Protokoll der Sitzung vom 26.01.2012

(Vizepräsident Andreas Gram)

lfd. Nr. 23:

a) Kein Flughafenknast – nirgendwo!

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/0101

b) Kein Flughafenknast auf dem Großflughafen BER „Willy Brandt“

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/0102

Diese beiden Anträge sollen heute vertagt werden. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Wir kommen dann zur

lfd. Nr. 24:

Verfolgung von Homosexuellen in Deutschland seit 1945: Legislatives Unrecht beseitigen, erlittenes Unrecht entschädigen, Wissenschaft und Dokumentation voranbringen

Antrag der Fraktion Die Linke Drucksache 17/0103

Hier haben wir wieder eine Beratung. Jeder Fraktion steht eine Beratungszeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt in diesem Fall die Fraktion Die Linke. Dort hat der Kollege Dr. Lederer das Wort. – Bitte schön, Herr Dr. Lederer!

Vielen Dank! – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am heutigen 26. Januar fand am Mahnmal für die verfolgten Homosexuellen wieder einmal die jährliche Kranzniederlegung statt.

[Unruhe]

Entschuldigen Sie bitte, Herr Abgeordneter Dr. Lederer! Darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Es ist Unruhe hier im Saal. – Ich bitte die Gruppen, die Privatgespräche führen, das vielleicht draußen zu machen und dem Kollegen Dr. Lederer die nötige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. – Bitte schön!

Das ist inzwischen – zum Glück – möglich, weil es dem Engagement vieler Aktivistinnen und Aktivisten aus der Bewegung, aber auch vielen Vorkämpferinnen und Vorkämpfern aus den Parlamenten zu verdanken ist, dass der Deutsche Bundestag gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas einen solchen Gedenkort geschaffen hat.

Wir sind in der Situation, dass wir, wenn wir über die Verfolgung und Verurteilung insbesondere schwuler

Männer reden, immer noch über eine Zeit reden, die wir vor 1945 veranschlagen. Nur ist es so, dass auch nach 1945 für viele homosexuelle Männer das Dritte Reich nicht vorbei war. Inzwischen ist im Deutschen Bundestag anerkannt worden, dass der § 175 in der NS-Fassung, der 1935 verschärft worden ist, als nationalsozialistisches Unrecht zu betrachten ist, obwohl er in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 in Kraft war und auf dieser Grundlage auch Tausende Verurteilungen vorgenommen worden sind. Was bis heute nicht passiert ist, ist die kollektive Rehabilitierung und Entschädigung all derjenigen, die in der Deutschen Demokratischen Republik oder in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 aufgrund diskriminierender Strafvorschriften für schwule Männer verurteilt worden sind. Es ist an der Zeit – es leben nicht mehr viele. Und wenn wir wollen, dass der eine oder andere noch in den Genuss dieses an der Stelle ja nur sehr vorsichtigen Kompensierens großer Menschenrechtsverletzungen, die ihm angetan worden sind, kommen soll, dann muss es bald geschehen, sonst lebt nämlich bald keiner mehr.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Der Antrag, den wir Ihnen vorgelegt haben, beabsichtigt dreierlei: Er will erstens an das anknüpfen, was das Abgeordnetenhaus bereits 2009 im Rahmen der Initiative für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt schon einmal beschlossen hat: nämlich eine Bundesratsinitiative, die all diejenigen unterstützen soll, die seit Jahren versuchen, dieses Ziel im Deutschen Bundestag durchzusetzen. Es geht zweitens darum, über Rehabilitierung und Entschädigung hinaus die Bundesregierung zu veranlassen, eine Kommission mit der Aufarbeitung von Forschungslücken zu beauftragen. Es ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit, sich dieser Verantwortung zu stellen. Und es geht drittens darum, etwas zu tun, was wir ebenfalls seit 2009 in diesem Haus diskutieren und was über die Reihen aller Fraktionen hinweg hier immer wieder als wichtiges Anliegen angesehen worden ist, nämlich nicht nur zuzuschauen, wie andere etwas tun, sondern zu beginnen, an das anzuknüpfen, was seit 1933, 1934, 1935 in Berlin verschütt gegangen ist, nämlich nicht nur eine lebendige lesbisch-schwule Kultur, sondern darüber hinaus auch, Berlin als einen Kristallisationspunkt für moderne sexualwissenschaftliche Forschung zu betrachten, wie es damals im Magnus-Hirschfeld-Institut geschehen ist, das von den Nazis geschändet worden ist. Magnus Hirschfeld wurde ins Exil getrieben. Wir müssen dort anknüpfen.

