Protokoll der Sitzung vom 14.05.2009

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Otto! Wir haben diese Entschließung im Ausschuss beraten und darüber eine gute Diskussion geführt. Es gab eine sehr große Einigkeit über zwei Dinge. Erstens, dass Ihr Anliegen, dies noch einmal in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu tragen, ein sehr gutes ist, gerade um der Geschichtslosigkeit der Zeit zu wehren. Junge Leute wissen heute überhaupt nicht, mit welchen Konsequenzen es in der DDR verbunden war, nicht zu wählen. Ich bringe ein paar Beispiele – Sie haben auch welche gebracht. Das hat uns geeint.

Es gab marginale Unterschiede, und die will ich auch ganz kurz diesem Haus erklären. Die Überweisung in die Ausschüsse haben wir insofern gefordert, weil wir der Meinung waren, dass Ihre Ableitung dieser Entschließung eine Geschichtssicht und Betrachtung war, die einer gründlichen Reflexion unterzogen werden muss. Sie ist in Gänze auch in Ordnung gewesen, so wie sie war. Wir haben nur ganz geringfügige Dinge geändert, zum Beispiel, dass wir gesagt haben, dass das Todesurteil in eine fünfzehnjährige Haft umgewandelt wurde – was auch furchtbar ist. Aber es gehört zur historischen Gerechtigkeit, dass man genau bleibt. Das haben wir gewürdigt.

Wir können im Parlament aber keine Geschichtssicht verabschieden – wir können uns nicht hinstellen und sagen: Wir beschließen jetzt die Sicht auf die Wahlfälschung von 1989. Sie ist in dieser Begründung festgelegt und ablesbar. – Aus dem Grund haben wir Ihre Ableitung zur Begründung gemacht – eine logische Folge. Das mindert Ihr Anliegen überhaupt nicht. – Frau Ströver! Sie haben auch gefochten, und ich, wie auch die gesamte SPD-Fraktion, habe Ihnen gesagt, wie sympathisch uns Ihr Anliegen ist.

Wer sich mit dieser Entschließung befasst, wird nachlesen wollen, was es für Gründe gab, weswegen wir in diesem Haus uns auf diese Position verständigt haben. Deswegen brauchen Sie keine Sorge zu haben: Die historischen Fakten gehen nicht verloren – im Gegenteil! Es wird eher angeregt, sich damit zu befassen.

Es ist in der Tat so – das können sich vielleicht wenige Menschen vorstellen –, dass das DDR-Regime sich nicht nur mit einem Ergebnis abgefunden hat, was jenseits jeder realistischen Höhe war, sondern es wollte auch Menschen entmündigen und beschämen. Ein Teil dieser persönli

chen Beschämung war, dass man extremen Zwang auf Menschen ausgeübt hat, wählen zu gehen. Das hat Angst erzeugt. Wer auch immer sich der Wahl entzogen hat, wurde vorgeladen, bekam Nachteile, wurde malträtiert, wurde zu Hause besucht.

Ich habe in meiner Stasi-Akte drei Dinge zu den Wahlen gefunden. Die erste Notiz 1974, in welcher man meinem Betrieb mitteilt, dass ich erst einmal zum Wählen aufgefordert werden musste. Ich war damals 19 Jahre alt und bin dann doch noch gegangen. Später berichtet ein gewisser IM Kramer der Staatssicherheit in Zittau, dass ich die Agitatoren nicht in meine Wohnung lasse. Aus dem Jahr 1986 finde ich einen Hinweis von einem IM Ulli in meiner Akte. Dieser war eine Urlaubsbekanntschaft, und ich hatte ihm erzählt, dass ich nicht wählen gehe. Dies hat er der Bezirksdienststelle Cottbus berichtet, und die hat dann entsprechende Maßnahmen in Gang gesetzt.

Das ist nicht weiter dramatisch, fast lächerlich. Aber allein die Tatsache, sich diesem System zu entziehen, hat die DDR erregt und erschüttert. Umso höher ist es zu bewerten, dass Menschen 1989 den Mut gefunden haben, diese Fälschungen nachzuweisen, zusammenzukommen und selbst Anklagen zu formulieren. Es ist wichtig, dass man daran erinnert.

