Protokoll der Sitzung vom 01.07.2010

[Beifall bei der CDU]

Das Wort für die Linksfraktion hat der Abgeordnete Dr. Zotl. – Bitte!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast genau vor fünf Jahren, nämlich am 16. Juni 2005, wurden nach Jahrzehnten des Verbots in Berlin endlich bezirkliche Bürgerbegehren und Bürgerentscheide eingeführt. Bis heute – bundesweit einmalig – wurden Vertretungs- und direkte Demokratie völlig gleichgestellt. Durch die niedrigen Quoren, durch das Prinzip der einfachen Mehrheitsentscheidung, durch den Verzicht auf Ausschlussgründe und durch bürgerfreundliche Verfahren wird die Bevölkerung ermuntert, Entscheidungen in die eigene Hand zu nehmen.

[Zuruf von Benedikt Lux (Grüne)]

Ein Jahr später, am 17. September 2006, wurden per Volksentscheid ähnliche bürgerfreundliche Regelungen für landesweite Volksbegehren und Volksentscheide in Kraft gesetzt. Im Ranking von Mehr Demokratie e. V. liegt Berlin seitdem ganz vorn, nachdem unser Bundesland jahrzehntelang den letzten Platz besetzt hatte. Auch bei der Nutzung der direkten Demokratie ist Berlin an der Spitze. Bis heute – also nur fünf bzw. im Falle der landesweiten Volksentscheide sogar nur vier Jahre nach Inkrafttreten dieser plebiszitären Möglichkeiten – gab es über 30 bezirkliche und fast 15 landesweite direktdemokratische Initiativen.

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Dr. Fritz Felgentreu (SPD)]

Hinsichtlich der direkten Demokratie sind wir also sowohl formal vom Gesetzestext her als auch real von der Inanspruchnahme her führend.

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Dr. Fritz Felgentreu (SPD)]

Jetzt liegen Erfahrungen vor, wo unsere bürgernahen Regelungen noch zu kompliziert, zu uneindeutig und auch – das ist schon angesprochen worden, vor allem vom Kollegen Dr. Felgentreu – ein wenig zu vertrauensselig sind. Um das abzustellen, haben Ihnen die Koalitionsfraktionen heute in zweiter Lesung Änderungen für die Plebiszite auf Landesebene und in erster Lesung für die Plebiszite auf Bezirksebene vorgelegt. Wir bedanken uns bereits jetzt bei allen unseren Gesprächspartnern, mit denen wir im vergangenen Jahr Gespräche geführt haben, um die jetzigen Regelungen zu evaluieren. Und um zwei besonders hervorzuheben: bei der Arbeitsgemeinschaft der BVV-Vorsteherinnen und -Vorsteher und beim Verein „Mehr Demokratie“!

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Dr. Fritz Felgentreu (SPD)]

Und natürlich auch beim Wissenschaftlichen Parlamentsdienst – Kollege Gram, da haben Sie völlig recht –, der in ungewöhnlicher Schnelle sowie in gewohnter Gründlichkeit ein Gutachten vorgelegt hat!

Ich möchte auf drei Dinge eingehen: Erstens wollen wir Spendentransparenz. Es hat sich gezeigt – das ist hier schon gesagt worden –, dass so manche plebiszitäre Initiative von finanziell potenten Unternehmen, Organisationen und auch Medien umfassend unterstützt – um nicht zu sagen: auch gekauft – wurden. Man erhofft sich eben mithilfe der Plebiszite die Realisierung eigener kommerzieller oder auch politischer Ziele. Das ist nicht verboten, und das soll auch keinem – bis auf Abgeordnetenhaus- und BVV-Fraktionen bzw. Betrieben mit einer Landesbeteiligung ab 25 Prozent – verboten werden. Aber die Bevölkerung soll genau wissen, mit wem sie, wie die „taz“ heute schrieb, bei einem positiven Votum gemeinsam in einem Boot sitzt.

Zweitens geht es um größere Rechtssicherheit hinsichtlich der Zulässigkeit und Bindungswirkung eines beabsichtigten Volks- bzw. Bürgerentscheids. So muss der Senat künftig das Verfassungsgericht anrufen, wenn er ein landesweites Plebiszit für nicht zulässig bzw. nicht bindend ansieht. Damit befreien wir ihn auch aus der fatalen Doppelrolle, einerseits Entscheidungsinstanz und andererseits Verfahrenspartner sein zu müssen. Damit befreien wir ihn auch vom Vorwurf einer Willkürentscheidung.

