Gemeinsam mit dem Land Brandenburg ein Aufnahmeprogramm zur humanitären Hilfe für besonders Schutzbedürftige entwickeln
Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 18/1322
In der Beratung beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Für sie spricht Frau Abgeordnete Jarasch.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren in jeder Plenarsitzung einen ganzen Haufen Anträge. Manche sind konkrete und klug durchdachte Handlungsaufträge für eines der vielen Probleme im Land Berlin. Andere sind weniger gut durchdachte und kluge Vorschläge, wieder andere betreiben bloße Symbolpolitik. Dieser Antrag, über den wir jetzt beraten, kann keine Kriege beenden und auch nicht den IS-Terror, aber er wird ganz konkret Menschenleben retten. Denn mit diesem Antrag beschließen wir, dass das Land Berlin jährlich 100 Menschen, die für uns unvorstellbar schlimme Dinge erlebt haben und weder in ihrer Heimat noch an ihrem Zufluchtsort sicher sind, hier zur Ruhe kommen und vielleicht, hoffentlich, ein neues Leben beginnen können.
Es können Menschen sein wie Nadia Murat. Ich habe sie Anfang letzten Jahres bei unserem Bundesparteitag sprechen hören, und das hat mich tief bewegt. Nadia Murat ist eine zierliche junge Frau, die leise spricht und fast so wirkt, als sei ihr ein großes Publikum ein bisschen peinlich. Sie ist Jesidin. Ihre Mutter und sechs ihrer Brüder wurden vom IS im Irak getötet. Sie selbst hat die Entführung und Versklavung durch den IS überlebt. Das Land Baden-Württemberg hat sie und andere Jesidinnen mit ähnlichem Schicksal nach Deutschland geholt. Heute ist Nadia Murat Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen und reist unermüdlich durch die Welt, um auf das Schicksal ihres Volkes und anderer religiöser Minderheiten im Irak aufmerksam zu machen und die Strafverfolgung der Täter einzuklagen.
Viele Jesidinnen leben nach wie vor im Irak, als Binnenvertriebene im eigenen Land. Viele haben Kinder von ihren Vergewaltigern bekommen. Weil diese Kinder von ihren eigenen Familien meist abgelehnt werden, müssen die Frauen sich zwischen ihrer Familie und ihren Kindern entscheiden. Nein, wir können nicht alle zu uns holen. Aber wir können einen Beitrag leisten, indem wir zumindest einige von denen auf sicheren Wegen einreisen lassen, die den Schutz am dringendsten brauchen und die es aus eigener Kraft nicht hierher schaffen würden.
Solche besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge gibt es natürlich nicht nur in Syrien und im Irak. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ist flüchtig. Der UNHCR sucht verzweifelt nach Staaten, die bereit sind, die Opfer vergessener Konflikte auch aus anderen Weltregionen aufzunehmen. Deshalb haben wir unser Programm bewusst auch für andere Gruppen geöffnet, die vom UNHCR und anderen UN-Organisationen betreut und als besonders schutzbedürftig eingestuft werden.
Und jetzt an die Adresse der AfD, die einen Änderungsantrag gestellt hat: Nein, unser Kriterium bei diesem Aufnahmeprogramm ist nicht die Integrationsfähigkeit der Opfer. Sie wollen offenbar nur Jesidinnen aufnehmen, weil die Täter in dem Fall IS-Terroristen sind. Aber ich kann nur sagen: Uns geht es um den Schutz der Opfer. Dabei ist es völlig irrelevant, wer eine Frau vergewaltigt, versklavt oder ihre Familie getötet hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar, froh und auch stolz darauf, dass die Berliner Koalition gerade jetzt ein solches Programm auflegen will: in einer Zeit, in der mehr über Grenzsicherung diskutiert wird als darüber, wie grundlegende Menschenrechte in Zeiten von Terror und Bürgerkriegen gewahrt werden können. Berlin zeigt sich damit als Solidarity City. Als Hauptstadt und internationale Metropole steht Berlin für ein Europa, das sich seiner Verantwortung bewusst ist, Herausforderungen solidarisch meistert und Menschenrechte als gemeinsame Wertegrundlage verteidigt. Denn für uns gilt: Nicht die Migration ist die Mutter aller Probleme, sondern die Angstmacherei. – Ich danke Ihnen!