Sie geben diese Kinder auf. Sie stellen sich hier hin und sagen: Es geht um Prävention und um nichts anderes.
Ja, es geht um Prävention. Es geht aber auch um diese Kinder, die wir bereits für die Schule verloren haben. Wir wollen sie zurückgewinnen. Wir wollen sie mit allen Mitteln zurückgewinnen. Das richtet sich an die Schüler als Angebot. Das richtet sich an die Eltern als Angebot. Wer aber Angebote nicht wahrnimmt, dem kann der Staat doch nicht ernsthaft sagen: Dann lassen wir es. – So machen wir die Gefängnisse voll und die Schulen leer, und das kann nicht ernsthaft der Ansatz sein. – Vielen Dank!
Als der Kollege – die Allzweckwaffe Oberg – nach vorne marschierte, dachte ich, jetzt kommt etwas Konkretes. Aber er hat nichts anderes gesagt als vorhin.
Kollege! Es gibt einen Unterschied zwischen mir und Ihnen. Ich bin ein Abgeordneter der Oppositionsfraktion, und Sie sind ein Abgeordneter der Regierungsfraktion. Sie haben den Auftrag bekommen, hier etwas zu tun und nicht Fragen zu stellen. Die Fragen sollte vielleicht die Opposition stellen, aber Ihre Aufgabe – Sie stellen die Regierung – ist es zu handeln. Reden Sie nicht nur, sondern handeln Sie! Sie erzählen mir: Wir wollen den Eltern, bei denen aus den begründeten Fällen die Kinder nicht in die Schule gehen, mit Law-and-OrderMaßnahmen begegnen. – Diese Menschen leben doch schon am Existenzminimum! Was wollen Sie denn noch mit Zwangsmaßnahmen erreichen?
Hören Sie doch einfach mal zu: Stecken Sie mehr Geld in die Bildung! Sorgen Sie dafür, dass es mehr Personal gibt! Sorgen Sie dafür, dass die Räumlichkeiten so ausgestattet sind, dass Kinder gern zur Schule gehen, und
reden Sie auch zwischendurch vielleicht einmal mit Ihren Staatssekretärinnen, die ich beide sehr gut kenne, und Ihrer Bildungssenatorin, die ich auch sehr schätze! Vielleicht können Sie von ihr etwas lernen. Sorgen Sie dafür, dass die Legislative, sorgen Sie dafür, dass der Senat den Bildungsetat entsprechend mit Mitteln ausstattet, dass diese Fragen, die Sie hier gestellt haben, eben nicht nur als Fragen und Phrasen im Raum stehen bleiben, sondern dass gehandelt wird! Das sollten Sie sich merken. Sie müssen handeln. Ich darf Fragen stellen, aber Sie nicht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Grund, weshalb wir das Thema „Durchsetzung der Schulpflicht“ ausdrücklich in den Koalitionsvertrag geschrieben haben und weshalb wir es vonseiten der Koalition heute im Plenum im Rahmen einer Großen Anfrage thematisieren, ist Sorge, Sorge um eine seit drei Jahren gleichbleibend hohe Zahl von Jugendlichen, die zwischen 11 und mehr als 40 Tagen im Schuljahr unentschuldigt fehlen. Im Schuljahr 2009/2010 waren es 3 351 Schüler. Im Schuljahr 2010/2011 waren es 3 668 und im Schuljahr 2011/2012 3 562 Schüler. Das sind Schüler, die sich selbst die Chance nehmen oder derart große persönliche Probleme haben, dass sie viele Tage im Jahr nicht am Schulunterricht teilnehmen können oder wollen. Wir sind verpflichtet, uns um diese 3 000 Jugendlichen sehr ernsthaft zu kümmern.