Zweitens ist in Ihrem Anliegen auch wichtig – mir ebenso –, dass man den Prozess der Revolution und der Wende darstellt. Sie haben ganz richtig darauf verwiesen, dass 1989 eine Vorgeschichte hat. Ich sage nur: 1981 – Schwerter zu Pflugscharen. Da gab es die ersten Verhaftungen in der DDR, die Friedensbewegung in der DDR, von den christlichen Kirchen getragen, dann die ersten Umweltproteste, auch mit Verhaftungen in Bitterfeld, Leipzig und anderen Gegenden. Zum Schluss gab es dann den Widerstand gegen die Wahlfälschungen.

Wir werden der Entschließung zustimmen und damit auch dem Geist Ihres Ansatzes. Ich finde, die Resolution hat nicht gelitten – im Gegenteil. Sie weckt eher Interesse, bei all jenen, die wissen wollen, weshalb wir so etwas beschließen. Da gibt es viel zu entdecken, besonders wenn man sich mit Zeitzeugen zusammentut. – Vielen Dank!

[Beifall bei der SPD – Beifall von Uwe Doering (Linksfraktion) – Zuruf von der CDU: Kein Beifall von den Linken?]

Danke schön, Herr Kollege Hilse! – Für die CDUFraktion hat nunmehr Herr Kollege Lehmann-Brauns das Wort. – Bitte schön, Herr Dr. Lehmann-Brauns!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein wichtiger Antrag – einhellig im Kulturausschuss abgestimmt –, und doch haben wir Diskussionsbedarf! Ich glaube, von Ihnen, den Linken, kam in der Debatte im Kulturausschuss der

Hinweis, wir im Parlament dürften keine Geschichte schreiben.

[Zuruf von der Linksfraktion: Zuhören!]

Aber, meine Damen und Herren, das tut der Antrag nicht, sondern er formuliert nur das, was eine unserer vornehmsten Aufgaben in diesem Parlament ist: Er wertet, und er wertet Geschichte – geschrieben haben diese Geschichte andere. So wie wir auch werten, was vor 60 Jahren in der braunen Diktatur passiert ist, so tun wir das auch mit jenem Wahlbetrug vor 20 Jahren – womit eine Gleichsetzung selbstverständlich nicht verbunden ist.

Wir tun das allerdings in einer Zeit, in der das aktuelle Interesse an jenen Vorgängen weitgehend verloren gegangen ist. Die junge Generation – wie von Klaus Schröder von der Freien Universität ermittelt oder von Anne Will in ihrer Sendung neulich eingespielt – weiß oft gar nicht, wovon wir reden.

Und auch die Älteren sind kaum noch mit jenen mutigen Taten der Ostdeutschen zu erreichen. Wir haben also ein Wahrnehmungsproblem. Davon profitieren Sie, meine Damen und Herren von der Linken, besonders. Sie müssen nicht einmal viel ablenken, so wie neulich Ihr Genosse Maurer bei Anne Will. Die vergessliche Zeit spielt Ihnen zurzeit jedenfalls in die Hände.

[Beifall bei der CDU]

Der Tod von Jürgen Fuchs wurde immerhin – zehn Jahre danach – medial adäquat erwähnt, und die Ausstellung am Alex, gestaltet von der Havemann-Gesellschaft, mag sicher auch jüngere Interessenten finden. Aber insgesamt ist es zurzeit nicht einfach, die Vergangenheit in das politische Bewusstsein zurückzuholen.

Da liegt es doch nahe, dass Sie von der Linken möglicherweise sagen: Wir – Lederer, Liebich oder Pau – waren damals junge Pioniere oder bei der FDJ, das heißt, nicht beteiligt, und Herr Wechselberg und andere Westimplantate waren es ohnehin nicht.

[Dr. Gabriele Hiller (Linksfraktion): Frau Merkel!]

