Protokoll der Sitzung vom 09.02.2012

Dann möchte ich Sie aber auch bitten, nicht zu behaupten, dass hier jeder Person, die von Gewalt bedroht wird,

auch wirklich geholfen wird. Das müssen Sie wahrscheinlich tun. Das weiß ich, aber das ist sachlich wirklich falsch. Sonst hätten wir nicht so viele Menschen, die immer noch Hilfe suchen und diese Hilfe nicht finden. Deshalb haben wir Ihnen diese niedrigschwelligen Angebote gemacht. Die Ergebnisse, die Sie vorlegen, kann ich nicht nachvollziehen. Das muss ich Ihnen auch genauso deutlich sagen. Ich glaube, dass es hier noch einen Bedarf gibt. Ich glaube, dass es Berlin besser kann, und ich will gerne mithelfen, dass es Berlin auch besser macht. Da ist noch Arbeit zu tun. Wir sind noch nicht am Ende. Das hat Ihre Rede mir vermittelt. Es ist alles wunderbar. Es ist alles geregelt. Bitte, setzen Sie sich nicht hin und ruhen sich aus, sondern lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass wir immer besser werden! – Danke!

[Beifall bei den GRÜNEN]

Danke, Frau Kollege Kofbinger! – Frau Dr. Czyborra, wünschen Sie eine Erwiderung? – Brauchen Sie nicht, gut! – Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Sommer das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Opfer von Zwangsheirat und Gewalt brauchen Schutz, wurde hier schon mehrmals gesagt. Seit Jahren existiert in Berlin ein hochprofessionelles System von Beratung und Hilfseinrichtungen. Frau Czyborra! Das ist nicht Ihre Leistung bzw. nicht die Leistung der Koalition dieser Legislaturperiode, sondern geht auf Rot-Rot zurück. Wir haben durch Etaterhöhungen und zweijährige Verträge Planungssicherheit für die Frauenprojekte in allen Bereichen, auch im Antigewaltbereich, geschaffen. Das System muss natürlich weiter ausgebaut werden. Es gibt eine Studie vom Bundesministerium für Frauen, Familie und Jugend, die auch noch mal darauf hinweist, dass häusliche Gewalt gegen Mädchen und Frauen wieder zunimmt. Darüber hinaus bin ich in mehreren Fachgesprächen mit Vertreterinnen des Interkulturellen Frauenhauses und BIG – Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen – mehrfach darauf hingewiesen worden, dass viele Frauenhäuser in Berlin mittlerweile überfüllt sind.

Liebe Frau Kolat! Sie haben diese Engpässe gewissermaßen selbst im Ausschuss zugegeben. Als Gründe dafür nannten Sie, dass Frauen einerseits aufgrund der schwierigen Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt länger in den Notunterkünften bleiben. Darüber hinaus nutzen auch Frauen aus anderen Bundesländern die Angebote. – Frau Czyborra hat es auch noch mal gesagt. – Frau Senatorin! Jede Frau, die Opfer von Gewalt ist, hat ein Anrecht auf Schutz. Wir sollten froh darüber sein, dass das Land Berlin diesen Frauen auf jeden Fall immer helfen kann. Außerdem brauchen diese Frauen nicht unbedingt eine neue Wohnung – vielleicht später –, sie brauchen zual

lererst Schutz vor Gewalt. Der Mord an Frau Hatun Sürücü, der sich vor zwei Tagen – das hat meine Kollegin Frau Kofbinger schon gesagt – zum siebten Male jährte, war kein Einzelfall. So etwas könnte sich jederzeit wiederholen, was wir natürlich nicht hoffen. Wir können nicht von der Hand weisen, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Es liegen klare Zahlen vor, die das auf jeden Fall bestätigen. Es existieren deutliche Berichte aus den Frauenhäusern, die das auch zeigen, dass die Situation jederzeit zu kippen droht. Die Regierungsfraktionen SPD und CDU scheinen dies aber zu ignorieren, und deswegen unterstützen wir auch den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Mit unserem Änderungsantrag jedoch möchten wir ihn um einen Punkt erweitern, der unserer Meinung nach unabdingbar ist. Anlaufstellen und Hilfseinrichtungen müssen bedarfsgerecht ausgestattet und finanziell abgesichert sein. Dazu gehört auch eine tarifgerechte Entlohnung der Mitarbeiterinnen in den Projekten. Wir haben uns nicht damit zufrieden gegeben, das Thema an dieser Stelle für erledigt zu erklären, sollten die Anträge heute im Plenum keine Mehrheit finden. Häusliche Gewalt gegen Frauen und Zwangsverheiratung sind ressortübergreifende Probleme. Da sind auch die Jugendämter mit beteiligt und involviert. Bedauerlichweise haben wir diese Anträge lediglich im Frauenausschuss behandelt. Deswegen haben wir als Fraktion Die Linke eine Anhörung beantragt, an der sowohl der Frauen- als auch der Jugend- und Bildungsausschuss teilnehmen sollen.

