Protokoll der Sitzung vom 07.03.2019

[Stefanie Fuchs (LINKE): Ja!]

Da bedenken Sie aber ein paar Dinge nicht, denn Sie haben das Urteil anscheinend nicht vollständig gelesen. Das Urteil enthält nämlich eine sehr wichtige Feststellung, mit der sich das Abgeordnetenhaus befassen muss. Es stellt klar – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin:

Ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht kann verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen ist, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und

(Stefanie Fuchs)

Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht.

Dies kann klar als Gesetzgebungsauftrag verstanden werden. Eine einfache ersatzlose Streichung der bisherigen Regelung löst damit noch lange nicht das verfassungsrechtliche Dilemma bei der Frage, wie mit entscheidungsunfähigen Personen bei der Wahl zu verfahren ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil auch noch einmal klargestellt, dass Wahlrechtsausschlüsse aufgrund von geistiger Behinderung nicht automatisch gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Die Dringlichkeit, mit der Rot-Rot-Grün diese Änderung des Wahlrechts durch die Ausschüsse des Parlaments gebracht hat, ohne die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten, war fahrlässig, denn wir müssen uns schon Gedanken darüber machen, was wir nun an die Stelle der bisherigen Regelungen treten lassen. Die bisherigen Regelungen haben nur gesagt, dass die Kriterien, die dort verwandt wurden für die Feststellung eines Wahlrechtsausschlusses, wie die Bestellung eines Betreuers oder die Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, nicht ausreichen, sondern dass es einer anderen Art der Prüfung bedarf, um das festzustellen.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Topaç?

Nein, danke! Ich verzichte gerne auf Zwischenfragen.

[Lachen von Stefanie Fuchs (LINKE)]

Es ist daher unsere gesetzgeberische Pflicht, eine alternative Regelung zu entwerfen und zu schaffen, und dies kann aufgrund der Kürze der Zeit nicht mit der notwendigen Sorgfalt erfolgen. Wir müssen natürlich auch gucken, was die Bundesebene macht.

[Stefanie Fuchs (LINKE): Müssen wir nicht!]

Das Bundeswahlgesetz wird jetzt angepasst werden, und wir als Land sollten uns an der Gesetzgebung des Bundeswahlgesetzes orientieren, denn nichts ist schlimmer, als dass es in den verschiedenen Bundesländern auch noch verschiedene Wahlrechtsgrundsätze gibt. Insofern wird es jetzt erst einmal die Folge sein, dass an den kommenden Wahlen auch Personen teilnehmen, welchen die erforderliche Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess fehlt. Wir müssen als Gesetzgeber dort nun eine entsprechende Regelung oder Anpassung finden. Wir werden uns daher bei der Abstimmung enthalten.

[Stefanie Fuchs (LINKE): Und dann nicht mal den Arsch in der Hose, dagegen zu stimmen! – Benedikt Lux (GRÜNE): Das war an Geeiere kaum zu überbieten! – Stefanie Fuchs (LINKE): Unglaublich!]

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Abgeordnete Topaç. – Bitte, Sie haben das Wort!

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste!

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist bis heute die Leitschnur für die gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung aller Menschen.

[Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Mit Artikel 1 habe ich bereits in der ersten Lesung zum inklusiven Wahlrecht meine Rede begonnen, falls Sie sich erinnern können. Umso mehr freue ich mich, dass wir heute in der zweiten Lesung das Landeswahlgesetz endlich ändern und einen wichtigen Schritt gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung gehen und damit die Menschenrechte umsetzen. Artikel 1 gilt unverändert. – Jetzt könnt ihr klatschen.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Für eine Demokratie, deren Regierung und deren Volksvertreterinnen und -vertreter durch das Volk gewählt werden, bedeutet dies, dass alle Bürgerinnen und Bürger eines Staates, wie hier in Berlin eines Bundeslandes, ihr Wahlrecht vollumfänglich in Anspruch nehmen können. Diese Koalition ist angetreten, um allen Menschen mit Behinderung endlich das Wahlrecht zu ermöglichen. Heute lösen wir dieses Versprechen ein.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Denn der pauschale Wahlrechtsausschluss für Menschen, denen für die Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer oder eine Betreuerin zugeordnet ist, stellte bisher nichts anderes dar, als sie ihrer vollen Rechte als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen und -bürger zu berauben. Das ist jetzt Geschichte, zumindest im Land Berlin. Genauso wie alle Menschen frei und gleich geboren und mit Vernunft begabt sind, genauso genießen alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger das Wahlrecht. Mit dieser Gesetzesänderung ist Berlin eines der Bundesländer, die Vorreiter sind, um die menschenrechtlichen Ansprüche der UN-BRK umzusetzen.

Es ist höchste Zeit, dass sich an dieser Stelle nun auch der Bund in der Großen Koalition bewegt. Das Verfas

(Marc Vallendar)

sungsgericht hat jüngst bestätigt, dass Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderung verfassungswidrig sind. Das ist eine klare Ansage. Nun kann sich auch der Bund nicht mehr wegducken, sondern muss die Wahlrechtsausschlüsse abschaffen, noch vor der Europawahl.

Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention gibt uns unverrückbar vor, dass Menschen mit Behinderung ihre politischen Rechte gleichberechtigt mit anderen wahrnehmen können, und zwar überall.