Schule ist nicht nur der Raum, wo Wissensvermittlung und Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit stattfindet. Schule ist auch der Raum, wo soziale Kompetenzen im Rahmen der Schulalltagserfahrung viel effektiver eingeübt werden können, als wenn die Kontakte mit der Gesellschaft nur sporadisch erfolgen. In der Schule wird der Umgang auch mit Andersdenkenden geübt, Toleranz gelebt und Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Meinung trainiert. All dies sind auch Eigenschaften eines verantwortlichen Staatbürgers, der gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in unserer Gesellschaft teilnimmt. Deshalb hat auch das Bundesverfassungsgericht die in Deutschland geltende Schulpflicht als verfassungsmäßig erklärt. Ein Schüler, der an vielen Tagen nicht am Schulunterricht und Schulbetrieb teilnimmt, macht die genannten Erfahrungen nicht. Er isoliert sich von der Gemeinschaft, und dadurch besteht die Gefahr, dass er seine Talente nicht so entfaltet, dass sie ihm und der Gesellschaft optimal dienen.
Ich möchte gerne – wie die Piraten – glauben, dass Jugendliche, die nicht zur Schule gehen, einfach nur die Freiheit haben möchten, sich je nach Laune den ganzen Tag – oder besser ab Mittag oder Abend – in einer unabhängigen Lerngruppe beispielsweise zum Esperantolernen zu treffen. Ich befürchte aber, dass es sich bei diesen Jugendlichen um eine eher kleine Gruppe handeln dürfte und dass sich ein nicht unerheblicher Teil der Jugendlichen in der Zeit, in der sie schwänzen, auf den Straßen, in den Parks und Kaufhäusern unserer Stadt herumtreibt – struktur- und orientierungslos, oft ohne Ansprechpartner und der latenten Gefahr des Abgleitens in Drogen, Banden oder gar in die Prostitution ausgesetzt.
Deshalb unsere Frage: Was können wir staatlicherseits tun, um die Zahl von 3 000 schulschwänzenden Jugendlichen in Berlin zu reduzieren und sie zu einem regelmäßigen Schulbesuch zu bringen?
Ich danke Ihnen, Frau Senatorin, für Ihre Antworten, die uns einen guten Gesamtüberblick über die aktuelle Situation der derzeit in Berlin durchgeführten Maßnahmen gegeben haben. Danke auch für die Informationen zum Stand der beiden neuen Projekte im IT-Bereich, das elektronische Klassenbuch und die zentrale Schülerdatei, die, wie gesagt, gerade erst anlaufen.
Ich teile vollkommen Ihre Meinung, dass zuerst die Eltern dafür verantwortlich sind, dass ihre Kinder regelmäßig zur Schule gehen. Deshalb war es auch richtig, im Februar dieses Jahres eine Maßnahme aus den Qualitätspaket, das noch Ihr Vorgänger geschnürt hat, umzusetzen, nämlich die Benachrichtigung der Eltern schon am ersten und nicht erst am dritten Tag des unentschuldigten Fehlens ihres Kindes. Damit wird seitens der Schule deutlich signalisiert: Du bist uns wichtig. Wir wollen dich nicht aus den Augen verlieren. Wir bemerken, dass du fehlst. – Und es wird sofort signalisiert: Liebe Eltern! Nehmt eure Einflussmöglichkeiten auf euer Kind sofort wahr!
Ich teile auch Ihre sich stets am Einzelfall orientierende Sicht, was die teilweise oder komplette Entziehung des Sorgerechts betrifft. Die Entziehung des Sorgerechts in diesem Fall, auch wenn es sich dabei sicherlich um eine Kindeswohlgefährdung handelt, ist und bleibt eine sehr sensible Sache, bei der immer wieder der Zweifel bleibt, ob man auf beiden Seiten nicht mehr zerstört, als man Positives bewirkt. Allerdings sehe ich bei den Maßnahmen, die vor der Entziehung des Sorgerechts und der polizeilichen Zuführung liegen, noch einigen Handlungsspielraum, um mehr Verbindlichkeit bei der Abfolge der einzuleitenden Maßnahmen und auch mehr Einheitlichkeit bei der Durchsetzung der Schulpflicht herzustellen.
