Protokoll der Sitzung vom 18.09.2014

lfd. Nr. 3.3:

Priorität der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Berlin braucht einen Neuanfang

Dringlicher Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke auf Annahme einer Entschließung Drucksache 17/1817

Wird der Dringlichkeit widersprochen? – Ich sehe, das ist nicht der Fall. Die Regelung der Redezeit im Prioritätenblock ist Ihnen bekannt. Es beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und mir ist von der Fraktion signalisiert worden, dass die Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters beantragt ist. Er wird gerade geholt, wird mir bedeutet. Ich denke, so lange können wir kurz unterbrechen.

[Martin Delius (PIRATEN): Herr Müller vertritt den Regierenden Bürgermeister gerne!]

Vielen Dank! – Wir fahren fort. Es beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das Wort hat Frau Abgeordnete Pop. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist die Sitzungsdisziplin des Regierenden Bürgermeisters relativ hoch, haben wir gerade festgestellt.

[Lars Oberg (SPD): Frau Pop vermisst Sie jetzt schon!]

Die fraktionsübergreifende Mehrheit ist, glaube ich, schnell dafür gefunden, dass er noch für uns den Länderfinanzausgleich verhandelt, zumindest nach dieser Aktuellen Stunde.

[Lars Oberg (SPD): Genau! Weil er es kann!]

Einer der bekanntesten Aussprüche über unsere Stadt ist zweifelsohne: Berlins „Schicksal“ ist es, „immerfort zu werden und niemals zu sein“. Der Urheber dieses Satzes, Karl Scheffler, empfand dieses Schicksal wohl eher als tragisch. Spätestens mit dem Umbruch der friedlichen Revolution und der darauf folgenden Entwicklung unserer Stadt zur Metropole nehmen die meisten von uns dies eher als zutreffende Beschreibung einer quicklebendigen Stadt war.

Wenn wir heute auf die 2000er-Jahre zurückblicken, kann man sagen, dass dieser Ausspruch eine weitere Konnotation bekommen hat, dass Wandel eben auch „sexy sein“ kann und dass das „auch gut so“ ist. Wie kein anderer haben Sie, Herr Regierender Bürgermeister, die Veränderung, den Umbruch, den Boom Berlins begleitet, geprägt und auch verkörpert. Vor dieser politischen Lebensleistung habe ich, haben wir zweifelsohne tiefen Respekt. –

(Fabio Reinhardt)

Herr Regierender Bürgermeister! Bei aller Auseinandersetzung: Ihre Verdienste um die Stadt sind unbestritten!

[Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Zuruf von Torsten Schneider (SPD)]

Die Abschiedsreden häufen sich jetzt. Man guckt zurück, aber auch nach vorne, Kollege Schneider!

Berlin ist heute wieder eine Stadt im Umbruch, und das ständige Werden braucht auch politische Gestaltung und eine Richtung. Daran fehlt es in Berlin seit geraumer Zeit, und – Mit Verlaub, Herr Regierender Bürgermeister – Sie hinterlassen uns auch ein schweres Erbe. Seit Amtsantritt der rot-schwarzen Koalition Ende 2011 erleben wir weniger wegweisende Weichenstellungen als viel mehr Pleiten, Pech und Pannen, und mit der Absage der BEREröffnung im Januar 2013 gerieten Sie endgültig auf die abschüssige Bahn. Man kann rückblickend sagen: Das war zweifelsohne der Anfang vom Ende. Davon haben Sie sich nicht mehr erholt und auch die Koalition nicht mehr.

Auf die Ankündigung des Regierenden Bürgermeisters, zum Jahresende zurückzutreten, muss aus unserer Sicht ein Neuanfang folgen, denn nicht nur mir graut es vor einem schleppenden, lustlosen Weiter-so dieser angeschlagenen Regierung. Da fragt man sich schon: Warum haben Sie eigentlich solche Angst vor Neuwahlen? Haben Sie nach dem Rückzug des obersten Berlin-Verstehers so viel Angst vor den Berlinerinnen und Berlinern?

