Protokoll der Sitzung vom 30.04.2009

den europäischen Interessen, die in Mittel- und Osteuropa definiert sind, die wir definiert haben, auch an den Handelsinteressen und an den sonstigen Beziehungen zu Polen und anderen Ländern. Meine Fraktion warnt dringend davor, diese Frist erneut zu verlängern. Da sind wir mit Ihnen im Prinzip völlig einig.

Was wir aber nicht brauchen, ist, noch einmal so einen Beschluss zu fassen. Die Position des Senats ist klar. Unsere Position ist klar. Es ist jetzt einfach zu spät, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für das Jahr 2009 zu fordern. Wir sollten aber gemeinsam als Berlin dafür kämpfen – weil wir das gemeinsame Interesse haben –, dass im Jahr 2011, in gut anderthalb Jahren, die Grenzen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch aus Polen offen sind. – Danke schön!

[Beifall bei der SPD – Vereinzelter Beifall bei der Linksfraktion]

Vielen Dank! – Das Wort für die Fraktion der CDU hat nun der Kollege Scholz.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, der Zug ist abgefahren! Wir diskutieren heute über einen Antrag, dessen Inhalt sich vor genau drei Tagen erledigt hat. Es bleibt, noch einmal zu beleuchten, wie sich die Debatte in den vergangenen Monaten gestaltet hat.

Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren haben Sie den Antrag zum Abbau der Zugangsbeschränkungen für ost- und mitteleuropäische Arbeitnehmer eingebracht. Im federführenden Europaausschuss fand die kontroverse Debatte dazu im Juli 2007 statt, zu einem Zeitpunkt, wo weder die Finanzkrise und schon gar nicht deren Auswirkungen sichtbar waren. Sinkende Arbeitslosenzahlen, sich abzeichnender Fachkräftemangel waren kennzeichnend für den Sommer 2007. Aber bevor jetzt der Wirtschaftssenator zustimmend nickt, sei gesagt: Das trifft und traf leider nicht auf Berlin zu. Die desolate rot-rote Wirtschaftspolitik führte dazu, dass unsere Stadt zu keinem Zeitpunkt mit dem positiven Bundestrend Schritt halten konnte.

[Zuruf von Wolfgang Brauer (Linksfraktion)]

Dennoch, als glühender Europäer äußerte ich mich damals in der Ausschusssitzung positiv zu der Intention des FDPAntrages. Und auch heute hat sich an dieser Grundüberzeugung nichts geändert.

Lassen Sie mich dazu ein sportliches Bild bringen. Wenn ich Angst vor einem Gegner habe, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ich sage meine Teilnahme an dem Wettbewerb ab, oder ich trainiere härter, um im Wettbewerb bestehen zu können. – Das sei dem Wirtschaftssenator ins Stammbuch geschrieben. Trainieren Sie härter, damit sich

die Berliner Wirtschaft auf gleicher Augenhöhe am Wettbewerb beteiligen kann!

[Beifall bei der CDU]

Interessant war auch die Position des Wirtschaftssenators damals im Ausschuss. Senator Wolf befürwortete durchweg die Arbeitnehmerfreizügigkeit – seine Fraktion stimmt jetzt wohl dagegen; ich lasse mich gerne eines Besseren belehren –, nicht zuletzt, um – so wörtlich – „das Segment des schwarzen oder grauen Marktes in die Legalisierung zu heben.“ Das ist nicht unbedingt falsch, aber schon verwunderlich. Statt die Schwarzarbeit in Berlin wirksam zu bekämpfen, hofft der Senator auf wundersame Besserung durch europäische Regelungen. – Am Schluss bleibt festzustellen: Die Abstimmung im Europaausschuss fand erst 20 Monate später statt.

Wir wissen, dass sich die wirtschaftliche Situation in den vergangenen Monaten dramatisch verändert hat. Wir gehen davon aus: Dieser Aspekt hat bei der Entscheidung der Bundesregierung eine große Rolle gespielt. Klar ist: Am vergangenen Montag hat die Bundesregierung in Brüssel beantragt, die innerhalb der EU geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit auch in den kommenden zwei Jahren für Arbeiter aus Osteuropa einschränken zu dürfen. Damit ist der Zug abgefahren und für meine Fraktion der Grund gegeben, sich in dieser Sache der Stimme zu enthalten. – Danke sehr!

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! Für die Fraktion Die Linke hat Frau Michels das Wort. – Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dragowski! Ich dachte bis zum Schluss, heute käme vielleicht noch etwas Neues, Innovatives, aber leider wurde ich – wie so oft – von Ihnen enttäuscht.

Wir behandeln hier zweifelsfrei ein sehr ernstes und wichtiges Thema, welches den Verlauf des europäischen Einigungsprozesses und seine Schwierigkeiten berührt. Das Thema der vollständigen Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland beschäftigt uns schon seit einigen Jahren – auch hier im Abgeordnetenhaus. Bereits im Jahr 2007 konnten wir im Europaausschuss mehrheitlich – mit Ausnahme der CDU – feststellen, dass eine Aufhebung der Beschränkungen vor 2011 sinnvoll und – Herr Dragowski, hören Sie gut zu! – auch erklärtes Ziel der Senatspolitik ist, wofür er sich auch aktiv eingesetzt hat, sowohl im Bundesrat als auch auf den Fachministerkonferenzen.

Herr Dragowski! Sie suggerieren hier zum wiederholten Mal, man müsse die Koalition in dieser Frage zum Jagen tragen.

[Mirco Dragowski (FDP): Richtig!]

Ihr Antrag ist nicht neu. Den haben Sie schon vor zwei Jahren gestellt. Spätestens seit damals hätten Sie wissen müssen, dass es dieser FDP-Initiative nicht bedarf.

[Mirco Dragowski (FDP): Oh doch!]

Der Senat hat nämlich bereits 2006 festgestellt, dass eine längere Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Berlin keine Vorteile bietet. Er ist diesbezüglich auch tätig geworden. Sowohl in der ASMK als auch in der Wirtschaftsministerkonferenz hat sich der Senat, und zwar bereits im Herbst 2007 entsprechend dem Senatsbeschluss vom März 2006 positioniert. Allerdings fand sich auf der ASMK dafür keine Mehrheit, Herr Dragowski. Und so wurde dort mehrheitlich festgestellt, „dass eine Festlegung über das weitere Verfahren derzeit nicht angezeigt sei“. Wenn man also einen solchen Antrag einbringt, liebe FDP, dann muss man auch die politischen Mehrheiten beim Namen nennen und deutlich sagen, wo die Hindernisse liegen, anstatt einfach seitenlange europapolitische Grundsatzerklärungen in die Begründung zu schreiben. Aber weil die FDP jetzt den Europawahlkampf entdeckt hat, glaubt sie nun, sie könne dieses Thema mal schnell vor Fristablauf noch einmal für sich nutzen.

Die Bundesregierung hat seinerzeit – unterstützt durch die Mehrheit der Bundesländer – die Anwendung der Übergangsregelung auf den deutschen Arbeitsmarkt bis zum 30. April 2009 verlängert. Nun haben wir gestern zur Kenntnis nehmen müssen – Herr Scholz hat eben darüber informiert –, dass die Bundesregierung bei der Europäischen Union am Montag in Brüssel beantragt hat, die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch in den kommenden zwei Jahren für Arbeiter aus Osteuropa einschränken zu dürfen. Insofern ist Ihr Antrag, Herr Dragowski, leider durch Regierungshandeln à la Merkel seit Montag dieser Woche zeitlich überholt.

[Mirco Dragowski (FDP): Und durch Unterlassen à la Wolf!]

Nun aber zu einem für meine Fraktion gravierenden inhaltlichen Unterschied – bis jetzt haben wir über die Gemeinsamkeiten mit Ihnen geredet –: Wir haben immer betont – das werden wir auch weiter tun –, dass die Aufhebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der Schaffung von gesetzlichen Rahmenbedingungen für soziale Mindeststandards verbunden sein muss. Dazu zählt vor allem der gesetzliche Mindestlohn. Herr Dragowski! Nehmen Sie endlich einmal zur Kenntnis: In 20 von 27 EU-Mitgliedsstaaten gibt es derzeit einen allgemeinen, branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn. Das zeigt doch, dass Deregulierung und Herstellung der vollen Freizügigkeit mit der Existenz sozialer Mindeststandards verknüpft sind.

[Beifall von Burgunde Grosse (SPD)]

Nur in dieser Gesamtheit wird es funktionieren.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Aber gerade in dieser Frage – das haben Sie auch heute wieder getan – verweigern Sie sich beharrlich. Die Bundesratsinitiative zur Einführung eines Mindestlohns, die Berlin und Bremen eingebracht haben, ist an politischen Mehrheiten gescheitert. Das ist die Wahrheit. Die Ängste vieler Menschen vor Lohn- und Sozialdumping sind aber gerade in der jetzigen Zeit nur durch konsequenteres soziales Handeln zu nehmen, weil dieses Misstrauen auf europäischer Ebene genau davon kommt, dass es immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse und immer weniger arbeitsrechtliche Absicherung gibt.

Wenn Sie sich also für die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union aktiv einsetzen wollen, dann fordern Sie – wie wir – die Einführung sozialer Mindeststandards in Europa und zum Beispiel eine Sozialstaatsklausel im Reformvertrag. Das braucht Europa jetzt als Signal. Das wäre eine Europapolitik, die an den Interessen der Unionsbürgerinnen und -bürger anknüpft, gerade jetzt und in Krisenzeiten. Dann hätte die Bundesregierung auch keinen Grund mehr, sich gegen die Aufhebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu sperren. – Ich danke Ihnen!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank! – Herr Dragowski möchte intervenieren. – Bitte schön!

Vielen Dank, Herr Präsident! – Frau Kollegin Michels! Ich muss erwidern. Nehmen wir Ihre erste Forderung, Ihre sozialen Wünsche für Europa. Das ist eine tolle Idee. Erst lassen Sie die Arbeitnehmer aus den neuen Beitrittsstaaten nicht hier arbeiten und dann wollen Sie noch deren Wirtschaftssysteme kaputt machen, indem Sie Ihre sozialen Wünsche auf ganz Europa ausdehnen, vor allem auch auf solche Staaten, die das nicht bezahlen können. Das nenne ich eine tolle Europapolitik. Vielen Dank für diese europäische Solidarität!

[Beifall bei der FDP]

Ich möchte – weil Sie sagten, Sie hätten sich immer für die Arbeitnehmerfreizügigkeit usw. eingesetzt – darauf aufmerksam machen, was Ihre Staatssekretärin, Frau Liebich, im Ausschuss gesagt hat – ich zitiere –:

Freizügigkeit ist nur dann richtig, wenn vorher Mindeststandards vereinbart worden sind.

Dafür hat Berlin Anträge in den Bundesrat eingebracht, die abgelehnt worden sind. Und als 2007 Ihre Anträge im Bundesrat auf Mindestlohn im Bundesrat abgelehnt wurden, war auf einmal Feierabend mit Ihrem Engagement für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie haben das immer gekoppelt. Das lassen wir hier nicht durchgehen. Es sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Sie können sich den Mindestlohn national wünschen, aber dennoch ist es aus europapolitischen und wirtschaftlichen Gründen für

Deutschland und Berlin richtig, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu haben.

Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, Frau Michels, dass der Arbeitsminister Ihres Koalitionspartners die Begründung des Antrags Anfang der Woche, es läge ein ungestörter Arbeitsmarkt vor und deshalb bräuchte man die Beschränkung, so kommentiert hat: Ein ungestörter Arbeitsmarkt liegt erst bei Vollbeschäftigung vor, die bei einer Arbeitslosenquote von 2 bis 3 Prozent erreicht ist. – Wenn wir diese Arbeitslosenquote als Maßstab dafür nehmen, dass Arbeitnehmer aus Osteuropa bei uns arbeiten dürfen, dann frage ich mich sowohl bei der schwarzrote auf Bundesebene als auch bei der rot-roten Regierung hier: Lassen wir die Arbeitnehmer aus Osteuropa immer außen vor? Denn diese Arbeitslosenquote werden wir mit Ihrer Politik sicher nicht erreichen. – Danke!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank! – Frau Eichstädt-Bohlig, bitte, Sie haben das Wort!

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben deutlich gehört, dass das eigentlich ein Tagesordnungspunkt ist, der durch Handeln der Bundesregierung seit letzter Woche definitiv erledigt ist, weil zum 1. Mai die Aussetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit bis zum Jahr 2011 verlängert wird. Herr Kollege Zimmermann! Das ist also jetzt gerade politisch entschieden worden. Deshalb ist der Tagesordnungspunkt eigentlich ad acta zu legen.

Ich möchte aber trotzdem noch einmal deutlich sagen: Wir haben den Antrag der FDP-Fraktion unterstützt und unterstützen ihn auch heute in der Schlussabstimmung.

[Beifall bei der FDP]

Klatschen Sie nicht zu früh! – Wir verbinden diesen Antrag ganz eindeutig – und da stimmt Ihre Argumentation nicht, die Sie eben gegeben haben, Herr Dragowski – mit der Forderung nach Mindestlöhnen.

[Martina Michels (Linksfraktion): Jetzt zuhören!]

Mindestlöhne heißt nicht, dass deswegen Polen in seiner Lohngestaltung plötzlich zusammenbricht. Mindestlöhne heißt hier, dass wir keinen Dumping-Wettbewerb für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben wollen, egal, ob sie deutsch sind oder aus einem anderen Land kommen. Das ist sozial gerecht und muss sein, und das gehört zu dem Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit mit dazu. Dafür möchte ich hier auch ganz deutlich werben.

[Beifall bei den Grünen und der Linksfraktion – Martina Michels (Linksfraktion): Das versteht er doch nicht!]

Deshalb bedauere ich sehr, dass die SPD-Fraktion auf Bundesebene in der großen Koalition, also gemeinsam mit der CDU, diesen Verlängerungsantrag in Brüssel gestellt hat. Ich glaube, da wäre dieses Junktim zwischen der zumindest branchenweisen Ausweitung von Mindestlöhnen in Verbindung mit dem Zugestehen von Freizügigkeit eine sehr viel stringentere und bessere Politik gewesen, als wieder auf die Abschottung der eigenen Nation zu setzen. Das ist ein schlechtes Zeichen, zumal es Scheinselbstständigkeit und Schwarzarbeit befördert.

Deshalb möchte ich dafür werben. Wir können jetzt nicht mehr viel machen. Wir werden bis zum Jahr 2011 leider keine Arbeitnehmerfreizügigkeit bekommen. Andere Länder wie die Franzosen im vorigen Jahr, die das Aussetzen der Freizügigkeit vorzeitig haben auslaufen lassen, die Belgier und die Dänen, die das jetzt zum 1. Mai machen, sind da klüger als wir. Wir machen leider auf der Bundesebene immer noch falsche Abschottungspolitik. Ich appelliere an die SPD-Fraktion, dass sie diesen Fehler nicht länger mitmacht.

[Beifall bei den Grünen]