Ich möchte, dass der Tatbestand wochenlanges Schulschwänzen als Hinweis auf ein Problem, das der Jugendliche hat, sehr ernst genommen wird und dass die Eltern
Ich möchte deshalb für die Zukunft folgende Änderungen anregen: Erstens: Eine Schulversäumnisanzeige wird laut Ausführungsvorschrift erst übersandt, wenn der Schüler an mehr als zehn aufeinander folgenden Schultagen dem Unterricht fernbleibt. Ich glaube, dass dies nicht nur aufeinander folgende Schultage und auch nicht zehn sein sollten, sondern möchte vorschlagen, dass das Fehlen von insgesamt fünf Tagen im Schulhalbjahr schon zu einer Schulversäumnisanzeige führt,
unentschuldigt! – denn auch schon in diesem Fall löst sich der Schüler in besorgniserregendem Ausmaß aus der Schulstruktur, was schnell die Aufmerksamkeit der übergeordneten Behörden und Hilfseinrichtungen nach sich ziehen sollte.
Zweitens: Laut Ausführungsvorschrift Schulpflicht muss dem Schulamt eine Schulversäumnisanzeige übersandt werden, aber dann kann einfach auch weiter nichts geschehen. Die Kontaktierung des Jugendamts, des schulpsychologischen Dienstes oder der Clearingstelle ist eine Soll- bzw. Kannvorschrift. Ich möchte anregen, aus diesen Soll- bzw. Kannvorschriften Istvorschriften zu machen, denn nur dann ist gewährleistet, dass das entsprechende pädagogische Hilfssystem auch anfängt, sich in koordinierter Weise mit dem schulschwänzenden Schüler zu beschäftigen.
Was die Verhängung von Bußgeldverfahren betrifft, so gibt es wiederum eine Kannvorschrift: Nach der Anhörung der Erziehungsberechtigten kann ein Bußgeldverfahren eingeleitet werden oder auch nicht. Hier geht die Praxis in den Bezirken weit auseinander. Wir haben es gehört. Am weitersten liegen die angrenzenden Bezirke Neukölln, wo es die meisten Bußgeldverfahren gibt, und Friedrichshain auseinander, wo es so gut wie keine Bußgeldverfahren gibt. Ich frage Sie: Ist es gut, dass in einer Stadt derart unterschiedliche Signale ausgesendet werden? – Ich würde sagen, nein! Denn das bedeutet, dass die Durchsetzung der Schulpflicht eine relative Angelegenheit ist. Ich denke, dass ein schwerwiegender Verstoß gegen die Schulpflicht auch für die Eltern direkt spürbare Konsequenzen haben muss. Am fairsten ist da sicherlich, wie auch bei anderen Pflichtverletzungen, der Griff in den Geldbeutel oder zumindest die glaubwürdige Drohung damit.
Ob allein die Teilnahme des Schülers an Schulverweigerungsprojekten, wie in manchen Bezirke praktiziert, aus
Leider geben uns die Zahlen keine Auskunft darüber, welche Methode wirklich Erfolg hat. Die Fehlquoten sind eigentlich in allen Bezirken gleichbleibend. Was die Schulverweigererprojekte betrifft, so gibt es davon seit Jahren eine Vielzahl in der Stadt, aber mir liegt keine Übersicht vor, aus der hervorgehen würde, dass aufgrund der Teilnahme an diesen Projekten aus Schulschwänzern wieder regelmäßige Schulgänger werden.
Wichtig ist vor allem – der Kollege Langenbrinck hat darauf hingewiesen –, dass es in Zukunft eine viel bessere Verzahnung der unterschiedlichen Instanzen geben muss, die sich mit notorischen Schulschwänzern beschäftigen, sonst werden wir diesem Problem nie wirklich beikommen.
Die Durchsetzung der Schulpflicht ist keine Schikane. Sie ist zum einen die konsequente Durchsetzung des staatlichen Bildungsauftrags, und zum anderen entspringt sie der Sorge und Fürsorge um unsere Jugendlichen, die oft nicht gleich einsehen, welchen – vielleicht sogar irreparablen – Schaden sie an ihrer eigenen Entwicklung anrichten, wenn sie sich von den Kerninstitutionen unserer Gesellschaft isolieren, von der Familie und von der Schule, wo in einem geschützten Raum Wissen gelehrt und Sozialverhalten eingeübt werden können. Deshalb sollten wir uns im Nachgang zu dieser Großen Anfrage gemeinsam daran machen, die in Berlin existierenden Maßnahmen weiter zu verbessern und zu schärfen, damit aus allen Jugendlichen in der Stadt selbstbewusste und kenntnisreiche Persönlichkeiten werden, die unser Gemeinwesen einmal tragen werden. – Danke!
Vorab schönen Dank, Herr Mutlu! Jetzt reicht mir meine Redezeit, denn Sie haben ganz viel von dem, was ich auf dem Zettel hatte, schon gefordert. Ich unterstütze ausdrücklich alle Ihre Forderungen.
Diese Große Anfrage zeigt, dass etwas faul ist im Staate Berlin, dass hier der Fehler im System liegt. Die Politik bekämpft die Symptome und eben nicht die Ursachen.
Wir reden hier über ein ernstzunehmendes Thema, das den Beteiligten nicht erst in den letzten Jahren schwer zu schaffen macht. Der Koalitionsvertrag sagt auf Seite 52 dazu, es solle erst mit pädagogischen Maßnahmen überzeugt werden – das kam heute übrigens sehr zu kurz –, zum Beispiel mit Elternverträgen, und – Zitat –:
greifen diese nicht, wenden wir auch repressive Maßnahmen an, wie sich schrittweise erhöhende Bußgelder, polizeiliche Zuführung und andere.
Bevor ich mir das SEK vorstelle, frage ich jetzt erst einmal: Und weiter ist Ihnen nichts eingefallen?
Ich fange einmal beim Letzten an: Wofür soll eigentlich die Polizei noch alles zuständig sein, noch dazu bei der unzureichenden Personalausstattung? Für die Bewachung von Schulhöfen und Schulen, wie wir hörten, und die Zuführung von Schulschwänzern? – Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären in Ihrer Schulzeit aus welchem Grund auch immer nicht zur Schule gegangen! Vielleicht war es Angst davor, wieder an die Tafel zu müssen, vor der ganzen Klasse ein Gedicht aufsagen zu müssen, Angst vor dem Mobbing durch Mitschüler, gab es Probleme zu Hause, und Sie sind einfach nicht mehr hingegangen. Vielleicht gibt es ja auch welche unter uns, die das durchaus hinter sich haben.
Oft ist das einfach ein Hilferuf, und es kann Sie keiner aufschließen. Sie können sich niemandem anvertrauen, aber jetzt wird Druck aufgebaut – über ihre Eltern vielleicht, die Sie dafür vielleicht anbrüllen, weil sie selbst Probleme haben, die vielleicht sogar Gewalt anwenden oder die einfach im Umgang mit ihrem Kind und seinen Problemen hilflos sind. Die Klassenlehrerin und der Sozialpädagoge laden Sie zum Gespräch vor, und Sie gehen wieder nicht zur Schule, vielleicht weil niemand Ihr Problem erkennt und hilft oder weil Sie inzwischen einfach schon die falschen Freunde haben. Dann soll Ihnen helfen, dass Sie morgens von der Polizei der Schule zugeführt werden?
Die Antworten auf die entsprechenden Kleinen Anfragen der Kollegen Langenbrinck und Delius haben zwar Zahlen zur polizeilichen Zuführung erbracht. Aber allein schon die Wortwahl lässt mich hier zurückschrecken. Das ist wie Ablieferung in der Haftanstalt. Aber es wurden keine Aussagen getroffen, welchen Erfolg diese Zuführungen hatten. Das würde schon einmal interessieren. Wenn also 526 Schülerinnen und Schüler, auch kleine aus der Grundschule, polizeilich der Schule zugeführt wurden – für wie viele hat sich denn in der Einstellung zur Schule dadurch etwas geändert?