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Treibt Sie die Angst vor einem Wahlkampf um, der die Menschen mitnimmt und einbindet, ein Wahlkampf, der ein Wettbewerb um die besten Ideen für die Stadt sein könnte? Und wie klein-klein ist das eigentlich, dass allein 17 000 Menschen mit dem aus Ihrer Sicht richtigen Parteibuch jetzt entscheiden sollen, wen sie lieber mögen? Wer sich zutraut, diese Person zu sein, die die besten Ideen für Berlin hat, darf auch keine Angst davor haben, für seine Vorstellungen zu werben und sich auch dem Votum der gesamten Stadt zu stellen.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Doch statt eines Neuanfangs verlängert der Senat mal eben die Sommerpause bis Weihnachten. Bis Weihnachten wird diese Stadt nicht mehr regiert. Mitten in der Legislaturperiode legt sich eine gewählte Regierung auf die faule Haut. Wo hat man so etwas schon einmal erlebt? Bis Dezember soll es dauern, bis die SPD die Suche nach einem Nachfolger beendet hat – wohlgemerkt in laufender Legislaturperiode. „Es ist der erste Fehler des künftigen Regierenden Bürgermeisters, egal, wie er heißt“, schreibt hierzu der „Tagesspiegel“. Und weiter: „Ist die Kandidatenfrage die, die Berlin beschäftigen sollte?“ – fragt die „Berliner Zeitung“ und beantwortet diese Frage sogleich mit: „Nein!“

Seit dem Amtsantritt ist dieser Senat in den meisten Fragen entscheidungsunfähig, zerstritten und blockiert. Statt eines Neuanfangs wird nun die Sendepause aus dem Roten Rathaus bis Weihnachten verlängert. Das ist nicht einmal mehr „Dienst nach Vorschrift“, das ist schlichte Arbeitsverweigerung!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Martin Delius (PIRATEN)]

In der Zwischenzeit nimmt der Problemstau dieser Regierung olympische Ausmaße an.

[Lachen von Torsten Schneider (SPD)]

Sie vertagen, Sie vermurksen Entscheidungen. Sie streiten mit Gutachten und Gegengutachten um die Interpretation von Senatsbeschlüssen. Sie gehen mit Anwälten aufeinander los und schieben den Berg ungelöster Fragen in die Zukunft,

[Lars Oberg (SPD): Wie? Wo? Wann?]

angefangen bei der städtischen Infrastruktur, die sie auf Verschleiß fahren und als Sparbüchse missbrauchen. Zu Recht schlägt der geplanten Olympiabewerbung Skepsis entgegen, wenn die Menschen sehen, dass Kitas und Schulen nicht saniert werden, die Krankenhäuser in einem erbärmlichen Zustand sind und Straßen und Brücken vor sich hin bröckeln. Von der vergeigten S-BahnAusschreibung will ich gar nicht reden, die das S-BahnChaos in das nächste Jahrzehnt verlängern wird.

Was ist mit den Plänen für mehr bezahlbaren Wohnraum? – Die Umwandlungsverordnung wurde in der letzten Ausschusssitzung vertagt – zum wiederholten Mal! Seit Jahren warten wir auf eine vernünftige Personalentwicklung im öffentlichen Dienst, dem zunehmend Fachkräfte wie Ingenieure oder Ärzte fehlen, der kaum noch konkurrenzfähig ist und ohne klare Perspektive alleingelassen wird. Gestern im Hauptausschuss haben Sie alle Fragen rund um Tempelhof wieder einmal vertagt, obwohl die Diskussion über ein Entwicklungskonzept für das alte Flughafengebäude dringend ansteht. Auch hier werden die Sanierungsnotwendigkeiten auf die lange Bank geschoben. Dadurch werden Sie sicherlich nicht geringer, Herr Müller.

Was passiert eigentlich mit der Zentral- und Landesbibliothek, nachdem Sie die Stadt von Ihren Bebauungsplänen auf dem Tempelhofer Feld nicht überzeugen konnten? Das Gebäude in der Breiten Straße platzt aus allen Nähten. Das wissen wir alle. Aber Sie lassen sich Zeit mit der Prüfung von Alternativstandorten wie beispielsweise der AGB oder doch dem Gebäude in Tempelhof. Aber dort soll ja laut Wirtschaftssenatorin Yzer die Messe GmbH die Bewirtschaftung übernehmen. Zufrieden scheint sie ja nicht zu sein mit Ihrer Bewirtschaftung. Da frage ich aber auch nach, ob die Messe dann auch die Instandhaltungskosten übernimmt, und überhaupt ist mir die Zukunftsstrategie für die Messe Berlin ziemlich unklar. Die Sanierung und Nachnutzung des ICC steht in den Sternen. Die

nicht ausreichenden Kapazitäten des City-Cube für das so wichtige Kongressgeschäft sind auch ein Thema für sich. Aber auch das wird auf die lange Bank geschoben. Und das Bäderkonzept 2025 – im Senat vertagt!

