Protokoll der Sitzung vom 11.12.2008

Ich stelle von vornherein Folgendes klar: Unser Ziel bleibt ein ungegliedertes Schulsystem, in dem Kinder und Jugendliche nicht nach vermeintlicher Eignung auf verschiedene Schultypen verteilt werden.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Es ist wichtig, dass wir nicht auf Legenden hereinfallen. Ein solche Schule ist gerade keine Schule der Gleichmacherei, sondern setzt voraus, dass Unterschiedlichkeiten akzeptiert werden, dass individuelles Lernen in den Mittelpunkt gestellt wird. Eine solche Schule – sage ich jetzt einmal polemisch – bedeutet eine Verabschiedung von den verschiedenen Einheitsschulen, die wir in unserem Schulsystem haben, in denen Kinder – gemessen an demselben durchschnittlichen Maßstab – im Gleichschritt in derselben Zeit zu denselben Ergebnissen gebracht werden sollen.

[Beifall von Dr. Felicitas Tesch (SPD) – Özcan Mutlu (Grüne) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Es geht um individuelles Lernen. Es geht darum, Heterogenität als Verschiedenheit, als Chance zu begreifen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Mutlu?

Herr Zillich! Der Vorschlag von Bildungssenator Zöllner geht erkennbar einen anderen Weg. Und Ihre Fraktionsvorsitzende hat kürzlich auch in einer Zeitung gesagt, man könne das Gymnasium nicht einfach abschaffen. Was gilt nun? Sind Sie gegen das Modell von Herrn Zöller? Wollen Sie die Gymnasien abschaffen oder nicht? Ich sehe einen Widerspruch zwischen dem, was Sie gerade gesagt haben, und dem, was ich sonst höre.

Ich komme noch dazu. Ich bin noch nicht am Ende mit meiner Rede. Es ist nicht sinnvoll, am Anfang einer Rede eine Zwischenfrage zu stellen, die ungefähr bedeutet: „Was willst du denn sagen?“

[Beifall bei der Linksfraktion – Zuruf von Özcan Mutlu (Grüne)]

Um zu solch einem Schulsystem zu kommen, haben wir uns in der Koalition auf ein ganz wichtiges Element verständigt: auf die Pilotphase Gemeinschaftsschule. Diese Pilotphase Gemeinschaftsschule ist für uns ganz wichtig. Sie zeigt nämlich, dass eine solche Schule, die auf Auslese verzichtet, nicht nur an Akzeptanz gewinnt, sondern auch auf Interesse stößt. Hier ist das Pankower Beispiel der neu gegründeten Gemeinschaftsschule zu nennen. Sie existiert noch nicht einmal 100 Tage, und es gibt für das nächste Schuljahr für 80 Plätze bereits über 200 Anmeldungen.

[Zuruf von Ramona Pop (Grüne)]

Wir werden diese Pilotphase weiterführen. Wir werden sie stärken, weil es hier darum geht, ein Modell dafür zu haben, wie eine nicht auslesende Schule funktionieren kann.

Aber wir beschränken uns nicht darauf, sondern wir gehen weiter. Uns geht es darum, dass auch in den Schulen, die nicht an der Pilotphase Gemeinschaftsschule teilnehmen, Weiterentwicklung notwendig ist. Darum geht es in der aktuellen Debatte.

Was ist uns in diesem Prozess wichtig? – Zunächst sind uns die Ziele, die damit verbunden sind, wichtig. Ich nenne sie noch einmal, obwohl manche sie als Beiwerk sehen; ich finde das auch für unsere Kommunikation im Parlament wichtig: Uns geht es darum, dass alle einen Abschluss erreichen. Uns geht es darum, dass wir viel mehr Abiturienten und Abiturientinnen brauchen. Uns geht es darum, das wir den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Bildungschance und Bildungserfolg auflösen müssen. Da muss die CDU sagen, was sie will. – Das Einzige, was Sie in der vergangenen Runde zu dem Thema „Wir brauchen mehr Abiturienten“ gesagt haben, war: „Wir dürfen die Abschlüsse nicht entwerten.“ Selbstverständlich dürfen wir die Abschlüsse nicht entwerten, aber Sie müssen eine Position dazu beziehen, ob Sie gemeinsam mit der OECD, gemeinsam mit dem Wissenschaftsrat, gemeinsam mit der Wirtschaft der Auffassung sind, dass wir zu mehr Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung kommen müssen. Wenn Sie nicht der Auffassung sind, dann sagen Sie es, dann haben wir einen ziemlich großen inhaltlichen Dissens.

In dieser Frage geht es uns um die Überwindung der Hauptschule. Das ist der Ausgangspunkt. Hier müssen wir schnell handeln. Hier müssen wir schnell eine Situation überwinden, in der trotz großen materiellen Einsatzes und trotz großen Engagements nicht genügend Erfolge gezeitigt werden.