Die ist, soweit ich weiß, glücklicherweise noch nicht in Ihrer Partei. – Bedauerlich ist der Umgang der SED damals – so können Sie argumentieren – mit jenen Wahlen, jenem Zwang, jener Einschüchterung, jenen Sanktionen für Nichtwähler, der Wahlfälscherei, der Bestrafung von Aufrufen und Eingaben. Sie waren in der Tat nicht dabei, aber Ihre Partei war es.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Die haben Sie zwar ein paar Mal umbenannt, aber die Verantwortlichen von damals, wie Gysi und Bisky, sind nach wie vor an Ihrer Tete. Ein prominenter Wahlfälscher von damals, Herr Modrow, ist sogar Ihr Ehrenvorsitzender. Wie verträgt sich das mit Ihrer Zustimmung zu dem Antrag im Kulturausschuss? Wie verträgt sich Ihre Zustimmung zum Beispiel mit Ihrer Weigerung, die DDR

einen Unrechtsstaat zu nennen? Hier besteht Aufklärungsbedarf. Sie haben nachher die Gelegenheit dazu.

Ich will mich nicht aufs hohe Ross setzen.

[Martina Michels (Linksfraktion): Ach!]

Ich hatte das Glück, in einer freien Gesellschaft aufzuwachsen, aber das entlastet Sie nicht. Ich stelle hier nur Fragen. Die politische Verantwortung bleibt bei Ihnen. Nutzen Sie deshalb die Chance, in dieser Debatte einen Unrechtsstaat auch als solchen zu bezeichnen! Entschuldigen Sie sich bei denen, die Sie jahrzehntelang zu einer Scheinwahl gepresst und um eine wirkliche Wahl betrogen haben!

[Beifall bei der CDU]

Auch Sie profitieren ja seit zwanzig Jahren von diesem, von den Bürgerrechtlern erkämpften Wahlrecht.

Meiner Fraktion ist es ein tiefes Bedürfnis, den Ostdeutschen für ihren Mut und ihre Streitbarkeit zu danken. Jener 7. Mai 1989 reiht sich in der Tat in die Daten 9. Oktober und 9. November ein, die wir in diesem Jubiläumsjahr zu recht begehen. Deshalb unser Ja zu diesem Antrag! – Vielen Dank!

[Beifall bei der CDU und den Grünen – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Danke schön, Herr Kollege Dr. Lehmann-Brauns! – Für die Linksfraktion hat nun Frau Seelig das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es, nachdem im Kulturausschuss ein Antrag gemeinsam von allen Fraktionen verabschiedet wurde, bedauerlich, dass jetzt versucht wird, wieder eine Kluft aufzumachen. Unserer besonderen Verantwortung sind wir uns durchaus bewusst.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Der Begriff des Unrechtsstaates, das sage ich Ihnen ganz ehrlich, ist für mich keine politische Kategorie. Ich nenne das, was da an Staat vorhanden war, schlicht Diktatur.

[Dr. Uwe Lehmann-Brauns (CDU): Damit bin ich zufrieden!]

Es geht aber nicht um Ihre Zufriedenheit. – Ich befinde mich mit dieser Meinung in guter Gesellschaft in meiner Partei.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Das Problem, das wir mit dem langen Antrag der Grünen – dem ich im Wesentliche folgen kann – hatten, liegt in dem, was Sie, Herr Otto, benannt haben: Da war einmal die Frage des Flade-Schauprozesses. Das ist klar, aber man muss eine Geschichte immer zu Ende erzählen.

Natürlich waren auch einige Dinge falsch formuliert, beispielsweise wenn Sie sagen, vom Anfang bis zum Ende habe es keine Freiheit gegeben. Es gab 1990 noch eine freie Wahl, die ohne Wahlmanipulationen stattfand. Das war die erste und letzte freie Wahl zur Volkskammer der DDR. Darauf lege ich großen Wert, weil das ein wichtiger Schritt war, unabhängig davon, wie es nachher weiterging und ob manche einen dritten Weg mit einer anders gestalteten DDR wollten und andere, das war die Mehrheit, wollten die Wiedervereinigung. Entscheidend ist: Es hat zum Ende der DDR diese freien Wahlen noch gegeben. – Es besteht immer das Problem: Wenn man versucht, Geschichte in einem so langen Antrag zu formulieren, dann kann er nur noch unendlich länger werden, wenn man sehr genau sein will.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass auch Linke in der Stiftung Aufarbeitung mitarbeiten und es gerade in diesem Gedenkjahr dort hervorragendes didaktisches Material gibt, das besonders für Schulen geeignet ist.