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ziel, verfolgte Jesidinnen im Rahmen eines Sonderkontingents aufzunehmen, eint dieses Haus und, soweit ich das sehen kann, auch alle Fraktionen. Aber, liebe Kollegin Jarasch, wenn Sie davon sprechen, wie froh Sie sind, dass die Koalition gerade jetzt diesen Antrag stellt: Wir haben schon Anfang des Jahres darüber gesprochen, und zwar über die Fraktionen hinweg, einen solchen Antrag zu stellen. Wir haben jetzt Ende September, acht Monate hat die Koalition gebraucht, um sich dazu durchzuringen, einen Antrag zu stellen für ein Sonderkontingent von 100 Menschen im Jahr. Und dann können Sie sich, anders als die Brandenburger, eben nicht durchringen zu sagen, wen Sie eigentlich hierherholen wollen, insofern habe ich durchaus ein gewisses Verständnis für die Änderungsanträge, die auf dem Tisch liegen
Natürlich gibt es besonders Schutzbedürftige, nicht nur im Nordirak, nicht nur in Syrien, sondern auf die ganze Welt verteilt, das ist ja gar keine Frage. Aber wenn Sie ein Sonderprogramm mit einem Sonderkontingent auflegen wollen: Wie wollen Sie denn die Menschen hier betreuen und wie wollen Sie denn damit umgehen, wenn Sie Schutzbedürftige aus allen Teilen der Welt hierherholen und keinesfalls auf die Besonderheiten der jeweiligen Schutzbedürftigen eingehen? Wenn Sie auch aus anderen Teilen und aus anderen Religionen Menschen hierherholen wollen, dann machen Sie das gerne, dann beantragen Sie das mit einem gesonderten Antrag und begründen Sie das gesondert, aber stellen Sie keine Anträge, die so unsubstanziiert sind, dass nachfolgende Senate gar nicht mehr in der Lage wären zu beurteilen, was mit diesem Antrag eigentlich gemeint wäre!
Gleich, gerne. – Bei der Frage, wen Sie tatsächlich meinen, waren Sie doch selber ganz klar: Sie haben zwei Drittel Ihrer Redezeit dazu verbraucht zu erklären, warum Jesiden in einem Sonderprogramm hierherkommen müssen, was ich vollkommen richtig und überzeugend finde, und wenn wir es gemeinsam mit dem Nachbarland Brandenburg machen können, dann ist das in Anbetracht der Situation vor Ort auch vollkommen unstreitig. Aber einigen Sie sich in der Koalition darauf, wen Sie eigentlich meinen. – Jetzt gerne die Zwischenfrage!
Frau Seibeld! Stimmen Sie mit mir überein, dass ein solches Aufnahmeprogramm eben keine Symbolpolitik sein sollte, sondern gut vorbereitet und dass deswegen
eine ganze Reihe von Fragen geklärt sein muss, bevor man tatsächlich einen Antrag einbringt? Dazu gehören Fragen wie: Wer wählt vor Ort diejenigen aus, die als besonders schutzbedürftig gelten? Wie kommen die hierher? Wie werden die hier untergebracht, in welcher Art von Unterbringung, und wie betreut? Das ist meine Frage.
Soweit ich sehen kann, haben Sie die Anträge aus BadenWürttemberg und Brandenburg, was die Frage angeht, wer wählt aus und wie kommen sie hierher, abgeschrieben. Dass Sie dafür ein Dreivierteljahr brauchen, wundert mich.
Aber die gute Nachricht ist: Ich gehe davon aus, dass Sie das Programm, nachdem Sie sich jetzt so gut vorbereitet haben, dann unmittelbar in der übernächsten Ausschusssitzung beraten, und dann können wir unmittelbar noch in diesem Jahr durchstarten, und noch Ende 2018 werden die ersten 100 Menschen hier sein. Darauf freue ich mich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir alle erinnern uns noch an Bilder, die immer wieder im Fernsehen zu sehen waren: Der sogenannte Islamische Staat hat bei seinem Sturm auf Syrien und den Irak versucht, die Volks- und Religionsgruppe der Jesidinnen und Jesiden auszurotten. Tausende Männer wurden ermordet, Kinder zu Kindersoldaten ausgebildet und Frauen verschleppt, vergewaltigt und als Beute auf einem florierenden Sklavenmarkt des 21. Jahrhunderts verkauft. Hunderttausende Menschen flohen. Zurückgekehrt sind bisher nur wenige. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR geht davon aus, dass derzeit insgesamt rund 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Viele davon suchen als sogenannte Binnenvertriebene, zu denen auch die meisten Jesidinnen und Jesiden zählen, Schutz im eigenen Land. Andere fliehen in die angrenzenden Nachbarstaaten. Nur ein kleiner Teil der Menschen macht sich auf den Weg nach Europa.
