendenaufrufe. Es – dies sei nur erwähnt – war nicht die Idee der Koalition, sondern namentlich von Thomas Birk, dass wir dies zum Anlass nehmen, endlich etwas zu verabschieden, was zugegebenermaßen überfällig war.

Kürzlich titelte das „AWO-Magazin“ seinen Bericht zum Weltaidstag mit: „Die Krankheit lebt und tötet.“ Ich finde, treffender hätte man die aktuelle Situation nicht beschreiben können. Die Informationsoffensiven der letzten zwanzig Jahre – exemplarisch sei hier die Kampagne „Gib Aids keine Chance!“ der BZgA genannt – haben dazu geführt, dass wir heute einen hohen Bekanntheitsgrad der Krankheit Aids haben – theoretisches Wissen über die Ansteckungsgefahr besteht, aber eigentlich auch über die Schutzmöglichkeiten.

Berlin hat seit den 80er-Jahren eine hervorragende Infrastruktur für HIV-und Aidserkrankte aufgebaut. Dazu gehören auch die HIV-Schwerpunktpraxen, die es in Berlin gibt und die in dieser Form bundesweit eine beispiellos gute medizinische Versorgung für die Betroffenen bieten. Weil die Krankheit zwangsläufig sehr viel zeitaufwendiger zu behandeln ist als andere Krankheitsbilder, haben die niedergelassenen Ärzte den sogenannten Aidszuschlag erhalten. Dieser wurde ihnen seit Anfang des Jahres zunächst von der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin gekürzt und sollte ab Januar sogar ganz wegfallen. Die KV hat hier eine unrühmliche Rolle gespielt, während die Schwerpunktpraxen zum Teil um ihre Existenz fürchten mussten.

Heute Vormittag hat es hier nun endlich eine Einigung gegeben, die Pauschalen werden weitergezahlt, was nur auf den großen öffentlichen und politischen Druck zustande kam.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Ich möchte hier ausdrücklich der Gesundheitssenatorin und dem Vorsitzenden des „Arbeitskreises Aids niedergelassener Ärzte“ danken, ohne deren Beharrlichkeit das nicht möglich gewesen wäre.

[Beifall bei der SPD, der Linksfraktion und den Grünen]

Na, wer sagt es denn: Es gibt überparteiliche Zustimmung!

Durch den medizinischen Fortschritt gibt es heute für an Aids erkrankte Menschen bessere medikamentöse Behandlung, sodass der Verlauf der Krankheit beeinflusst werden kann und sich zum Teil erheblich verzögert. Dadurch hat der Virus für viele Menschen sein Schreckgesicht verloren. Trotzdem bleibt die Erkrankung unheilbar. Infizierte sterben früher oder später, das muss hier klar gesagt werden.

Schauen wir uns die aktuellen Zahlen an. In Berlin hat sich – im Gegensatz zu anderen Bundesländern – die Zahl der Neuansteckungen mit dem HI-Virus im Zeitraum von 2001 bis 2008 verdoppelt. Berlin steht bedauerlicherweise bei den Neuinfektionen bundesweit an der Spitze. Auch andere sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis sind in den letzten Jahren in Berlin sprunghaft angestiegen. An Syphilis erkrankte können sich leichter mit dem HI-Virus anstecken und sind zudem noch infektiöser.

Es gibt bei vielen Menschen eindeutig wieder einen höheren Informationsbedarf. Wir müssen unsere Aufklärungskampagnen überdenken und uns stärker an den gefährdeten Gruppen orientieren. Wir benötigen einen gezielten Umgang in den einzelnen Berliner Kiezen mit ihren unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, auch die nichtdeutscher Herkunft. Wir benötigen ihn auch vor allem mit jungen Menschen, die in der Regel am Beginn ihres Sexuallebens stehen, insbesondere mit jungen homosexuellen Männern. Die Zahl der Neuansteckungen bei den Männern, die Sex mit Männern haben, liegt viermal höher als bei heterosexuellen Männern.

Wir müssen auch Aufklärungsarbeit leisten, dass es andere sexuell übertragbare Krankheiten gibt. Es muss Aufklärungsarbeit geleistet werden, die sich neuer Kommunikationswege bedient. Die Aufklärungsarbeit an den Schulen sollte wieder eine größere Rolle spielen. Das sind Punkte, die in dem vorliegenden Koalitionsantrag genannt werden und bei denen die geforderte Präventionskampagne ansetzen muss, um eine Bewusstseinsänderung bei den verschiedenen Zielgruppen zu erreichen. Sexuell verantwortliches Handeln muss wieder positiv besetzt werden. Wir dürfen nicht müde werden, das immer und immer wieder zu fordern.

Der Bericht und das zu erarbeitende Präventionskonzept des Senats sollen Grundlage für eine Prüfung sein, ob die finanziellen Schwerpunkte innerhalb des Gesundheitsetats anders gesetzt werden müssen, um in diesen Bereich wieder mehr Geld fließen zu lassen. Die Entscheidungen darüber müssen aber erst nach der inhaltlichen Prüfung gefällt werden, nicht vorher. Als verantwortliche Gesundheitspolitikerin sage ich aber auch: Das bedeutet, dass an anderer Stelle etwas wegfallen muss, denn insgesamt mehr Geld steht angesichts der erforderlichen Haushalts

konsolidierung auch im nächsten Haushalt nicht zur Verfügung.

Frau Kollegin Winde! Ihre Redezeit ist beendet.