Protokoll der Sitzung vom 07.10.2010

[Zuruf von Burgunde Grosse (SPD)]

Meine Herren von Rot-Rot! Meine Damen von Rot-Rot! Sie wollten schon nicht die Chance der Optionskommunen ergreifen, offensichtlich trauen Sie sich das nicht zu! Jetzt sind Sie gefordert, die Umsetzung mit eigenen arbeitsmarktpolitischen Akzenten zu verknüpfen. Bisher scheint es Ihnen genug zu sein, dass es bei zwölf Einrichtungen bleibt und in allen Gremien Vertreter des Senats sitzen können. Wenn Sie, Frau Senatorin, schon keine arbeitsmarktpolitischen Akzente setzen wollen, dann sollten Sie wenigstens den Service für die Kunden verbessern. Einheitliche Öffnungszeiten sichern, Fallmanager müssen telefonisch erreichbar sein,

[Zuruf von Burgunde Grosse (SPD)]

und die Organisation muss sich verbessern. Vor allem: Verstecken Sie sich nicht immer hinter dem Bund!

[Beifall bei der FDP]

Frau Senftleben! Sie sind am Ende Ihrer Redezeit!

Es ist jetzt verfassungsrechtlich abgesegnet, dass Bund und Kommunen die Arbeit gemeinsam erledigen. Tragen Sie Ihren Beitrag dazu bei! – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank! – Das Wort für den Senat hat nun Frau Senatorin Bluhm.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sichert jedem Hilfebedürftigen ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. So formuliert es das Gesetz. Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben? – Das heißt, zum menschenwürdigen Leben gehören nicht nur Essen, Kleidung, Wohnung, Körperpflege, sondern eben auch Medien, Mobilität, Kultur, Sport und Freizeit.

Was braucht der Mensch zum Leben? – Das ist die entscheidende Frage. Da erleben wir derzeit, wie die desaströse sozialpolitische Entwicklung der vergangenen Jahre mit anderen Vorzeichen in die Zukunft verlängert wird. Nun macht die Bundesregierung die Berechnung der Regelsätze zwar transparent – zumindest teilweise –, aber sie erfüllen deshalb noch lange nicht die Vorgaben, ein menschenwürdiges Leben zu sichern. Liebe Grüne, das sei gleich einmal an den Anfang gestellt: Ihr wart in der Bundesregierung mitverantwortlich dafür, dass für Kinder im Hartz-IV-Bezug null Euro für Bildung, Nachhilfe, Sport und Musikunterricht vorhanden waren.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Das ist einer der Hauptkritikpunkte des Bundesverfassungsgerichts gewesen. Das ist eine bittere Wahrheit, und ich hätte mir ausdrücklich gewünscht, diesen Punkt der Wahrheit heute der Debatte hinzuzufügen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Die Bundesregierung hat jetzt in die Berechnungen nur die allerniedrigsten Einkommen einbezogen, darunter auch Aufstocker, also Berufstätige, die zusätzlich zum Mindestlohn Hartz IV benötigen, um über die Runde zu kommen. Insgesamt sind das immerhin 1,3 Millionen Menschen von den erwerbsfähigen Hartz-IV-Beziehern, die einen solchen Aufstockerstatus haben. Aus Niedriglöhnen macht die Bundesregierung also Niedrigregelsätze. Dieser Zirkelschluss dürfte kaum den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechen, ein existenzwürdiges und -sicherndes Existenzminimum darzustellen und dafür

zu sorgen. Das werden wir genau prüfen, darauf wird es ankommen.

Der Verdacht liegt vielmehr nahe, dass man bei den Regelsätzen so lange hin und her gerechnet hat, bis für Erwachsene eine minimale Erhöhung herauskam, die nicht einmal die Preissteigerungsrate der vergangenen Jahre abdeckt. Geld zum Ansparen für Waschmaschine, Fahrrad oder Kühlschrank ist nicht erkennbar. Neben Zigaretten und Alkohol sind auch die Mittel für Schnittblumen und chemische Reinigung von Kleidung gestrichen. Und für die Praxisgebühr: 2,64 Euro im Monat! Ich bitte Sie, das einmal nachzurechnen.

Das Menschenbild, das hier zum Ausdruck kommt, lässt doch schaudern! Man traut den Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfängern nicht über den Weg, und man traut ihnen nichts zu und schon gar nicht, mit Geld umzugehen. Diese Bevormundung machen wir nicht mit!

[Beifall bei der Linksfraktion – Beifall von Burgunde Grosse (SPD)]

Menschen, die von Hartz IV leben müssen, sind Menschen ohne Arbeit oder Menschen mit zu geringem Erwerbseinkommen. Das ist zunächst einmal alles!