Für besonders schutzbedürftige Menschen bleibt der strapaziöse Weg über Meer oder Land jedoch meistens versperrt. Kinder, Schwangere, Alte, Kranke oder Menschen ohne Geld sind deshalb auch bei uns in regulären Asylverfahren unterrepräsentiert. Einer der wenigen Wege für sie, das Land zu verlassen, sind Programme, die für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aufgelegt werden.
Eines davon ist das Resettlementprogramm der Bundesregierung. Das Programm bietet mehr als 10 000 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen einen legalen Zugang nach Deutschland. Nicht eingeschlossen ist dabei jedoch die Gruppe der Binnenvertriebenen und damit unter anderem die Jesidinnen und Jesiden, die im Nordirak Unterschlupf gefunden haben. Sie profitieren nicht vom Resettlementprogramm. Deshalb wollen wir als rot-rot-grüne Koalition mit unserem Antrag sicherstellen, dass sich wenigstens ein Teil dieser schwer traumatisierten Menschen eine sichere Lebensperspektive in Berlin aufbauen kann.
Über ein humanitäres Aufnahmeprogramm, wie es im Antrag gefordert wird, kann besonders schutzbedürftigen Menschen geholfen werden. Wie gerade schon gesagt, machen es uns andere Bundesländer wie Baden-Württemberg, Brandenburg und Schleswig-Holstein vor, und von denen dürfen wir ruhig lernen. Baden-Württemberg hat 1 000 IS-Opfer aufgenommen und Projekte in der nordirakischen Provinz unterstützt, um die humanitäre Situation vor Ort zu verbessern und neue Existenzmöglichkeiten zu schaffen.
Auch die brandenburgische Landesregierung fördert Projekte vor Ort und will Jesidinnen und ihre Kinder in Brandenburg aufnehmen. Die Auswahl der Schutzbedürftigen erfolgt hier vor Ort in Kooperation mit UN-Organisationen wie beispielsweise dem UNHCR. Die Umsetzung des brandenburgischen Programms stockte jedoch, weil weder die Bundesregierung noch andere Bundesländer bereit waren, ein gemeinsames Aufnahmeprogramm für Jesidinnen und Jesiden aufzulegen. Das müssen wir endlich ändern.
Ziel unseres humanitären Aufnahmeprogramms sollte es dabei sein, dass 100 Menschen pro Jahr in Berlin Schutz und eine neue Heimat finden können. Die Menschen, die schwer traumatisiert sind, können in Berlin psychosozial betreut werden und in einem sicheren Umfeld zur Ruhe kommen. Neben Flüchtlingen und Binnenvertriebenen aus der Region Syrien und Nordirak sollte das Programm so aufgelegt werden, dass in Zukunft auch Schutzbedürftige aus anderen Krisenregionen der Welt aufgenommen werden können. Auch dies sieht der Antrag vor.
Die Lage der jesidischen Minderheit im Nordirak hat sich auch in diesem Jahr nicht verbessert. Deshalb finde ich es richtig, dass wir uns im Abgeordnetenhaus mit dem Thema befassen und darauf hinwirken, gemeinsam mit dem Land Brandenburg ein entsprechendes Aufnahmeprogramm zur humanitären Hilfe für besonders Schutzbedürftige zu entwickeln. Wir sollten der Tradition in Berlin folgen und schutz- und heimatlosen Menschen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir können dem Antrag der Koalition zustimmen, soweit es konkret um die Aufnahme von Jesiden geht, die unter brutaler Verfolgung durch den Islamischen Staat zu leiden hatten. Wir begrüßen, dass Sie endlich einmal die Notlage nicht muslimischer Minderheiten in der arabischen Welt in den Blick nehmen.
Deren prekäre Situation ignorieren Sie ja meist, weil Sie sich sonst unliebsamen Rückschlüssen auf die fehlende Toleranz gegenüber Andersgläubigen muslimisch dominierter Gesellschaften stellen müssten.
Sobald Sie aber darüber hinaus eine Blankovollmacht für die künftige Aufnahme von Menschen aus nicht näher definierten Krisenregionen wollen, können wir nicht mehr mitgehen. Hier fehlt uns schlicht das Vertrauen, dass Sie auch tatsächlich in Zukunft immer eine sachgerechte Auswahl von wirklich schutzbedürftigen Gruppen treffen werden.