Protokoll der Sitzung vom 22.11.2012

[Zuruf von Dr. Wolfgang Albers (LINKE)]

Dies war keineswegs ein Selbstläufer, sondern das Ergebnis einer Umorientierung der Berliner Wirtschaftpolitik seit etwa 2004/2005.

Noch zur Jahrtausendwende wurde das Thema Industriestadt Berlin als ein Teil der Wirtschaftshistorie begriffen, als etwas, das einmal da war und nie mehr wiederkommt. Als Gegensatz und Vision für die ökonomische Zukunft Berlins wurde seinerzeit die Dienstleistungsmetropole proklamiert.

[Dr. Wolfgang Albers (LINKE): Von wem? Erinnern Sie sich noch?]

Eine Fehlkalkulation, denn eines wurde deutlich: Fernab jeder industriellen Basis, fernab jeder realen Produktion und Entwicklung von Gütern ist auch die Nachfrage nach höherwertigen wissensbasierten Dienstleistungen gering. Das heißt, die Dienstleistungsmetropole Berlin ohne jeden industriellen Bezug wäre, überspitzt gesagt, eine Stadt, in der man sich gegenseitig die Haare schneidet

oder mit dem Taxi herumfährt – entschieden zu wenig für eine wirklich tragfähige Existenz. Die dramatisch hohen Arbeitslosenzahlen mit zeitweise über 300 000 Arbeitslosen in Berlin belegten dies deutlich. Es war das Verdienst des Senats unter der Führung Klaus Wowereits und der SPD,

[Uwe Doering (LINKE): Und des Wirtschaftssenators nicht, oder wie?]

zusammen mit Gewerkschaften, Kammern und Verbänden, den Weg in die falsche Richtung beendet zu haben und das verarbeitende Gewerbe Berlins wieder als einen entscheidenden Eckpfeiler für die wirtschaftliche Zukunft unserer Stadt zu begreifen. – Herr Wirtschaftssenator Wolf hatte auch einen Anteil daran, selbstverständlich! Das wollte ich gar nicht in Abrede stellen.

[Beifall von Frank Zimmermann (SPD)]

Die Wachstumsinitiative 2004 bis 2014, der Masterplan Industrie und der Steuerungskreis Industriepolitik beim Regierenden Bürgermeister sind wichtige Stationen dieses Richtungswechsels in der Wirtschaftspolitik. Seit 2006 sind insgesamt über 120 000 neue Arbeitsplätze entstanden. Auch in der Berliner Industrie haben wir inzwischen mehr als 100 000 Arbeitsplätze mit Multiplikatoreffekten weit in den Dienstleistungssektor hinein.

[Beifall bei der SPD – Beifall von Heiko Melzer (CDU)]

Die Senatorin hat es gesagt, jeder Arbeitsplatz in der Produktion schafft zwei bis drei Dienstleistungsarbeitsplätze, die sich statistisch zum Teil in den Industrieunternehmen wiederfinden, zu einem größeren Teil aber in Dienstleistungsunternehmen verschiedener Art. Das reicht von Finanzdienstleistungen über den IT-Bereich bis hin zum Gebäudemanagement, sodass der Effekt der gut 100 000 Industriearbeitsplätze insgesamt ein deutlich höherer ist.

Doch selbstverständlich können wir uns nicht auf dem Erreichten ausruhen. Die Arbeitslosenquote liegt in Berlin noch immer signifikant höher als in anderen Bundesländern und anderen Großstädten.

[Wolfgang Brauer (LINKE): Als in allen andern Bundesländern!]

Nach wie vor ist Berlin ein ganzes Stück davon entfernt, die eigene Steuerbasis auf ein auskömmliches Maß zu steigern, von Finanzhilfen anderer Länder unabhängiger zu werden, wie es Hamburg als zweitgrößte deutsche Stadt und ebenfalls Stadtstaat beispielsweise ist.

Hierbei ist wiederum ein realistischer Blick auf die Ausgangslage und die Spezifika des Industriestandortes Berlin vonnöten. Die Berliner Industrie ist sektoral anders aufgebaut als die in anderen Regionen mit ihrem ausgeprägten Profil der Elektroindustrie, dafür einem deutlich unterdurchschnittlichen Anteil an Fahrzeug- und Maschinenbau. Allerdings sind die Exportquoten der Berliner

Industrie, das heißt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit, in all diesen Feldern durchaus im Bundesdurchschnitt oder sogar überdurchschnittlich. Dies zeigt sich ebenso im Bereich der Pharmaindustrie, die in Berlin einen deutlichen Schwerpunkt bildet und überdurchschnittlich profitabel ist, wie erst vor wenigen Tage eine Studie belegte.

Doch bedingt durch die politische Entwicklung der Nachkriegszeit, die deutsche Teilung und die Abwanderung von Konzernzentralen wie Fertigungslinien bewegt sich die Berliner Industrie gemessen an der Einwohnerzahl noch immer auf einem quantitativ zu niedrigen Niveau. Der Anteil der industriellen Wertschöpfung: bei knapp 10 Prozent, Deutschland bei gut 20 Prozent. Hamburg – Frau Senatorin, ich habe da die Zahl 12 Prozent – liegt immer noch ein bisschen höher. Hier muss die Berliner Industriepolitik konsequent ansetzen.

Mit der Modernisierung der Berliner Industrie in den zurückliegenden zehn Jahren und überdurchschnittlichen Wachstumsraten, insbesondere in den Clustern, ist bereits der Weg des Aufholprozesses eingeschlagen. Das heutige Berlin ist keine verlängerte Werkbank zu subventionierten Bedingungen mehr wie einst die Westberliner Industrie und auch keine mit künstlich aufgeblähten Belegschaftszahlen wie in den Kombinaten der DDR. Was heutzutage bei Siemens, MAN, Bayer Schering, BerlinChemie und zahlreichen sogenannten Hidden Champions in Berlin vom Band läuft, ist hoch profitabel und findet in der gesamten Welt Absatz.

Doch wie kann noch mehr daraus werden? – Die viel zitierte Forschungslandschaft mit vier Universitäten, zahlreichen weiteren Hochschulen und Instituten stellt in der Tat eine wichtige Säule für die weitere Prosperität des Industriestandorts Berlin dar. Hier gibt es bereits mannigfaltige Verbindungen zwischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Dass Berlin Gründerhauptstadt Deutschlands ist, hat hierin sicherlich eine Ursache.

Doch könnte das enorme wissenschaftliche Potenzial noch viel stärker genutzt werden, gerade im Zusammenspiel zwischen Universitäten und großen Bestandsunternehmen. An den prosperierenden Wirtschaftstandorten im Süden Deutschlands wie München oder Stuttgart gibt es eine Vernetzung zwischen den Universitäten und den Forschungsebenen der großen Unternehmen, die über Jahrzehnte gewachsen ist. Sowohl der Wissenstransfer als auch die Gewinnung von akademischem Nachwuchs für die Industrie läuft hier vielfach automatisch.

Wir in Berlin haben auch hier Nachholbedarf. Wir müssen Netzwerke schaffen, die zum Teil bereits arbeiten, wo aber sicherlich noch Verbesserungsmöglichkeiten bestehen. An den Zukunftsorten wie Adlershof und Buch ist das auch räumlich bereits gut gelungen. Am Campus Charlottenburg, in Dahlem oder auf dem Flughafengelän

de in Tegel laufen die entsprechenden Maßnahmen an. Die geplante Einbeziehung der Technologieförderung in die Wirtschaftsfördergesellschaft wird eine weitere Konzentration dieses entscheidenden Feldes der Industriepolitik bringen.

Die gesamte Wirtschaft, gerade auch die Industrie, ist aber nichts ohne die Menschen, die durch ihre geistige und körperliche Arbeit die Wertschöpfung erbringen. Nicht nur von Gewerkschaftsseite, sondern auch vonseiten der Unternehmen wird das Problem der Fachkräftesicherung als die Schlüsselfrage schlechthin benannt. Hier hat Berlin einen unbestrittenen Standortvorteil. Ich höre von Unternehmensvertretern immer wieder, dass es nicht schwer ist, qualifiziertes Personal an den Standort Berlin zu holen, weil Berlin eine Stadt mit großer Anziehungskraft ist, mit einem attraktiven Kulturleben, vergleichsweise günstigen Lebenshaltungskosten und anderen Vorteilen.