Die Erinnerung an die erstmals nachgewiesen gefälschten Kommunalwahlen und der Protest dagegen sind aus unserer Sicht tatsächlich ein Meilenstein auf dem Weg zur friedlichen Revolution. Natürlich war jedem DDR-Bürger klar, dass es keine freien und geheimen Wahlen in diesem Land gab. Die Einheitsliste stand fest. Wir haben selbst zuhause bei jeder Wahl überlegt, ob wir es uns antun, hinzugehen, die meist einzige Wahlkabine zu betreten und unter den misstrauischen und missmutigen Augen der Wahlvorstände jeden Namen einzeln durchzustreichen. Das haben wir nur ein paar Mal gemacht. Die anderen Male haben wir versucht, diesem Prozess aus dem Weg zu gehen, indem wir weggefahren sind. Dadurch konnte man uns auch nicht an der Haustür belästigen, um uns zum Wählen zu drängen. Aber das hat immer Überwindung gekostet. Das muss ich ehrlich sagen.

Dass es engagierten Menschen aus der Opposition, insbesondere in Berlin, gelungen ist, beispielhaft am überschaubaren Bezirk Weißensee nachzuweisen, dass – zusätzlich zu den üblichen Mechanismen – auch noch die ohnehin horrenden Ja-Stimmen nach oben manipuliert wurden, brachte das Fass zum Überlaufen. Es gab im Vorfeld den Versuch oppositioneller Gruppen, eigene Kandidaten auf der Liste der Nationalen Front unterzubringen, aber offensichtlich waren die Machthaber nicht mehr in der Lage, die Zeichen der Zeit zu erkennen und Zugeständnisse wie in den Nachbarländern zu machen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs gab es einen Boykottaufruf, der übrigens unter den Oppositionskräften ziemlich umstritten war. Doch die Idee der lückenlosen Wahlbeobachtung – hauptsächlich in einem Bezirk – war genial und brachte mehr zum Wanken, als sich die Wahlfälscher damals ausmalen konnten. Im Übrigen war Wahlfälschung auch in der DDR ein Straftatbestand, und das hat in der Folge der Proteste und Demonstrationen auch viele SED-Genossen zum Nachdenken gebracht.

Am Abend des 7. Oktobers gab es einen Auszählungsstützpunkt in der Stephanus-Stiftung und einen von uns ironisch Wahlparty genannten Sammelpunkt für die Ergebnisse in der Kirche von Unten. Als Egon Krenz auf dem Bildschirm erschien und das Ergebnis 98,85 Prozent verkündete, ging – da muss ich Tom Sello vom Havemann-Archiv, dem Kurator der Gedenkausstellung auf dem Alex widersprechen – kein Ruf der Empörung durch den Saal, sondern eine große Heiterkeit, zwar mit Buh!Rufen und Pfiffen, aber die Freude, es denen gezeigt zu haben, überwog. Was folgte, ist bekannt: spontane Proteste, Verhaftungen, Eingaben und Strafanzeigen, regelmäßige Protestdemonstrationen am jeweils 7. der folgenden Monate. Es wurden immer mehr Menschen. Die Opposition war damit aus ihrer Isolation ausgebrochen. Auch immer mehr Mitglieder der SED wollten nicht mehr von einer Regierung bevormundet und getäuscht werden, die nicht einmal ihre eigenen Gesetze ernst nahm. Ich glaube, das war eine entscheidende Wende in der Geschichte der friedlichen Revolution in der DDR.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Danke schön, Frau Kollegin Seelig! – Herr von Lüdeke von der Fraktion der FDP hat nun das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag ist ein weiterer Beitrag zum Themenjahr „20 Jahre Mauerfall“. Nun ist eine gesellschaftliche Debatte hierüber aus Sicht der FDP zu begrüßen, aber das Bewusstsein, dass die DDR keine gescheiterte Utopie, sondern schlicht ein totalitärer Staat war, ist in Teilen unserer Gesellschaft deutlich unterentwickelt, und das Geschichtsbild der DDR wir zunehmen verklärt.

Diese Tendenz zur Verklärung negiert die unter existenzieller Bedrohung erkämpften bürgerlichen Rechte in der DDR, die zur Überwindung dieses totalitären Systems führten. Diesem Vergessen gilt es entgegenzuwirken.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der CDU]