Im Übrigen: Wer angesichts der rasanten Ausbreitung von Niedriglöhnen heute noch vom Lohnabstandsgebot spricht und verlangt, dass zwischen den niedrigsten Löhnen und einem verfassungsgemäßen Existenzminimum ein nennenswerter Abstand bestehen muss, wer diese Debatte angesichts von verbreiteten Stundenlöhnen von 3, 4 und 5 Euro heute noch führt, der hat die Realität dieses Landes nicht zur Kenntnis genommen.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Ohne flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn wird sich daran auch in absehbarer Zukunft nichts ändern. Die Bundesregierung verweigert beides, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn und bedarfsgerechte Regelsätze.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber vor allem aufgetragen, für Kinder eigene Regelsätze zu berechnen und sich dabei an dem zu orientieren, was Kinder zum Leben benötigen. Gutscheine oder Chipkarte sind dabei der falsche Weg, denn die Behauptung, dass Eltern die Bildung ihrer Kinder nicht am Herzen liegt und sie deshalb Gutscheine anstelle von Bargeld oder kostenfreien Angeboten bekommen sollen, ist zutiefst diskriminierend. Das machen wir nicht mit!

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Wir gehen in Berlin schon lange den Weg, mehr Mittel in die Bildungseinrichtungen zu geben, um damit für alle Kinder ein diskriminierungsfreies Angebot zu schaffen. Beispiele sind die Schul- und Kitareform, das kostengünstige Mittagessen, die gebührenfreie Kita und der Ganz

tagsbetrieb in sehr vielen Bildungsinstitutionen. Wir benötigen ein Bildungssystem, das diese Selektion nach dem Einkommen der Eltern beendet, das auch gerade die integriert, die aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien kommen. Wir nehmen gern Geld vom Bund, um die Infrastruktur für Bildungs-, Sport-, Freizeit- und Kulturlandschaft aufzubauen und zu stabilisieren, um weitere Zugänge eröffnen zu können, um zum Beispiel mehr Angebote in den Berlinpass aufnehmen zu können.

Allerdings werden wir die jetzt geplante Finanzierung blockieren, denn die Bundesregierung will die zusätzlichen Bildungsausgaben für Kinder aus dem Eingliederungstitel für Langzeitarbeitslose finanzieren. Das bedeutet, dass sie das Geld von der einen Seite des Schreibtisches nehmen will, wo der Fallmanager gerade dem Hartz-IV-Empfangenden eine Weiterbildung nicht gewährt, um das Geld auf die andere Seite des Tisches zu packen und dem Kind der Hartz-IV-Empfängerinnen und -empfänger einen Zuschuss von – wie wir seit gestern wissen – etwa 10 Euro für den Musikunterricht zu gewähren. Das heißt, die Arbeitslosen sollen die Zusatzleistung für ihre Kinder durch Verzicht auf eigene Maßnahmen zur Reintegration in den Arbeitsmarkt selbst finanzieren. Auch das geht auf gar keinen Fall, jedenfalls nicht mit uns!

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Lassen Sie mich zum zweiten Punkt dieser Aktuellen Stunde kommen, der Neuordnung der Jobcenter. Nach monatelangem politischen Gezerre bei der CDU/CSUFraktion im Bundestag hat die Bundesregierung im Sommer einen Gesetzentwurf vorgelegt – wohlgemerkt am 4. August 2010. Im Übrigen sind wir das erste Bundesland, das einen Kabinettsbeschluss zum Ausführungsgesetz des SGB II vorgelegt hat. Letzte Woche hat er auch den Senat passiert. Also können wir nicht Schlusslicht sein, sondern wir sind die Ersten.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

In der Tat stellt das den Senat, aber auch Sie als Abgeordnete vor enorme Herausforderungen. Wir müssen gemeinsam das Ausführungsgesetz des Landes zum SGB II in nur drei Monaten durch die parlamentarische Beratung bringen. Das werden wir schaffen, und ich möchte mich an dieser Stelle für die konstruktive Debatte in unserem Fachausschuss, und zwar durch Abgeordnete aller Fraktionen, bedanken.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Mit der Änderung des SGB II ist die organisatorische Grundstruktur der Jobcenter erstmals gesetzlich und nicht über Verträge oder Rahmenvereinbarungen geregelt. Erstmals sind auch die Einflussmöglichkeiten und die Mitspracherechte der Länder im Gesetz verankert. Aber sie sind ebenso begrenzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer das Gesetz nicht anerkennt und die Grenzen nicht ebenso zur Kenntnis nimmt, erweist sich als nicht politikfähig. Es steht uns mitnichten frei, selbst über den

Einfluss des Landes auf die Arbeitsmarktpolitik zu entscheiden, wie Sie heute behauptet haben.