Aber hierauf dürfen wir uns nicht ausruhen. Wir haben einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen und an Jugendlichen ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung. Wenn wir durch Qualifikation und andere Maßnahmen nicht dazu gelangen, auch diese Menschen verstärkt in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, werden wir trotz überdurchschnittlicher Wachstumsraten der Industrie dennoch nicht zu einem nennenswerten Abbau der Arbeitslosigkeit kommen. Es ist gut, dass Berlin wieder wächst und motivierte Menschen hierherkommen, aber auch die Berliner Arbeitslosen müssen an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben!

Wichtig ist vor allem auch der Erhalt des Arbeitskräftepotenzials in Zeiten der Krise. In der Krise 2008/2009 hat die viel gescholtene große Koalition auf Bundesebene immerhin zu Maßnahmen gefunden, die den ganz großen Abbau von Arbeitsplätzen durch erweiterte Kurzarbeitsregelungen wirksam verhindert haben, wodurch die Krise auch gebremst wurde. Es wäre zu wünschen, dass die hierbei bewährten Kurzarbeitsregelungen dauerhaft in das Instrumentarium zur Krisenprävention aufgenommen würden, wogegen sich die derzeitige schwarz-gelbe Bundesregierung noch sträubt. Aber hier könnte eine neue Koalition vielleicht schon bald Maßstäbe setzen.

Die Berliner Industrie ist im Übrigen besser durch die Krise gekommen als die Bundesrepublik insgesamt. Es hat sich gezeigt, dass eine stabile Zusammenarbeit engagierter Unternehmensleitungen vor Ort mit einer motivierten Belegschaft und fachkundigen Betriebsräten am besten geeignet ist, die Produktion am Standort zu erhalten und auszubauen. In zahlreichen Berliner Werken sind heutzutage doppelt und dreifach so viele Menschen beschäftigt wie vor zehn Jahren, sei es bei Siemens im Dynamowerk oder im Gasturbinenwerk, sei es bei Stadler in Pankow, sei es bei MAN oder bei Berlin-Chemie.

(Nicole Ludwig)

Hinzu kommen zahlreiche neue innovative Unternehmen. Ich denke, hierfür ist Reindustrialisierung kein zu großes Wort. – Ich danke für die Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Vielen Dank, Herr Jahnke! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Abgeordnete Frau Ludwig. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wirtschaft in Berlin funktioniert irgendwie – auch trotz der Politik. – Dieser Satz, den ich in letzter Zeit ziemlich oft höre, ging mir sofort durch den Kopf, als ich Ihre Große Anfrage sah. Meine werten Kollegen von SPD und CDU! Welchem Zweck soll diese Große Anfrage dienen?

[Jutta Matuschek (LINKE): Das fragen wir uns auch!]

Arbeitsplätze schafft dies jedenfalls nicht. Da muss ich Sie verbessern, Herr Schultze-Berndt! Ich habe mich eher gefragt, ob Sie auch an der Schlagkraft des Masterplans Industrie zweifeln oder vielleicht an der Strahlkraft der Wirtschaftskonferenz vor einer Woche. Da wären wir uns dann ja ziemlich einig, denn ein Regierender Bürgermeister, der einmal im Jahr eine Wirtschaftskonferenz eröffnet und dabei gleich erst mal die Unternehmen beschimpft, die das mit dem Brandschutz am Flughafen nicht hinbekommen, ist kein guter Werber für den Industriestandort Berlin.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Passen Sie gut auf, Frau Yzer, dass nächste Woche bei Ihrem Steuerkreis Industriepolitik nicht Ähnliches passiert!

Und prompt, wenige Tage nach der Industriekonferenz, lieferten die aktuellen Konjunkturdaten den traurigen Beweis – das haben wir schon gehört –: Die Umsätze der Berliner Industrie sind im Jahresvergleich September um 11,9 Prozent gesunken. Vor allem das Inlandsgeschäft brach ein. Dort gingen die Erlöse sogar um 25 Prozent zurück. Die Konjunkturentwicklung in Deutschland trifft natürlich alle Regionen, aber Berlin kann sich das viel weniger leisten als andere. Wir haben immer noch den Spitzenplatz bei der Erwerbslosigkeit, wir sind die Hauptstadt der Aufstocker, und in Berlin liegt die Jugendarbeitslosigkeit über dem Doppelten des Bundesdurchschnitts. Weder Ihre Große Anfrage noch die Beantwortung bieten dazu Lösungen an.