Zuletzt natürlich der Flughafen BER – unbestritten das schwerste Erbe Klaus Wowereits: Plötzlich erkennen ja alle, dass ein externes Controlling nötig ist. Was hat man uns in den letzten Monaten wegen dieser Forderung geprügelt! Aber kaum, dass der Regierende Bürgermeister seinen Rücktritt erklärt, erkennen alle, dass man jetzt auf jeden Fall eine Besetzung des Aufsichtsrats mit Experten braucht. Nicht nur, dass der BER uns bis heute zum Gespött der Republik macht, sondern die Sorge, dass es dort nicht vorangeht, sollte uns alle umtreiben. Der vielzitierte Statusbericht, der keineswegs geheim ist, hat an der Stelle die unschönen Sätze parat – ich zitiere:

Im Jahr 2012 wurden davon

von den 444 Millionen Euro, die Sie hier genehmigt haben –

71 Millionen Euro zahlungswirksam. Ursächlich für die noch nicht vollständig vorgenommenen Auszahlungen waren und sind anhaltende Verzögerungen bei Bau und Planung des BER, wodurch bestimmte bauliche Investitionen entgegen der Erwartung nicht erfolgten.

Und dann:

Im Jahr 2013 erfolgten Zahlungen in Höhe von 36 Millionen Euro.

Es ist also sogar noch weniger geworden im Vergleich zu 2012. Konkret heißt das: Da tut sich einfach nichts. Da ist Stillstand auf der Baustelle, und die Eröffnung rückt in weite Ferne.

Eines sollte Ihnen doch auch klar sein: Wenn dieser Flughafen Anfang 2016 nicht eröffnet ist, können Sie die Olympiabewerbung 2024 doch gleich in die Tonne kloppen und sich das Geld dafür sparen. – Oder wollen Sie ernsthaft in die Bewerbungsunterlagen hineinschreiben: Wird bald eröffnet? – Damit wären wir mal wieder die Lachnummer. Das sollten Sie uns allen bitte ersparen!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Kein Wunder, dass Sie mit diesem Berg ungelöster Probleme lieber nicht in den Wahlkampf gehen wollen. Sie haben Sorge wegen einer Neuwahl, weil Sie all dieses den Wählerinnen und Wählern mal erklären müssten und weil Sie für neue Visionen werben müssten. Das eine wollen Sie nicht, und das andere haben Sie offensichtlich nicht. Das wissen vielleicht auch die CDU-Wähler und Wählerinnen, die sich in Umfragen eigentlich mehrheitlich für Neuwahlen aussprechen. Aber die CDU macht hier zumindest lieber alles mit, und da stellt man sich schon die Frage: Sind Sie eigentlich noch eine eigene politische Gruppierung oder nur noch der Junior, der alles

abnickt, was ihm vorgesetzt wird? – Wir werden es ja zum Jahresende hin sehen.

Im Gegensatz zu Ihnen scheuen wir den Neuanfang nicht. Der Wechsel im Amt des Regierenden Bürgermeisters ist eine Zäsur für Berlin. Natürlich werden nun die Weichen für die nächsten Jahre gestellt und die Richtlinien der Berliner Politik neu ausgerichtet. Es geht hier nicht um einen Verwaltungschef, sondern um den wichtigsten Repräsentanten unserer Stadt im In- und Ausland. Sollten da die Bürgerinnen und Bürger nicht doch ein Wörtchen mitzureden haben?

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Zuruf von Lars Oberg (SPD)]

Die SPD wirbt ja neuerdings – nach der Tempelhof-Pleite – mit mehr Bürgerbeteiligung. Wie wollen Sie eigentlich den Menschen erklären, dass sie zwar über die Tempelhofbebauung oder vielleicht über Olympia abstimmen dürfen, aber nicht über ihre nächste Regierung? Das nimmt Ihnen doch keiner ab. Machen Sie es besser! Sorgen Sie für einen Neuanfang!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Vielen Dank, Frau Pop! – Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Herr Abgeordnete Schneider. – Bitte sehr!

[Zuruf von den GRÜNEN: Wo ist denn Herr Saleh!]