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Dr. Fritz Felgentreu (SPD)]

Bei bezirklichen Bürgerentscheiden war häufig die Enttäuschung groß, wenn ein erfolgreiches Plebiszit am Ende nur empfehlenden Charakter hatte. Jetzt verpflichten wir alle Beteiligten, von der ersten Unterschriftensammlung an immer wieder auf die Bindungskraft hinzuweisen. Dadurch soll jede Unterschrift und jede Stimme – und zwar von Anfang an – im vollen Bewusstsein gegeben werden, welche reale Bindungswirkung vorliegt.

Den Vorschlag der Fraktion der Grünen, in einer Pauschalformulierung den Bezirksverordnetenversammlungen quasi eine Allzuständigkeit für alle bezirklichen Angelegenheiten zu übertragen und so mehr verbindliche Bürgerentscheide zu ermöglichen, halten wir für irreführend.

[Benedikt Lux (Grüne): Seit wann?]

Denn viele scheinbar bezirkliche Angelegenheiten haben in der Einheitsgemeinde Berlin auch eine gesamtstädtische Dimension bzw. werden von Landes- und Bundesrecht bestimmt. Außerbezirkliche Gremien kann eine BVV nicht binden, und höheres Recht kann sie nicht außer Kraft setzen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Herr Kollege! Bitte kommen Sie zum Schluss!

Ich bin sofort fertig. – Auch der Hinweis auf Hamburg, wonach die Bezirksversammlungen dort eine solche Allzuständigkeit hätten, führt in die Irre, denn die bezirklichen Zuständigkeiten in Hamburg sind nicht im Ansatz mit denen in Berlin zu vergleichen. Sie sind viel geringfügiger. Wir sind dafür, die bezirklichen Zuständigkeiten auszubauen, aber ausschließlich über eine Ausweitung des Katalogs, der in § 12 des Bezirksverwaltungsgesetzes gegeben ist.

Vielen Dank, Herr Kollege!

Und dann haben wir eine Reihe von Klarstellungen, auf die schon hingewiesen worden ist. Wir bitten um Zustimmung in beiden Fällen – in der ersten und in der zweiten Lesung. – Danke!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Herr Abgeordneter Lux hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. – Bitte!

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die vorgelegten Gesetzesänderungsanträge sind ein Zeichen von rot-rotem Zaudern, von Reformmüdigkeit und in Teilen auch von Misstrauen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und von Misstrauen gegenüber den Bezirken. Insofern ist es erstaunlich, dass die SPD die Besprechung zu diesen Gesetzesänderungen zur Priorität gemacht hat, aber wir wollen uns dem gern stellen.

Die erste Einbringung zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes ist erforderlich, weil dort im Gesetz selbst steht, dass wir die Änderungen bei Einwohneranträgen und bei der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger evaluieren – übrigens bis zum 1. Januar 2010. Das ist nun ein halbes Jahr her. Es wird hier also mit etwa einem Jahr Verzug evaluiert. Auch das ist ein Zeichen, wie unernst und ohne Feuer die rot-rote Koalition die direkte Demokratie letztendlich sieht.

[Beifall bei den Grünen – Beifall von Henner Schmidt (FDP)]

Der Dank geht zu Recht an diejenigen, die sich von Anfang an an der Debatte beteiligt haben. Das ist die Arbeitsgemeinschaft der BVV-Vorsteher und -Vorsteherinnen, das ist Mehr Demokratie e. V., und das betrifft auch

einen Antrag meiner Fraktion zur Stärkung des bezirklichen Selbstverwaltungsrechts.

Und der Kollege von der Linkspartei hat ja gerade eingebracht, wie gerne in Berlin Volks- und Bürgerentscheide gemacht werden. Allerdings kenne ich von den 45 Initiativen nicht eine, der nicht Steine in den Weg gelegt worden sind – meistens vom Senat.