Es ist oft gesagt worden, da hätte im Strafrecht ein Wandel der Sichtweisen stattgefunden. Nicht jedes Mal, wenn der Gesetzgeber Gesetze ändert, fängt er an, rückwirkend all diejenigen zu entschädigen und zu rehabilitieren, die noch unter alten Strafgesetzen verurteilt wurden. Aber ich glaube, mit Verweis auf Gerichtsurteile inzwischen auch des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sagen zu können: Es

geht hier nicht einfach nur um geänderte Ansichten des Gesetzgebers, sondern das, was dort passiert ist, war von Anfang an menschenrechtswidrig. Es war von Anfang an Unrecht, und es ist an der Zeit, das einzugestehen, die davon Betroffenen individuell zu entschädigen und insgesamt kollektiv in Rehabilitierung und Entschädigung zu gehen, indem wir diese Schritte vollziehen.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vor diesem Hintergrund will ich abschließend noch mal daran erinnern, dass in vielen europäischen Ländern die Homosexualität nicht strafbar war, dass auch im 19. Jahrhundert in vielen Staaten des Deutschen Bundes die Homosexualität nicht strafbar war, dass in der Weimarer Republik 1922 von Gustav Radbruch ein Reichsstrafgesetzbuchentwurf vorgelegt worden ist, in dem die Homosexualität nicht mehr strafbar war und dass es in den letzten Jahren der Weimarer Republik sogar zu einer Entscheidung des Strafrechtsausschusses des Deutschen Reichstags gekommen ist, der die Streichung des § 175 im Reichsstrafgesetzbuch vorsah. Die Nazis waren eine dunkle Zäsur. In der Bundesrepublik wie in der DDR hat es gedauert, bis es zur Umkehr kam.

Herr Kollege Dr. Lederer! Sie müssten zum Ende kommen.

Ich bin sofort fertig. – Und es ist jetzt an der Zeit, den letzten Schritt zu vollziehen. Ich bitte deshalb alle Fraktionen dieses Hauses um Zustimmung zu unserem Antrag.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN]

Vielen Dank! – Für die Fraktion der SPD spricht der Kollege Schreiber. – Bitte schön, Herr Schreiber!

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Der § 175 des Strafgesetzbuchs existierte vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Dieser stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. In diesem gesamten Zeitraum wurden ca. 140 000 Männer verurteilt. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Höchststrafe auf fünf Jahre angehoben und zusätzlich der § 175a eingeführt. In der ehemaligen DDR – Herr Lederer hat dazu gerade etwas gesagt – wurde zunächst die alte Fassung der §§ 175 und 175a übernommen. 1968 erhielt die DDR ein eigenes Strafgesetzbuch, und in § 151 wurden homosexuelle

Handlungen unter Strafe gestellt. Dieser wurde 1988 ersatzlos gestrichen.

Nicht umsonst ist der Internationale Tag gegen Homophobie am 17. Mai ein wichtiges Zeichen, zum einen wegen der abscheulichen Vergangenheit, zum anderen aber auch, um den Blick auf das Heute und Morgen zu legen. Solange Menschen sterben müssen, weil sie eine andere sexuelle Identität haben, solange müssen wir uns alle dafür einsetzen, dass Hass, Gewalt und Homophobie in Deutschland, in Europa und an anderen Ort dieser Welt keinen Platz haben.

[Allgemeiner Beifall]

Wir brauchen Vorreiter und Aufklärer wie einst Karl Heinrich Ulrichs, der sich seit 1865 massiv für die Abschaffung des § 175 eingesetzt hatte. Ich finde – das will ich an dieser Stelle deutlich sagen –, es ist auch Zeit, dass wir in Berlin in Schöneberg endlich eine Straßenumbenennung vollziehen. Dieses Jahr wäre ein guter Zeitpunkt. Es gibt Initiativen, und es wäre auch ein ordentliches Signal, das dieses Jahr zu tun.

In diesem Zusammenhang möchte ich aber auch – Klaus Lederer erwähnt dieses schon – Magnus Hirschfeld nennen. Ich denke, wir können stolz und froh sein, dass die amtierende Bundesregierung – Schwarz-Gelb – die Magnus-Hirschfeld-Stiftung beschlossen hat. Sie wird nämlich ein elementarer Bestandteil für die wissenschaftliche Forschung sein. Der Deutsche Bundestag hatte am 7. Dezember 2000 einstimmig sein Bedauern über die strafrechtliche Homosexuellenverfolgung und das erlittene Unrecht ausgesprochen. Es gab dort weiterhin Debatten über die Frage der Rehabilitierung, leider ohne Ergebnis und immer mit der Ablehnung durch eine Bundestagsmehrheit. Auch das muss man deutlich sagen.

Die große Koalition von SPD und CDU hat sich bewusst dafür entschieden, dass wir die Gründung eines MagnusHirschfeld-Instituts aktiv begleiten. Dieses haben wir zum einen im Koalitionsvertrag festgeschrieben, und zum anderen haben wir genauso festgeschrieben, dass wir uns als Koalition für die Interessen der nach 1945 aufgrund von § 175a Strafgesetzbuch und § 151 DDR-Strafgesetzbuch verurteilten Homosexuellen einsetzen werden.

Ich weiß, dass Frau Senatorin Kolat auf der Senatsebene ganz aktiv dieses Thema bearbeitet und es ihr ein wichtiges Anliegen ist. Das Berliner Abgeordnetenhaus kann stolz darauf sein, dass wir am 2. April 2009 einstimmig die Initiative „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ beschlossen haben. Ich denke, dieses Programm war einmalig in der Bundesrepublik, und ich gehe auch davon aus, dass wir im Laufe der Haushaltsberatungen etliche Bestandteile in dem neuen Doppelhaushalt verankern können.

SPD und Linke hatten damals diesen Aufschlag gemacht, und – ich bin ganz ehrlich – wir dürfen die Grünen nicht vergessen. Auch die haben einen wesentlichen Anteil

dazu beigetragen. Ich möchte auch daran erinnern, dass wir, sehr geehrter Herr Dr. Lederer, diese Bundesratsinitiative in der ISV enthalten hatten, sie aber leider in der vergangenen Wahlperiode nicht mehr umsetzen konnten. Das war leider so. Deswegen ist es wichtig, noch einmal deutlich zu sagen, dass wir als Koalition von SPD und CDU uns das auf die Fahnen geschrieben haben.

Wir hatten zum einen am 17. Mai 2011 ein wichtiges Fachsymposium, das Rot-Rot initiiert hatte. Daraus wird demnächst eine, wie ich finde, wichtige Dokumentation veröffentlicht, und – das war auch ein Anliegen der Initiative – es soll und wird ein rechtswissenschaftliches Gutachten von Prof. Dr. Mengel geben. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, den wir dann auch in der weiteren Debatte verfolgen sollten, denn wir müssen über dieses Thema in der neuen Wahlperiode in den Ausschüssen debattieren. Ich denke, dass diese Koalition sehr deutlich machen wird, dass uns dieses Thema am Herzen liegt, das Land Berlin ein vernünftiges Zeichen in Richtung Zukunft setzen wird und dass man Opfer dann auch endlich entschädigt. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[Allgemeiner Beifall]

Vielen Dank, Herr Kollege Schreiber! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt der Kollege Birk das Wort. – Bitte schön, Herr Kollege Birk!

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Tom Schreiber! Sie haben viel Richtiges gesagt, aber ich hätte mir doch eine konkretere Stellungnahme zum vorliegenden Antrag gewünscht. Sie haben jetzt von Entschädigung gesprochen, von Rehabilitation leider noch nicht. Ich hoffe, das ändert sich noch.

Denn bereits in den 80er- und 90er-Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menscherechte die Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen sowie die Festlegung unterschiedlicher strafrechtlicher Schutzaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention eingestuft. Damit ist gerichtlich bestätigt, im Nachkriegsdeutschland wurden in beiden deutschen Staaten die Menschenrechte von schwulen und bisexuellen Männern massiv verletzt. Und es ist hohe Zeit – Herr Lederer sagte es schon –, die Opfer dieser menschenrechtswidrigen Gesetzgebung endlich zu rehabilitieren und zu entschädigen.

[Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Insofern unterstützen wir selbstverständlich die von der Linken hier angestrebte Bundesratsinitiative zur Rehabilitierung und Entschädigung der nach den §§ 175, 175a

Strafgesetzbuch bzw. Strafgesetzbuch DDR und § 151 Strafgesetzbuch DDR verurteilten Männer. Entsprechende Anträge hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits im Dezember 2008 und erneut im Dezember 2010 in den Bundestag eingebracht. Es besteht allerdings wenig Hoffnung, dass es unter der schwarz-gelben Bundesregierung zu einem solchen Gesetz kommen wird. Und das finden wir unerträglich.

[Beifall bei den GRÜNEN, der LINKEN und den PIRATEN]

Ich appelliere umso mehr an die Kolleginnen und Kollegen der rot-schwarzen Koalition, ihren Koalitionsvertrag an dieser Stelle ernstzunehmen und sich nicht wegzuducken vor dem Schicksal der Männer, denen durch diese gesetzliche Repression und die damit einhergehende gesellschaftlichen Ächtung das Recht auf Liebe und ein erfülltes Leben unwiederbringlich genommen wurde. Viele Schwule führten Scheinehen, in stetiger Angst, entdeckt zu werden und damit mehrjährige Gefängnisstrafen, die Ausgrenzung vom Berufs- und gesellschaftlichen Leben und den Verstoß durch die Familie durchleiden zu müssen. Somit war der Alptraum für homosexuelle Männer nach der Nazi-Zeit keineswegs beendet.

§ 175 galt in Deutschland Ost bis 1950 und in West bis 1969 in der von den Nazis verschärften Form fort, nach der es nicht einmal einer körperlichen Berührung bedurfte, um verurteilt zu werden. Viele wanderten aus dem KZ geradewegs ins Zuchthaus. 1957 wurde der § 175 auch noch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt mit so absurden Begründungen, dass sie heute nur noch Kopfschütteln und Schmunzeln hervorrufen, aber diese Zitate spare ich mir heute, weil mir die Sache einfach zu ernst ist.

Die gesellschaftliche Ächtung von schwulen Männern wirkte noch lange – auch mit dem entschärften § 175 Strafgesetzbuch und dem § 151 Strafgesetzbuch DDR – fort. Und es war noch ein langer Weg bis zur vollkommenen Abschaffung des § 175 im Jahr 1994. In der Bundesrepublik gab es über 100 000 Ermittlungsverfahren, und über 60 000 Männer wurden nach diesen Paragrafen verurteilt. Leider sind viele von ihnen bereits verstorben. Die Überlebenden haben ein Anrecht, endlich ohne Vorstrafe alt zu werden und wenigstens symbolisch finanziell haftentschädigt zu werden.