Lassen Sie mich kurz zum Schluss einige Worte zum Änderungsantrag der Piraten sagen. Die Piraten halten die Unterteilung in Männer und Frauen für überholt, doch ignorieren leider dabei, liebe Piraten, die gesellschaftliche Realität, sprich: die strukturelle Ungleichheit. Ich selbst wünsche mir, dass die klassische Rollenzuweisung der Vergangenheit angehört.

[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und den PIRATEN]

Allerdings erfahre ich jeden Tag aufs Neue, dass Frauen fast auf allen Ebenen der Gesellschaft benachteiligt werden. Postgender, liebe Piraten, ist meines Erachtens eine Fiktion. Wir leben in der Wirklichkeit.

[Beifall von Antje Kapek (GRÜNE)]

Sie wollen mit Ihrem Änderungsantrag Männer und Jungen als Opfer von Zwangsheirat in den Antragstext aufnehmen. Es ist richtig, dass auch Männer und Jungen zwangsverheiratet werden. Ihre Zahl ist jedoch weitaus geringer, wie auch das Maß an Gewalt. Eine Nennung im gleichen Atemzug würde eine enorme Relativierung der Gewalt an Frauen bedeuten. In den meisten Fällen handelt es sich eher um eine arrangierte Ehe. Männer und Jungen, die sich dagegen wehren, erfahren kaum Gewalt – im Vergleich zu Frauen. Arrangierte Ehen bei Männern und Jungen werden oft vorgenommen –

Frau Kollegin! Sie müssten bitte zum Ende kommen!

ich komme gleich zum Ende –, wenn der Mann oder der Junge homosexuell oder aus Sicht der Familie auf die falsche Bahn gekommen ist. Darum bitte ich Sie, den Antrag der Piratenfraktion abzulehnen. Unterstützen Sie unseren Antrag und den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen! – Danke schön!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Ülker Radziwill (SPD)]

Vielen Dank, Frau Kollegin Sommer! – Für die Fraktion der CDU hat jetzt die Kollegin Vogel das Wort. – Bitte schön, Frau Kollegin Vogel!

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwangsverheiratung ist und bleibt ein Verbrechen. Die CDU-Fraktion setzt sich ganz klar für die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen ein. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich das von der Bundesregierung im vergangenen Jahr verabschiedete Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsverheiratung und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat. Erstmalig wurde hier von der unionsgeführten Bundesregierung Zwangsverheiratung als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen.

Der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wurde ausführlich im Ausschuss beraten und diskutiert. Senatorin Kolat hat deutlich gemacht, dass Berlin in Bezug auf Anzahl und Vielfalt an Angeboten und Ansprechpartnern bundesweit beispielgebend ist. Es gibt eine Vielzahl überbezirklicher und auch bezirklicher Angebote in Form von Anlaufstellen und Informationsstellen für betroffene Frauen und auch Männer. Diese werden sogar teilweise von anderen weniger gut ausgestatteten Bundesländern genutzt. In jedem Berliner Bezirk sind die Jugendämter und die Gleichstellungsbeauftragten Ansprechpartner für Betroffene. Senatorin Kolat hat ferner erläutert, dass die umfassende Öffentlichkeitsoffensive in den letzten Jahren doch gegenwärtig dazu beigetragen hat, die Problematik von Zwangsverheiratung und Gewalt in das öffentliche Bewusstsein zu bringen.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch ausdrücklich auf das Frauenhilfetelefon hinweisen, welches bundesweit zum Ende des Jahres geschaltet wird. Dieser Gesetzesbeschluss geht auf eine Initiative der CDUBundesministerin Schröder zurück und wird auch dazu dienen, die Akteure vor Ort besser zu vernetzen. Zum Frauenhilfetelefon wird es ebenfalls eine umfassende Öffentlichkeitskampagne geben, die weiterhin die Sen

sibilität für Zwangsverheiratungen und Gewalt erhöhen wird.

Die Berliner CDU-Fraktion ist nach gründlicher Überlegung und Auswertung der geschilderten Sachlage zu dem Schluss gekommen, dass der vorliegende Antrag gut gemeint, aber entbehrlich ist. – Danke!

[Beifall bei der CDU und der SPD]

Vielen Dank, Frau Kollegin Vogel! – Für die Fraktion der Piraten hat jetzt der Kollege Kowalewski das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine erste zweite Lesung, und ich bin tatsächlich enttäuscht. Ja, das passiert. Das kann so schnell gehen.

[Anja Kofbinger (GRÜNE): Das wird Ihnen noch ganz oft passieren!]