[Beifall bei den Grünen]

Es wurde zuletzt angesprochen, dass es nicht für zielführend gehalten wird, den Bezirksverordnetenversammlungen erst mal eine Allzuständigkeit in bezirklichen Angelegenheiten zu geben. Das ist durchaus richtig, denn momentan können Bezirksverordnetenversammlungen mit einem Rückholantrag, wenn das Bezirksamt ihrem Ersuchen nicht folgt, noch mal eine Entscheidung herbeiführen. Es ist also ein zweistufiges Verfahren vorgesehen bei der Bezirksverordnetenversammlung. Das können aber zweckgemäß Bürgerentscheide nicht vornehmen, die zuerst auf ein Ersuchen gehen und dann möglicherweise auf einen Rückholantrag, was originäres Recht einer BVV ist. Insofern haben Sie da einen sachlichen Kurzschluss geleistet. Es wäre konsequent, die BVV erst mal allzuständig zu machen; ausgenommen sind immer noch Ordnungsaufgaben und ureigene Aufgaben des Bezirksamts. Also, da vertut man sich gar nichts. Und man stärkt in Folge die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrer Entscheidung daran anknüpfen, was Bezirksverordnetenversammlungen dürfen. Deswegen wäre es richtig gewesen und auch der nötige Schritt, diese Reform anzugehen. Das fehlt in Ihrem Antrag. Deswegen wird er voraussichtlich unsere Zustimmung nicht erhalten.

[Beifall bei den Grünen]

Sie wollen ja Transparenz, die wollen wir auch. Wir wollen auch, dass die Spenden aufgedeckt werden. Allerdings, hier wird so viel geredet, vom Verfassungsgerichtshof bis hin zur SPD und auch zur Linken, dass das gleichlautend sein soll mit den Parteien und der repräsentativen Demokratie und der direkten Demokratie auf der anderen Seite. Ich stelle fest, dass Parteien Spenden erst ab einer Höhe von 10 000 Euro anzeigen müssen, Bürgerinitiativen und Volksbegehren allerdings ab 5 000 Euro. Und auch die Adressen von Spenderinnen und Spendern werden veröffentlicht. Nun ist nicht jeder, der mehr als 5 000 Euro spendet, ein Großmogul. Vielleicht legt er auch Wert auf seine Meldeanschrift, und es ist ein datenschutzrechtlicher Eingriff, der hier gar nicht diskutiert oder von ihnen berücksichtigt worden ist. Da ist der Abschreckungscharakter. Sie wollen Bürgerinitiativen sagen, dass Sie hart zugreifen und übrigens auch im Wege von eidesstattlichen Versicherungen eine Strafbarkeit begründen, wenn falsche Angaben – übrigens auch nur fahrlässig falsche Angaben – in sehr komplizierten Sachverhalten gemacht werden. Denn wie viel nun z. B. Sachspenden wert sind – wenn man das fahrlässig falsch schätzt, dann macht man sich strafbar, und das kann wohl nicht der Sinn von mehr direkter Demokratie und von direkter Demokratie auf Augenhöhe sein.

[Beifall bei den Grünen]

Wer sich für das Gemeinwohl einsetzt und Bürgerbegehren und Volksentscheide möglich macht, der hat nach Auffassung meiner Fraktion auch eine staatliche Unterstützung verdient. Und, so wie es in vielen anderen Bundesländern Praxis ist: Es geht da um geringe Beträge, die für Unterschriften geleistet werden können. Hier fehlt jegliche Bereitschaft der Koalition, einen wichtigen Schritt zu machen. Auch das dient nicht der direkten Demokratie.

Noch mal zu dem Argument von Herrn Felgentreu, man schaffe Rechtssicherheit, indem man eine Vorabprüfung des Verfassungsgerichtshofs einführt: Da mag etwas dran sein, aber dies steht in starker Abwägung zum Selbstbestimmungsrecht der Initiativen selbst. Wir vertrauen den Bürgerinnen und Bürgern, dass sie schlau genug und gut vorbereitet genug sind, rechtssichere Volksbegehren zu machen. Und was Sie hier machen, ist, dass Sie Ihre falsche Entscheidung, die Bürgerinnen und Bürger auszusperren, im Nachhinein heilen. Und das hat einen Geschmack. Deswegen werden wir Ihr Bürgermisstrauensgesetz insgesamt nicht unterstützen.

[Beifall bei den Grünen]

Vielen Dank, Herr Lux! – Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Schmidt.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Da ist eine ganze Reihe von Punkten in diesen Gesetzentwürfen. Deshalb möchte ich zunächst aus Sicht der FDP-Fraktion die Perspektive herstellen. Wir wollen zuerst einmal eine klare Aufgabentrennung zwischen Bezirken und Senat. Und wir wollen eine definitive Endzuständigkeit der Bezirke für einen großen Katalog noch zu definierender Themen. Denn nur dann können bezirkliche Bürgerbegehren überhaupt verbindlich durchgeführt werden.