Ein ganz wichtiger Punkt in diesem Prozess ist, dass wir keine neuen Restschulen schaffen, und das in zweierlei Hinsicht: Erstens dürfen wir die Sonderschulen, die Schulen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen, bei dieser Reform nicht außen vor lassen. Wir müssen ihre Überwindung mitdenken, damit an dieser Stelle nicht eine neue Restschule entsteht. Und wir müssen dafür sorgen, dass auch die andere Schule, die in einem Zwischenschritt neben dem Gymnasium existiert, nicht in die Gefahr kommt, eine neue Restschule zu werden.

Das bedeutet, dass wir uns nicht auf die Zusammenlegung von Schulformen beschränken können, sondern dass wir beschreiben müssen, wie sie integrativ arbeiten. Es gibt die Voraussetzung dafür, dass keine Schule auf Kosten der anderen existieren darf, deswegen darf es kein Abschulen geben. Und es geht darum, eine Gleichwertigkeit zu erzielen bei den Abschlüssen, die ermöglicht werden können, bei den Standards, die angeboten werden können, und auch bei den Ausgangsbedingungen der Schulen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD – Beifall von Özcan Mutlu (Grüne)]

Da kommen wir an einen sehr schwierigen Punkt. Weil wir wissen, dass immer, wenn wir solch ein aufgesplittetes Schulsystem haben, die Gefahr sozialer Ausdifferenzierung zwischen den Schülerinnen und Schülern besteht, müssen wir das, was wir im Zwischenschritt tun, daran messen, inwieweit wir dazu beitragen, diese soziale Auslese zurückzudrängen, auch bei der Frage: Wer kommt auf welche Schule?

Wir sagen klar, wohin wir wollen. Wegen der Frage von Herrn Steuer – vielleicht war sie gar nicht so wichtig, deswegen wurde sie gar nicht mehr aufgegriffen –, ob man eine Schule für alle oder was auch immer wolle, will ich unsere Ziele noch einmal verdeutlichen: Ja, wir wollen eine Schule für alle, weil es beim Lernen auf jeden einzelnen ankommt. Wir wollen eine Schule für alle, weil die Schule Individualität und Verschiedenheit nicht nur als gesellschaftliche Realität akzeptieren, sondern als Chance begreifen muss.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir wollen eine Schule für alle, damit nicht länger der Chimäre homogener Lerngruppen durch Auslese nachgejagt wird. Und wir wollen eine Schule für alle – hier zitiere ich Lothar Sack von der „Frankfurter Rundschau“ –, weil man „gemeinsam leben (...) nur gemeinsam lernen“ kann. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank! – Das Wort für die FDP-Fraktion hat Frau Senftleben.

[Martina Michels (Linksfraktion): Wir zittern!]

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Verehrte Kolleginnen! Eine Schule für alle oder für alle eine Schule – das ist ein recht nettes Wortspiel, aber ich bin mir nicht sicher, ob das eine Große Anfrage wert ist.

[Beifall bei der FDP, der SPD und der Linksfraktion]

Verehrter Herr Zillich! Sie haben eben immer von „wir“ geredet: Wir sind die Politik, wir müssen machen, wir müssen das Allheilbringende finden. Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass die Schulen, die prämiiert werden, die Schulen, die gut sind, ihren Reformprozess vor Ort begonnen haben? Sie haben nicht darauf gehört, was die Politik gesagt hat, sondern das gemacht, was für sie wichtig ist. Deswegen sind es gute Schulen, egal, ob sie ein gemeinschaftliches Konzept haben oder ein selektives Konzept.

[Dr. Felicitas Tesch (SPD): Selektive Schulen kriegen keinen Schulpreis! Gucken Sie mal hin!]

Allerdings! Ich weiß nicht, ob Sie gestern dabei waren. Gucken Sie sich die Liste der Schulen an, die den Schulpreis bekommen haben!

Ich bin heute Abend nicht schlauer geworden. Ich weiß nur eins: Die Vorstellungen von Herrn Zillich entsprechen nicht unbedingt den Vorstellungen von Herrn Senator Zöllner. Ich rede ungern über ungelegte Eier. Ich rede vor allen Dingen überhaupt nicht über irgendwelche ungelegten Struktureier. Darum geht es heute Abend. Ich habe noch keine einheitlichen Meinungen gehört. Ich bin sicher, im Januar erfahren wir alle, wie es eigentlich wirklich funktionieren soll. Und dann stehen wir wieder hier und reden wieder vor relativ wenig Menschen, die uns – meistens desinteressiert – zuhören. – Ich rede heute über gelegte Eier, und da rede ich Tacheles.