Danke für die Vorwarnung, Frau Kofbinger! Zu Ihnen komme ich auch noch. Ich bin nämlich auch noch da. Sie haben mich gerade total übergangen. – Ich bin einerseits enttäuscht, weil alle drei Anträge im Ausschuss abgelehnt worden sind. Es waren drei Anträge, die meiner Meinung nach alle sehr gut waren. Alle sind abgelehnt worden. Ich gebe Ihnen aber erst einmal recht, Frau Kofbinger. Trotz der angeblich schönen Zahlen ist natürlich jeder und jede Betroffene, die oder der nichts von den existierenden Angeboten erfahren oder die aus irgendwelchen Gründen abgewiesen werden, eine oder einer zu viel. Deswegen, Frau Czyborra, können wir nicht einen Menschen an dieser Stelle alleine lassen, der unsere Hilfe braucht.

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Wenn bei der Deutschen Bahn die ICE-Züge durchschnittlich zu 60 Prozent besetzt sind, heißt das trotzdem, dass in manchen Zügen etliche Leute stehen. Es hilft ihnen auch nichts, dass sie wissen, dass vielleicht an einem anderen Wochentag ganze Wagen leer sind.

[Antje Kapek (GRÜNE): Er geht hier um Menschen, nicht Maschinen!]

Es war ein Vergleich, vielleicht kann man es sich so besser vorstellen.

Wer einen Anlauf wagt, sich Hilfe zu suchen, wer es tatsächlich schafft, aus seiner familiären Situation herauszugehen, wer so verzweifelt ist, wirklich solch eine Beratungsstelle aufzusuchen und genau an diesem Tag keine Hilfe findet, der kehrt in eine noch wesentlich schwierigere Situation zurück. Wer weiß, ob dieser Mensch je

mals noch einen Versuch wagen wird oder überhaupt die Möglichkeit dazu haben wird.

[Beifall bei den PIRATEN]

Auch wenn die Bundesregierung sinnvolle Programme auflegt, entlässt das Berlin nicht aus der Pflicht, das Möglichste zu tun.

Ich bin auch enttäuscht, dass meine Fraktion gerade wieder aufgrund unserer Antrags so herber Kritik ausgesetzt gewesen ist.

[Zuruf von Sven Kohlmeier (SPD)]

Ich glaube, Frau Sommer, Sie wollen uns gar nicht verstehen.

[Evrim Sommer (LINKE): Doch, doch!]

Wenn wir allen Betroffenen unabhängig von ihrem biologischen oder sozialem Geschlecht helfen wollen, dann heißt das nicht, dass wir irgendwem nicht helfen wollen. Gerade weil sich vielleicht die meisten Männer aus eigener Kraft aus Zwangsehen oder zwangseheähnlichen Situationen befreien können, heißt das, dass diejenigen, die dies nicht können, noch schlechter gestellt sind. Es stellt für sie natürlich einen wesentlich größeren Gesichtsverlust dar, sich Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen. Die Hilfemöglichkeiten sind nun einmal eingeschränkter. Deshalb frage ich Sie, in welcher Realität Sie leben.

Herr Kollege Kowalewski! Gestatten Sie ganz kurz! – Meine Damen und Herren! Es ist ein hoher Geräuschpegel im Raum. Ich bitte darum, die Privatgespräche einzustellen, und dem Kollegen zu folgen. – Danke!

Frau Sommer! Wir wollen eben keine Beratungsstelle extra für Männer, die dann den Beratungsstellen für Frauen das Budget „wegfrisst“, sondern wir wollen einfach nur die Hilfe für alle von Zwangsehen betroffenen Menschen, die sich mit der Bitte um Hilfe, mit der Suche nach Rat an uns wenden, unabhängig davon, wie sie sich angeblich aufgrund irgendwelcher Geschlechterrollen verhalten müssten.

[Beifall bei den PIRATEN]

Dass es kaum belastbare Zahlen darüber gibt, wie viele Männer aus Zwangsverheiratungen oder aus zwangsverheiratungsähnlichen Situationen kommen, bestätigt nur, dass es einiges an Nachholbedarf an wissenschaftlicher Aufarbeitung gibt. Niedrigschwellig darf nämlich nicht heißen, Frau Czyborra, dass keine Evaluation stattfinden darf.

Sollte jetzt auch hier im Plenum der Antrag abgelehnt werden, möchte ich SPD und CDU beim Wort nehmen

und bin gespannt auf die durchzuführende Anhörung, die zeigen wird, ob diese Situation wirklich keiner Verbesserung bedarf. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Vielen Dank, Kollege Kowalewski! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.

Zum Antrag mit der Drucksachennummer 17/0030 empfiehlt der Fachausschuss mehrheitlich – gegen Grüne, Linke und Piraten – die Ablehnung. Wer dem Antrag dennoch zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion Die Linke, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Piratenfraktion. Wer ist dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Letzteres ist die Mehrheit. Damit ist der Antrag abgelehnt.

[Zurufe von den PIRATEN: Auszählen!]