Nach dem Landeswahlgesetz allerdings waren all jene Menschen pauschal vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Für die Besorgung aller ihrer Angelegenheiten wurde ein Betreuer oder eine Betreuerin bestellt. Dem lag die pauschale Vermutung zugrunde, dass diese Personen nicht in der Lage seien, ihren politischen Willen an der Wahlurne kundzutun. Jedoch kann nur der, der wählen kann und seine politischen Rechte in Anspruch nimmt, an dieser Gesellschaft vollumfänglich teilhaben. Deshalb möchte diese Koalition die Teilhabe aller Berlinerinnen und Berliner ermöglichen, und das inklusive Wahlrecht ist ein zentraler Baustein auf dieser Wegstrecke.

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]

Wir alle, die wir seit Jahren für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen kämpfen, feiern heute diesen Tag, denn der heutige Tag ist ein wichtiger Meilenstein auf einer langen Wegstrecke für das Menschenrecht auf Teilhabe. Dieses wurde niemandem geschenkt, sondern musste immer hart erkämpft werden. Wir wissen, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung ist noch längst nicht vorbei und muss auch in weiteren Lebensbereichen konsequent abgebaut werden – nicht nur an der Wahlurne, auch auf dem Arbeitsmarkt, auf dem Ausbildungsmarkt, bei der Wohnungsvergabe, beim Thema Mobilität und natürlich auch bei der Teilhabe am kulturellen Leben. Diese Aufzählung ist nicht abschließend. Dieser Kampf braucht einen langen Atem und Menschen, die sich konsequent einbringen und für ihre Rechte kämpfen.

Vielleicht ein letztes Wort, adressiert an alle demokratischen Parteien hier in diesem Haus: Es wird spätestens jetzt Zeit, dass wir alle zu den nächsten Wahlen tatsächlich Menschen mit Behinderung aufstellen und sie auch wählen, damit sie demnächst auch in diesem Hause ihre Arbeit aufnehmen können. – Vielen Dank!

[Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und der LINKEN]

Für die Fraktion der FDP spricht jetzt Herr Abgeordneter Seerig. – Sie haben das Wort, bitte schön!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner hat man es generell schwer. Ich habe überlegt, mach’s dir einfach, gib einfach deine Rede von Dezember zu Protokoll, denn an den Argumenten hat sich zumindest für unsere Fraktion nichts geändert: dass das vorgelegte Gesetz sinnvoll, notwendig und überfällig ist. Wir haben jetzt nur noch die Zustimmung des Bundesverfassungsgerichts dazu bekommen, was zeigt, so falsch kann unsere – auch unsere – Sicht nicht gewesen sein.

[Beifall bei der FDP, der LINKEN und den GRÜNEN]

Man fragt sich nur, und der Kollege Düsterhöft sprach es ja auch an, nach der, sagen wir mal, sehr überschaubaren Debatte in den Ausschüssen: Warum noch eine zweite Debatte hier im Plenum? Insbesondere habe ich mich natürlich gefragt, warum als Priorität der SPD, einer Partei, die ja gerade im Bundestag entsprechende Anträge von Grünen, Linken und von der FDP mit von der Tagesordnung abgesetzt hat, dass man so das Ganze auf Bundesebene einheitlich regeln könnte. Dem einen oder anderen mag da das Stichwort Unglaubwürdigkeit einfallen.

[Beifall bei der FDP]

Einen aus unserer Sicht wichtigen Aspekt hat auch die Kollegin Fuchs bereits angesprochen: dass es eben nicht nur um die Wahlrechtsausschlüsse geht, sondern auch um die Praxis, um solche Dinge wie barrierefreie Wahllokale, Schablonen, und natürlich – das sprach auch Frau Topaç eben an – nicht nur um die Frage: Wer steht an der Urne? –, sondern auch darum: Wen kann man auch in die Urne bringen, sozusagen.

[Heiterkeit bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Das heißt: Wie kriegen wir mehr Kolleginnen und Kollegen hier in das Parlament, die selbst wissen, wovon sie reden? – Wir hatten ja vorhin schon eine Debatte, und ich nehme an – den Gesetzesentwurf kennen wir als Opposition ja noch nicht –, dass das Parité-Gesetz natürlich auch eine Quotierung für Schwerbehinderte vorsieht, damit auch diese Gruppe angemessen in diesem Parlament repräsentiert ist.

[Beifall von Ines Schmidt (LINKE)]

Denn auch hier sind es spezifische Lebenserfahrungen. Es wird aber an diesem Punkt die Begeisterung der FPD für dieses Gesetz nicht steigern, weil wir denken – und ich weiß, wovon ich rede –: Selbstorganisation und Selbstverantwortung können einen auch an dieses Rednerpult bringen.

[Beifall bei der FDP]

Dem Appell der Kollegin Topaç, dass es vielleicht mehr Kolleginnen und Kollegen mit Handicap in diesem Parlament gibt, kann ich mich natürlich nur anschließen. Mehr Wählerinnen, mehr Wähler mit Handicap sind bestimmt besser für eine inklusivere Gesellschaft. – Vielen Dank!

(Fadime Topaç)

[Beifall bei der FDP und den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Fachausschuss empfiehlt mehrheitlich – gegen die AfD-Fraktion und bei Enthaltung der Fraktion der CDU – die Annahme des Antrags. Wer dem Gesetzesantrag auf Drucksache 18/1515 zustimmen möchte, den bitte ich nun um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen und die FDP-Fraktion. Wer stimmt gegen diesen Gesetzesantrag? – Das ist keiner. Wer enthält sich der Stimme? – Das sind die CDU-Fraktion, die AfD-Fraktion und die beiden fraktionslosen Abgeordneten. Damit ist dieses Gesetz so beschlossen.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN, den GRÜNEN und der FDP]

Ich rufe auf

lfd. Nr. 3.4: