Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe FDP! Als ich Ihren Antrag zum ersten Mal gelesen habe, habe ich gedacht, man hat Ihnen etwas in den Kaffee getan. Ihr Antrag atmet den Geist autoritärer Charaktere, wie sie Heinrich Mann nicht eindrucksvoller hätte beschreiben können.
Er beginnt mit dem Jubelduktus, der jede kritische Reflexion unterdrückt, und endet mit dem peinlichen Beschwören des Ansehens des Abgeordnetenhauses. Außerdem offenbart er ein beachtliches Maß an Geschichtslosigkeit.
Das Grundgesetz ist nicht vom Himmel gefallen, sondern es ist in Deutschland – um mit Sibylle Tönnies zu sprechen – von den Alliierten mittels eines Flächenbombardements eingeführt worden. Was war die frühe Bundesrepublik der 50er-Jahre? – Mief, Spießigkeit, Obrigkeitshörigkeit und selbstmitleidiges Wundenlecken.
Das Grundgesetz, das es heute gibt und das wir heute kennen, diese Verfassungsrealität ist Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Das ist bei weitem nicht nur eine Erfolgsgeschichte: die Rechtfertigung der Strafbarkeit einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Männern nach § 175 StGB, die Kommunistenverfolgung der 50er-Jahre, die Berufsverbotspraxis der 70erJahre, die Durchsetzung der Meinungsfreiheit bei der „Spiegel“-Affäre, die Durchsetzung der Notstandsverfassung, die Rechtfertigung der Strafbarkeit nach § 218 StGB aus Schutzpflichten, die sich angeblich aus Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 2 ergeben würden,
die Konstruktion eines „Grundrechts auf Sicherheit“, das gegen andere Grundrechte als subjektive Abwehrrechte der Individuen in Stellung zu bringen wäre, die Diskussion um ein „Feindstrafrecht“, die Aufweichung des Folterverbots, der Ausbau des präventiven Sicherheitsstaats als solchen.
Keinen autoritären, sondern wirklichen Charakter hatte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, als sie damals gegen die Schleifung des Artikels 13 mit Hilfe der FDP aufbegehrt hat und zurückgetreten ist.
Onlinedurchsuchungen, Vorratsdatenspeicherung, Terrorcamp-Gesetze, das trübt bei aller Freude über das Erreichte die Feierstimmung ein bisschen, finde ich.
Das Auseinanderklaffen von Arm und Reich, die massive Verarmung großer Teile der Bevölkerung bei zunehmend weniger Superreichen – Artikel 20, Sozialstaatsgebot?
Die Selbstentmachtung des Staates durch Privatisierung – Artikel 20, Demokratiegebot? Die Aushöhlung des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des EURechts...
Ja, das Grundgesetz steht auch für beachtliche Freiheitsfortschritte. Was erreicht wurde, wurde in der Regel gegen die jeweils Herrschenden erreicht, war das Ergebnis von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Opposition und Widerspruch sind Lebenselixier jeder Demokratie und eines lebendigen Verfassungslebens.
Dies antizipierend ist das Grundgesetz in der Tat Grundlage einer freiheitlich-demokratischen Ordnung!
[Christoph Meyer (FDP): Lassen Sie mal schön Ihre Maske fallen! – Ramona Pop (Grüne): Sie haben sich Ihrer Parteibasis aber schon angenähert!]
Deswegen gefallen mir Meinungsfreiheit, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, Versammlungsfreiheit ausnehmend gut.
Die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren der freiheitlichen Demokratie …
Nur die freie öffentliche Diskussion über die Gegenstände von allgemeiner Bedeutung sichert die freie Bildung der öffentlichen Meinung … ‚pluralistisch’ im Widerstreit verschiedener und aus verschiedenen Motiven vertretener, aber jedenfalls in Freiheit vorgetragener Auffassungen, vor allem in Rede und Gegenrede …
Artikel 38 Absatz 1 Satz 2: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Pluralismus und Widerstreit dürfen sich durchaus auch im Parlament widerspiegeln. Das genießt Grundrechtsschutz!
Man muss nicht wie Sie von der FDP das Grundgesetz so apologetisch bejubeln, man kann durchaus eine differenzierende Sicht haben. Man darf auch der Ansicht sein, dass die Ende-der-Geschichte-Jubelfeiern der vergangenen Woche der Verfassungsrealität gemessen am Grundgesetzmenschenbild nicht in jeder Hinsicht gerecht werden. Man darf sich über Ihren Versuch schämen, die Gesellschaft in schlichter Unbedarftheit in die Welt der bedingungslosen Verfassungsbejubler und die der gnadenlosen Verfassungsfeinde zu scheiden.
Mir ist jedenfalls eine aufrechte Verfassungs- und Rechtsstaatsgesinnung lieber als die billige Instrumentalisierung des zweifelsohne beachtlichen 60. Jahrestags des Grundgesetzes für Ihr dummes Spiel hier.
Das Schöne an Artikel 5 und 8 Grundgesetz ist, dass in unserem Land jede und jeder für alles Mögliche auf die Straße gehen darf, ohne sich vorher damit der Gesinnungsprüfung der FDP-Fraktion oder der Parlamentsmehrheit unterwerfen zu müssen. Diese schlichte Schönheit des Grundgesetzes hat offenbar die unter der Schädeldecke der FDP-Fraktionsmitglieder gelegenen Regionen noch nicht erreicht. Aber sie ist der Kern von Freiheit, die Sie in Ihrem Antrag zur nichtssagenden Schwatzfloskel einer Sonntagsrede haben verkommen lassen.
Missbilligung von Abgeordneten hier in diesem Parlament – was glauben Sie, wo leben wir denn eigentlich?
Wir sind hier doch nicht in einem Kulturplenum des Zentralkomitees der SED, aber das scheinen Sie zu glauben. Burkhard Hirsch und Gerhard Baum würden sich peinlich berührt abwenden, wenn Sie dieses Spiel von Ihnen hier erleben würden.
Ich habe mir den Aufruf der inkriminierten Demonstration angeschaut. Dort steht viel Zeugs drin, aber dass er sich gegen die Verfassung richten würde – und final das –, kann man ihm nur mit sehr viel Fantasie entnehmen, über die die FDP offenbar verfügt. Was eine „passive Teilnahme“ ist, müssen Sie mir bei Gelegenheit auch einmal erklären. – Vielen Dank!