[Clara Herrmann (Grüne): Wenn Sie das wollen, hätten Sie das selbst machen sollen! – Zuruf von Ramona Pop (Grüne)]

Das Gesetz legt ganz klar die Grenzen fest. Die Organisation und Ausgestaltung der Arbeit in den Jobcentern hat der Bundesgesetzgeber im Wesentlichen selbst im SGB II geregelt – mit allen fachaufsichtlichen Fragen.

Die einzige Variante, für das Land noch mehr Einfluss zu gewinnen, wäre gewesen, eine einzige Einrichtung berlinweit zu schaffen und damit den Einfluss der Bezirke nahe null zu bringen.

[Ramona Pop (Grüne): Tun Sie doch jetzt auch schon!]

Ich habe jetzt gehört, dass die Grünen, nachdem sie zwischenzeitlich für die Option votiert hatten, sich jetzt für die Ein-Jobcenter-Variante ausgesprochen haben. Da wäre der Einfluss der Bezirk aber gleich null. Immer den Einfluss der Bezirke einzuklagen, sich aber gleichzeitig für ein Modell zu entscheiden, das diesen Einfluss gleich null setzt, scheint mir nicht kompatibel.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD – Uwe Doering (Linksfraktion): So sind sie aber!]

Genau das wollen wir nicht. Wir schaffen jetzt beides: die gesamtstädtischen Belange in der Arbeitsmarktpolitik, soweit wir das nach dem Bundesgesetz können, und gleichzeitig die Erfahrung der Bezirke bei den sozialen Leistungen einbeziehen! Die werden für Lebensqualität und Existenzsicherung eines großen Teils der Berlinerinnen und Berliner sehr wichtig.

In Berlin wird es also zwölf sogenannte gemeinsame Einrichtungen – also Jobcenter – geben, in denen die Bundesagentur für Arbeit und der kommunale Träger Berlin die Arbeitssuchenden gemeinsam betreuen. In den zwölf Trägerversammlungen der Jobcenter vertreten künftig sowohl Personen aus der Bezirksverwaltung als auch aus der Hauptverwaltung die Interessen des Landes. Auch das ist eine Novum. Berlin hatte als Land dort bisher keine Stimme. Hinzuzufügen ist auch, dass den Trägerversammlungen deutlich mehr Einflussnahme ermöglicht wird.

Jetzt ist von Ihnen – und auch von den Bezirken – die Kritik gekommen, sie seien nicht einbezogen. Ich finde, man muss mit diesem Vorwurf vorsichtig umgehen und sich die Realität genauer anschauen. Wir hatten längst mit den Vorarbeiten begonnen, als das Bundesgesetz noch gar nicht fertig war. Wir haben im gesamten letzten Jahr drei Arbeitsgruppen ins Leben gerufen und darin gearbeitet – mit Senatsvertretern, mit Vertretern der Personalräte des Landes und des Bundes, der Regionaldirektion und selbstverständlich auch mit den Bezirken. Dort hat jeder die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Aber noch besser ist es, nicht Fragen zu stellen, sondern konstruktive Vorschläge zur Umsetzung zu machen – wie nämlich in der

Zweistufigkeit der Verwaltung die Interessen des Landes abgebildet werden und die bezirklichen Interessen nicht hinten anstehen müssen. Wenn jetzt – und das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Arbeitsgruppe und Frontalunterricht – der Ausschuss des Rates der Bürgermeister erstmalig darstellt, was er nicht will – mir liegt bis heute kein Vorschlag vor, wie es alternativ gehen soll –, dann muss ich sagen: Bei einem so kleinen Zeitfenster und nach andererseits monatelangen Debatten kann man dies erwarten: konkrete Gegenvorschläge, mit denen man sich dann auch auseinandersetzen kann!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Mir ist zum Ende meiner Rede wichtig, sowohl den Beschäftigten in den Jobcentern als auch den Betroffenen deutlich zu sagen: Am 1. Januar des nächsten Jahres arbeiten die Jobcenter in ihrer neuen Struktur. Die Leistungen werden aus einer Hand erbracht. Dafür wird der Senat sorgen. Das ist harte Arbeit für alle. Aber von Chaos zu sprechen, das ist lächerlich.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Das Wort für die Fraktion der Grünen hat Kollegin Herrmann mit einer Redezeit von fünf Minuten und 21 Sekunden. Wir passen genau auf. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier von einer langweiligen Debatte zu sprechen, wie es die FDP getan hat, finde ich schon sehr zynisch.

[Björn Jotzo (FDP): Das ist noch eine Untertreibung!]