Was uns am Dienstag von Herrn Prof. Boos im Rahmen der IGLU-Studie präsentiert wurde, ist beachtlich. Schlimmer geht’s nimmer. Ich finde es doch recht ignorant und nonchalant, Herr Senator, Frau Dr. Tesch und Herr Zillich, dass alle drei Redner dieser rot-roten Koalition diese IGLU-Studie nicht mit einem einzigen Wort erwähnt haben,

[Beifall bei der FDP und den Grünen – Zuruf von Dr. Felicitas Tesch (SPD)]

denn das ist ein entscheidender Punkt, über den wir – das möchte ich Ihnen heute klipp und klar sagen – heute reden: Sieben Jahre rot-rote Bildungspolitik, und die Ergebnisse sind schlicht eine Katastrophe, verehrte Frau Dr. Tesch.

[Beifall bei der FDP– Vereinzelter Beifall bei den Grünen]

Das Fazit von sieben Jahren rot-roter Bildungspolitik ist erstens: Risiko. Jedes vierte Kind an einer Berliner Grundschule gehört zur Risikogruppe. Es kann nicht lesen, Texte nicht verstehen und sie nicht verarbeiten. Kein Bundesland gibt es mit einer höheren Risikogruppe.

International werden lediglich acht Länder schlechter beurteilt, z. B. Georgien, Moldawien, Rumänien oder auch Island. Prima!

[Dr. Martin Lindner (FDP): Hört, hört!]

Wenn wir uns nebenbei überlegen, dass Berlin die Hauptstadt einer der größten Industrienationen der Welt ist, wenn wir auch wissen, dass diese Bundesrepublik sehr arm an Rohstoffen ist, und Berlin sowieso arm ist, dann muss uns doch klar sein, dass wir das, was in den Köpfen ist, fördern müssen. Das ist nämlich der einzige Rohstoff.

[Beifall bei der FDP– Vereinzelter Beifall bei der CDU]

Dieser Rohstoff scheint hier gerade bei den Regierenden nicht richtig ausgeprägt zu sein.

[Heiterkeit bei Dr. Martin Lindner (FDP) und Özcan Mutlu (Grüne) – Beifall von Mario Czaja (CDU)]

Lesekompetenz ist die elementare Kulturtechnik, auf der alles Weitere aufbaut.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Bei dieser Kompetenz hapert es auch manchen!]

Wer Texte nicht liest, versteht, umsetzt, der sieht schlicht alt aus. Wer in der vierten Klasse diese Kulturtechnik immer noch nicht beherrscht, hat weiterhin ziemlich schlechte Karten. Dem steht Hartz IV im Alter von zehn Jahren schon auf der Stirn. Kurz und bündig: Rot-rote Bildungspolitik versagt, alle anderen Länder und Bundesländer machen das besser. Das Risiko heißt hier rot-rotes Bildungsrisiko für Berliner Kinder.

Das Fazit aus sieben Jahren rot-roter Bildungspolitik ist zweitens: Berliner Schulen schaffen es nicht, Kindern mit Migrationshintergrund das Lesen beizubringen: bundesweit Platz 14. Aber, und das finde ich höchst erstaunlich, auch bei den Kindern deutscher Eltern haben wir dasselbe Ergebnis, nämlich auch Platz 14, liebe Frau Dr. Tesch. Dann müssten wir die Gründe dafür hinterfragen und auch benennen. Denn offensichtlich wird das mit der Heterogenität nicht richtig durchgeführt in Berlin. Offensichtlich ist der Umgang mit heterogenen Lerngruppen für Berliner Lehrer und Lehrerinnen nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Individuelle Förderung wird klein geschrieben. Unterrichtsqualität, hier insbesondere der Deutschunterricht lässt zu wünschen übrig. Der Ganztagsbetrieb ist falsch strukturiert: Morgens Unterricht, am Nachmittag Betreuung, das reicht offensichtlich nicht aus. Die Verwaltung gängelt, anstatt zu begleiten und zu unterstützen.

In der Grundschule lernen die Kinder gemeinsam, und zwar in Berlin bis zur sechsten Klasse. Es gibt hier eine immerhin sechsjährige Gemeinschaftsschule. Sie deklarieren immer dieses gemeinsame Lernen als Erfolgsrezept, als das Erfolgsrezept – nichts da. Gemeinsames Lernen generell als Erfolgsrezept für besseres Lernen anzuführen, widerspricht schlicht der Realität, zumindest in dieser Stadt. Gemeinsames Lernen generell als Erfolgsrezept für mehr Chancengerechtigkeit anzuführen, wider

spricht der Realität. Dass Sie hier nach wie vor das hohe Lied auf dieses gemeinsame Lernen an Berliner Schulen singen, verehrte Frau Dr. Tesch, sehr geehrter Herr Zillich, das ist dreist, das ist mehr als dreist.