[Beifall bei der FDP]

Bezirkliche Bürgerbegehren und Volksbegehren müssen zudem durch übersichtliche und verständliche Verfahren erleichtert werden, unnötige und abschreckende Hürden in Verfahren müssen abgesenkt werden. Das ist der Gesamtzusammenhang. Deshalb gilt: Das vorliegende Gesetz zur Änderung des Bezirksverwaltungsgesetzes wird an den grundsätzlichen Strukturen nichts ändern. Es wird nichts ändern an der Ohnmacht von BVVen und bezirklichen Bürgerbegehren, weil es sich mit diesem Thema ja gar nicht beschäftigen will. Und das vorliegende Abstimmungsgesetz weist aus unserer Sicht immer noch zu komplizierte Verfahren und damit auch zu hohe Hürden für Volksabstimmungen auf. Wir als FDP wollen Volksabstimmungen und Bürgerbegehren erleichtern. Deshalb

müssten eigentlich beide Gesetzentwürfe aus unserer Sicht dringend verändert werden.

[Beifall bei der FDP]

Zum ersten Thema – BVV-Arbeit: Diese kleinen Verbesserungen, die da drinstehen, halten wir grundsätzlich für begrüßenswert. Die Einwohnerfragestunde hat sich ausgesprochen bewährt. Es ist gut, dass es jetzt eine Sollbestimmung wird. Auch die Senkung der Hürden für den Einwohnerantrag ist richtig. Aber dieser Teil löst die grundsätzlichen Probleme nicht. Er verbessert aber immerhin die Arbeit der BVVen und ist deshalb akzeptabel.

Viel schwieriger ist der ganze Komplex bezirkliche Bürgerbegehren. Richtig ist, dort das Beteiligungsquorum durch ein Zustimmungsquorum zu ersetzen. Es ist ja einfach nicht nachvollziehbar, dass Leute aus taktischen Gründen nicht zur Abstimmung gehen, weil sie wissen, dass sie, wenn sie mit Nein stimmen, eher ein kontroverses Verfahren durchbringen, als wenn sie überhaupt nicht hingehen. Das ist absurd, und deshalb ist es gut, dass das aufgehoben wird. Das Problem aber der fehlenden Bindungswirkung der bezirklichen Bürgerentscheide bleibt bestehen. Herr Dr. Zotl! Ja, im Gesetz steht jetzt, dass die Bürger darauf hingewiesen werden. Das heißt, es wird jetzt bei 99 Prozent aller Bürgerbegehren stehen: Liebe Bürger! Wir weisen euch darauf hin, das ist rechtlich nicht verbindlich, was ihr da beschließt. – Das ist der Erfolg dessen, was Sie vorschlagen. Statt aber den Bürgern zu erzählen, warum ihre Begehren nicht verbindlich sind, sollten Sie endlich mal etwas dafür tun, dass mehr bezirkliche Bürgerbegehren verbindlich werden.

[Beifall bei der FDP und den Grünen]

Auch seltsam ist, dass die Senatsverwaltung grundsätzlich darüber entscheiden soll, ob bezirkliche Bürgerbegehren zulässig sind. Ich verstehe das, wenn das Bezirksamt sich nicht einig ist. Aber es ist eine bezirkliche Angelegenheit. Ich verstehe nicht die Mitwirkung der Senatsverwaltung an dieser Stelle. Ich halte das für eine zusätzliche Hürde, die ich nicht nachvollziehen kann.

Das dritte Thema – Volksabstimmung: Beide Gesetzentwürfe haben ähnliche Probleme. Wir können nicht so genau nachvollziehen, wozu die handschriftliche Eintragung des Geburtsdatums nötig sein soll. Wir halten die eidesstattliche Erklärung der Vertauensperson über die Spenden für eine sehr hohe Hürde und sehen darin eine Gefahr, dass es dazu kommt, dass Vertrauenspersonen kriminalisiert werden. Es handelt sich hier ja nicht um Parteiapparate, sondern um normale Bürgerinnen und Bürger, die eben nicht diese gesamte Sicherheit haben und von denen wir trotzdem wollen, dass sie solche Verfahren initiieren. Wir denken, dass die eidesstattliche Erklärungspflicht zu hoch und zu abschreckend ist.

[Beifall bei der FDP]