Dafür aber hatte Klaus Wowereit vergangenen Sonntag bei der Meisterehrung von IHK und Handwerkskammer schon wieder die Schuldigen gefunden: Die Unternehmen haben’s verpennt! Die sind nämlich selbst schuld am Fachkräftemangel, haben nicht zugehört vor drei Jahren,

als Herr Schwarz, Präsident der Handwerkskammer, vor diesem warnte. – Herr Wowereit! Warum haben Sie denn vor drei Jahren nicht zugehört und Ihre Hausaufgaben gemacht? Bei dieser Arbeitsmarktpolitik ist der Fachkräftemangel jedenfalls keine Überraschung.

[Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Gerwald Claus-Brunner (PIRATEN)]

Berlin braucht mehr Industrie, mehr Industriearbeitsplätze. Industrie zieht Dienstleistungen, und beides bringt Arbeitsplätze und eine dynamische Entwicklung in die Stadt. Nur fehlt es nach wie vor an der klaren Strategie. Auch die sechste Wirtschaftskonferenz – und im übrigen die zweite zum Thema Industrie – blieb hier profillos. Was sind die nächsten Schritte? Wie geht es weiter mit den Clustern? Wie soll die Wirtschaftsförderung effektiver werden? Wann nutzt der Senat endlich die Chance für ein Leitbild für Berlins Wirtschaft und damit das für eine dynamische Industriestadt Berlin notwendige anziehende Image?

Dabei könnten die Voraussetzungen kaum besser sein. Erstens: Berlin hat mehr nutzbare Freiflächen als jede andere Metropole in Europa – das hat auch Frau Yzer vorhin schon erwähnt –, aber ein richtiges Konzept für Tegel: Fehlanzeige! Tempelhof ist auch nicht wesentlich weiter und wird nun trotzdem um 45 Millionen Euro teurer, haben wir gestern gerade in der Zeitung gelesen.

Zweitens: Berlin zieht kreative und technologieorientierte Startups aus der ganzen Welt an. Doch diesen ernsthaft bei ihrer Unternehmensentwicklung zu helfen, indem man sie beispielsweise mit passenden Unternehmen und potenziellen Kunden aus der Old Economy zusammenbringt – bisher zumindest Fehlanzeige! Denn sagen Sie mir, Frau Yzer: Wo hat denn Siemens eingekauft? Bei den jungen Unternehmen? – Meines Wissens nicht!

Drittens: Berlin hat eine außerordentliche Wissenschaftslandschaft, doch der Transfer zwischen Unternehmen und Wissenschaft kommt nicht voran. Die Fusion von TSB und Berlin Partner ersetzt nicht das fehlende Konzept in dieser Richtung.

[Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Gerwald Claus-Brunner (PIRATEN)]

Viertens: Berlin hat bereits etablierte Industriestrukturen. – Auch das wurde ja vorhin erkannt. – Doch statt die Potenziale dort zu nutzen, lässt man die Netzwerke oft allein. Warum fördert der Berliner Senat diese wichtigen Eigeninitiativen nicht adäquat? Zum Beispiel Moabit: Da gab es eine Machbarkeitsstudie für ein Gründerzentrum „Neue Energien“. Dieses würde den aktuellen Wachstumsimpuls ansässiger Unternehmen im Bereich neue Energien, Elektromobilität hervorragend ergänzen. Aber es liegt auf Eis, weil die Startinvestitionen fehlen, mit der Begründung: Alle Mittel für die Nachnutzung nach Tegel! – Da fehlen mir fast die Worte. Hier hätte man ein Konzept williger Unternehmer, die wichtige Zukunfts

(Heiko Melzer)

themen anpacken, aber was macht Berlin? – Abwarten! Auf Tegel oder worauf eigentlich?

Dieses Beispiel zeigt wie manche andere: Gerade für den Industriestandort Berlin bietet die Green Economy enormes Entwicklungspotenzial. Damit könnte sich Berlin über die Grenzen Deutschlands hinaus einen Namen machen. Doch dafür brauchen wir mehr als das Schaufenster Elektromobilität. Berlin muss endlich konsequent auf Green Economy setzen, auf die Technologien, mit denen die Stadt der Zukunft ausgestattet sein muss.

[Beifall bei den GRÜNEN]